Mittwoch, 30. März 2011

Bitter macht lustig


In einem Zeitungsartikel las ich von einer jungen Frau, die erzählte, wie sie mithilfe einer Therapie erfolgreich ihren Zwang „emotional zu essen“ überwunden hat. Und sie hat, ohne Diät, 17 kg abgenommen. U. a. hat sie hierbei auf ein altbekanntes Mittel zurückgegriffen und Zettel mit Affirmationen in ihrer Wohnung verteilt. Auf ihrem Kühlschrank steht beispielsweise:„Was du brauchst, wirst du hier drin nicht finden. Was brauchst du?“

Wir wünschen ihr natürlich viel Glück. Aber an der Stelle waren wir alten dicken Damen natürlich selbst schon eine Million Male. Mindestens. Auf ihrem Eisfach steht übrigens „Wächter“. Ohne zugegebenermaßen den Hintergrund hierzu zu kennen, weckt das Wort an diesem Ort (und nicht nur dort) bei mir Assoziationen, bei denen es mir wahrlich kalt den Rücken runter läuft. Der Kühlschrank als Grotte des Schreckens. Und des emotionalen Verirrens. Der Terror des Schokoladenpuddings. Rette sich wer kann. Und dabei wollte ich doch nur Fisch für Kasimir auftauen.

Was brauche ich? Statt Tiefkühlpizza?...Na, wie viel Zeit haben Sie denn mitgebracht?

ICH BRAUCHE mehr Anerkennung, mehr Lob, mehr Energie, mehr Mut, mehr Erfolg, mehr verkaufte Bilder, mehr Schlaf, weniger Dreck in der Wohnung, mehr Konzentration beim Schreiben, Gesangsunterricht, meine eigene Galerie, einen schwulen besten Freund - und als kleine Erste-Hilfe-Maßnahme einen Anruf von George Clooney.

Ohohoh…Da fangen selbstverständlich gleich alle Sirenen an zu schrillen! UNREALISTISCHE ZIELE!!! UNREALISTISCHE ZIELE!!! Das kann ja auch nichts werden! Nach all der Zeit und Aufklärung weigert sich die dicke Dame noch immer, sich nur Ziele zu setzen, die sie auch erreichen kann. So wie morgens aufzustehen. Oder nicht mit dem Koksen anzufangen. UND DA HABEN WIR ES DOCH SCHON WIEDER: Sie nimmt das alles ja auch nie ernst!!! Und sie isst ihr Abendbrot noch immer nicht vor 18 Uhr. Dann soll sie doch bitteschön fett bleiben!!!

Tja, Tschuldigung, aber so bin ich…Und was is‘ nun? Wo krieg‘ ich das alles jetzt her, was ich eigentlich brauche? Und wovon ich sogar glaube, dass es mir zusteht? (Siehe „Primaballerina-Moment“) Insbesondere mit reglementierter Zielsetzung?

Nun hatte die junge Frau da auch Zettel an ihren Wänden, die mir wirklich so gut gefallen haben, dass ich mir gleich auch mal wieder ein paar davon gemacht und aufgehängt habe – darauf steht schlicht und ergreifend „Ich“. Sich aus Fremdbestimmung und der Gutmütigkeitsfalle zu lösen, ist vermutlich nach wie vor das Wichtigste, was viele Dicke für sich erreichen sollten.

Ist natürlich aber auch eine Frage der Persönlichkeit, wie weit man hier wirklich gehen kann. Ich meine, was wenn es nicht nur darum geht, ob man es endlich mal schafft, sich erfolgreich dagegen zu wehren, die Girlanden fürs Kindergartenfest basteln zu müssen? Was, wenn ich stattdessen entscheiden muss, ob ich lieber essen oder Amok laufen soll? Und solche Tage sind gar nicht so selten, oder? Ach komm, erzähl‘ mir doch nichts. ; )

In letzter Zeit, gewöhnlich beim Autofahren, schießt mir immer öfter dieses Bild von einem drahtigen, sabbernden Weltraummonster (so eins wie das in „Alien“), das sich aus einem Fatsuit schält, in dem es sich bisher zusammengekauert versteckt hat, durch den Kopf. Und das Bild wird begleitet von einem Gefühlsmix aus tiefer Freude und erheblicher Nervosität. Wie „garstig“ müsste ich wirklich werden, um mich gegen das, was ich im Leben NICHT will, so wirksam zu verteidigen, dass ich als Konsequenz tatsächlich ganz von selbst dünner werde? Und was, wenn es klappt, und man im Verlauf dieser Entwicklung ungefähr den Beliebtheitsgrad einer Lady Death erreicht hat? Vielleicht sollte für das zu entwickelnde Traumkleid vorsorglich schon einmal ein Säbelgürtel mit eingeplant werden. Aber solche Sorgen mache ich mir natürlich nur, weil ich keine Lady Death bin (nicht einmal ansatzweise).

So einiges, was erleichtert, wird bei Dicken nicht gern gesehen. Egoistisch zu sein, oder gar ungehalten, ist das eine. Sind sie im Stande, ihrer dicken Existenz mit all ihren Tücken, Enttäuschungen und Widersprüchen zu viel Komisches abzugewinnen, werden ihnen Zynismus und Verbitterung unterstellt. Dazu habe ich mich selbst übrigens auch schon gelegentlich verstiegen. Dabei gibt es kaum etwas, das mehr befreit, als Humor und Ehrlichkeit. Doch während sie gefälligst nicht zu laut über ihr fettes Problem lachen sollen, dürfen Dicke auch nicht darüber jammern, denn sie sind ja schließlich selber Schuld an allem. Als netter, friedfertiger Moppel habe ich mir in meinem Leben so viel Gejammer von Menschen angehört, die sich selbst ihr Ohr eher abschneiden würden, als es mir zu leihen, dass ich vor ein paar Tagen fand, ich hätte jetzt endlich was gut. Im Zuge meiner Häutung habe ich beschlossen, dass fortan zurückgejammert wird. Stoff gab es ja genug. Was soll ich sagen…es war die helle Freude. Und letztendlich eine ziemlich kurze Unterhaltung. NH