Montag, 13. Juni 2011

Vorher - Nachher

Ja, was denn nun?


Vorher/Nachher – das Lieblingsthema aller Diätgeplagten! Nichts demonstriert die Wucht einer dünnen Neugeburt wirkungsvoller, als eine alte Hose, in die man jetzt zehnmal reinpasst. Und vor einigen Wochen dachte ich mir auch noch, dass es für eben solch eine Gegenüberstellung toll wäre, das GLEICHE Kleid in zwei Größen zu haben. Fündig wurde ich bei H&M. Das kleine Schwarze gab es in 46 und 38. Hätte es auch noch in 36 am Ständer gehangen, ich hätte die 38 vermutlich umgangen. Größe 46 ist außerhalb der Abteilung für große Größen bei H&M übrigens auch nicht selbstverständlich. Und was ist das da noch? Das Gepunktete da hinten? DAS ist eine Größe 32, eine SIZE 0, meine Herrschaften! Kommen Sie und staunen Sie! (War übrigens genauso schwer zu finden wie die 46.) Gut, da krieg' ich jetzt noch nicht einmal einen Oberschenkel rein, aber was soll ich sagen…ich dachte mir THINK SMALL. Wo ich jetzt schon mal dabei war, mich wieder aufs Abspecken vorzubereiten…warum nicht nach den Sternen greifen? Oder war es doch ein Griff ins Klo? Dabei wäre es absolut nicht sicher, welche Größe am Ende am besten aussehen würde. Würde ich es tatsächlich schaffen, mich zurück in eine 38 zu hungern, ist die große Frage natürlich nach wie vor, wie meine strapazierte Haut mit der Situation umgehen würde. Würde sie sich schlicht seufzend selbst zusammenfalten, wie ein geplatztes Gummiboot?


Schiffbruch? In Größe 38? Ist das denn überhaupt möglich? Mein Gott, mein Leben lang schien mir alles besser als Fett…Da gab es ja auch mal eine Studie…lasst mich mal kurz nachsehen…Genau, so war es: 5% aller dort Befragten würden lieber einen Arm oder ein Bein verlieren, als dick zu sein (Rudd Center for Food Policy and Obesity at Yale, 2006).


Und als ich vor einer Woche in Berlin war, habe ich mir in einem Museumsshop einen Venus-von-Willendorf-Briefbeschwerer gekauft. Ich dachte, das passt und gibt mir Kraft. Auf dem Weg zur Kasse ist sie mir runtergefallen, so dass ihr eines der hängenden Brüstchen abgeplatzt ist. Das war schon mal kein guter Start. Übrigens – nennt mich Dumpfbacke – aber ich habe jetzt erst begriffen, dass die Figur tatsächlich Arme hat. Zweigdünne, angewinkelte Ärmchen, die auf dem Brustansatz ruhen. Ich hatte sie immer für eine Art Verzierung gehalten. Proportional gesehen hat die Venus natürlich einen riesigen Kopf. Gesichtslos zwar, weil mit starren Locken umwickelt, aber immerhin…was bleibt dicken Damen auch anderes übrig, als was im Kopf zu haben, nicht wahr? ; ) Und WAS man so alles im Kopf hat! Seit ich versuche, mein Fett zu akzeptieren, fällt mir zum ersten Mal auf, wie ungehalten ich tatsächlich auf das Fett anderer reagiere. Ich wandere durch sommerliche Innenstädte, sehe runde Knie und Arme und ziehe pausenlos entsetzt (natürlich nur gedanklich) Luft durch die Zähne und denke, was ich vermutlich schon immer gedacht habe: Der Rock könnte aber länger sein. – Die hat aber Mut. – Au weia. – Muss das denn sein? So blöd das klingen mag, aber wirklich bewusst war es mir nicht, dass ich meine innere Heidi Klum stets bei mir trage und kritischer durch die Welt laufe, als jeder Model-Scout. Das war dann auch der Punkt, an dem meine Therapeutin die Stirn kräuselte und sagte: „Ja, das ist auch genau der Grund, warum Sie denken, alle anderen sehen dicke Menschen genauso negativ. Dabei wissen Sie gar nicht, ob das auch stimmt!“ Klar bin ich neidisch auf alle, die sich „trauen“. Und klar sehe ich durch die Brille der Selbstverachtung. Sie ist festgewachsen und bewertet pausenlos – hauptsächlich und zu allererst jedoch mein eigenes Spiegelbild. Wer hätte gedacht, dass das wahre Ausmaß der Abscheu vor dem eigenen Fett und dem anderer Menschen just in dem Augenblick so klar zutage tritt, in dem man versucht, es endlich zu akzeptieren? Aber dass ich ein Einzelfall mit einem isolierten Problem bin, glaube ich im Leben nicht. Nicht in der Welt des Fetts. Da jemanden zu finden, der der Sache komplett emotions- und/oder meinungslos gegenübersteht – ha, den würde ich gerne treffen!

Habe ich schon erwähnt, dass der Pro-Ana Post mittlerweile der meistgelesene dieses Blogs ist?

Wenn ich erzähle, dass ich mich in diesen Tagen mit der Frage herumschlage, ob ich dünn werden oder dick bleiben soll, gibt es keine geteilten Meinungen. Abnehmen ist besser! Da scheinen sich alle einig zu sein. Eigentlich nicht überraschend. Die einhellige Meinung unter den Befragten: Zur Fett-Aktivistin kann man auch dünn(er) noch werden - wenn man das UNBEDINGT will. Genauso gut könnte man offenbar eine Umfrgae starten, ob man sich die Biene Maja auf die Stirn tätowieren lassen soll. ; ) Eine kernige, achtzigjährige Verwandte sagte zu mir: "Nu' hab' dich doch nicht so Mädchen. Zieh' doch mal die Jacke aus, das ist doch viel zu warm!" Und ich sagte: "Ja, aber meine Oberarme..." Und sie rief: "Wozu willst du denn deine Arme verstecken - das sind doch ganz und gar vernünftige Arme!" Als ich sie später fragte, ob ich ihrer Meinung nach abnehmen oder so bleiben sollte, wie ich bin, antwortete sie: "Ich finde, du solltest abnehmen. Nicht weil du so nicht absolut in Ordnung wärst, sondern weil du selbst so ein Problem damit hast. Es hält dich einfach zurück."

Und was macht die aufgewühlte dicke Dame jetzt? Ich dachte mir, ich suche mir andere dicke Damen zur Beratschlagung. Möglicherweise eine Selbsthilfegruppe. Vielleicht muss man auch selbst eine gründen…

NH