Mittwoch, 8. August 2012

Am Beckenrand


Abseits der Frage, von was ich mich auf Grundsicherungsniveau ernähren soll, stellt sich in den letzten Tagen immer mehr und dringlicher eine ganz andere. Zwar habe ich inzwischen  schon irgendwie begriffen, dass ich ab jetzt  keine Diät mehr machen und nicht mehr dünn werden werde (und das ist etwas, womit sich mein Umfeld tatsächlich noch immer schwer tut), aber wie ich von „erst leben wenn dünn“ zu „leben jetzt gleich“ komme, ist mir noch nicht ganz klar. Hinzu kommt, dass die Entschlossenheit, aus dem Diät-Karussell auszusteigen, nicht automatisch auch noch dazu ausreicht, einen ins Abenteuerland zu tragen.

Was macht man nach vierzig Jahren mit einem aufgeschobenen Leben? Und wie hört man auf, aufzuschieben?

Was erlebt ein Dicker in vierzig Jahren medialer, gesellschaftlicher und gar politischer Diffamierung? Er paddelt täglich durch Fluten von Bildern, die untergewichtige, vorgetäuschte und unerreichbare Schönheit zur Bürgerinnenpflicht machen. Er lebt damit, den Beweis seines vermeintlichen Versagens Tag ein Tag aus weithin sichtbar durch die Welt zu schleppen – und mit der daraus resultierenden Scham. Er lebt damit, unzulänglich, minderwertig und lächerlich zu sein. Und an allem, was ihm aufgrund seines Körperumfanges widerfährt,  ist er selbst schuld. Alles, was die Hexenjagd auf Dicke ausmacht, unterscheidet sich in nichts von der Diskriminierung und Diffamierung anderer Minderheiten. Der Nutzen ist immer gesellschaftliche Abgrenzung und Selbsterhöhung.

Das ist es, was sie (Medien, Diätindustrie und Politik) tun: Sie stehlen und zerstören Leben. Sie verändern Lebensläufe, indem sie eine gesellschaftliche Realität formen, in der Toleranz im Hinblick auf Körperumfang nur schwer eingefordert werden kann und in der gleichzeitig das Selbstbewusstsein und die Kraft von betroffenen Individuen, sich dennoch im Leben zu behaupten, verstümmelt werden. Ein Mensch, der durch Selbstzweifel und fest eingepflanzte Selbstverachtung nur schlecht gewappnet ist, trifft auf eine Welt, die ihn mehrheitlich sofort als „falsch“ erkennt und entsprechend reagiert. Selbst wenn man, wie ich, eher selten ganz direkte und offene Angriffe erlebt hat, ist eine quasi atmosphärisch erzeugte „Grundentmutigung“  ganz klar ein bestimmendes  Thema. Man zieht sich zurück. Man neigt dazu, sich zu ducken und zu verstecken und hofft inständig, eines Tages „normal“ zu werden. Das „normale“ und damit gute Leben kann erst dann beginnen, wenn der Körper gebändigt und halbwegs gesellschaftsfähig ist. Jahre gehen ins Land, und man verbringt sie weitgehend damit, auf den berühmten „Klick“ zu warten. 
 
Es ist schwer, auch im Kopf keine Diät mehr zu machen. Es ist schwer, nicht mehr abzuwarten. Es ist als ob man ewig in die Sonne gestarrt hat, und nun hofft, dass die grünen Punkte vor den Augen endlich aufhören zu tanzen.

Die Verunsicherung, in einem prekären, weil immer mal wieder übergewichtigen Körper zu leben, hat in meinem Leben bisher ALLES geprägt und beschnitten: berufliche Ambitionen und Erfolge, soziale und romantische Beziehungen, sowie alles andere, was das Leben fröhlich und spannend machen könnte.

Die Liste der Dinge, die ich zu einem bestimmt Zeitpunkt unterlassen und mir nicht gestattet habe, weil ich glaubte, dafür zu dick zu sein, ist endlos (und das Folgende ist nur eine kleine Auswahl):

-  schwimmen gehen
- tanzen gehen
- auf eine Party gehen
- Geisterbahn fahren
- eine Rede halten
- eine Einladung zum Essen annehmen
- Sex
- Gesangsstunden nehmen
- Theater spielen
- Fliegen
- zum Arzt gehen
- am Strand spazieren gehen
- zum Frisör gehen
- für einen Auftrag bewerben
- zu einer Vernissage gehen
- berufliche Kontakte pflegen
- ein Fernsehinterview geben

Die Erkenntnis, dass man all das ab jetzt doch dick tun muss, weil es dünn nicht mehr geben wird und man sonst den Rest seines Lebens schlicht und ergreifend verpasst, sorgt bei mir neben großem Erstaunen in den letzten Tagen auch für  eine Heidenangst. Allerdings ist sie auch der Sprung von einem sinkenden Dampfer ins Rettungsboot – man hat auf jeden Fall bessere Chancen, doch noch ans Ufer zu kommen, als wenn man geblieben wäre.

Es ist eine beliebte Theorie unter Therapeuten, dass ein runder Körper als Schutzwall gegen persönliche Ansprüche dient, die zu erfüllen man entweder nicht in der Lage oder eigentlich gar nicht bereit ist. Das Fett ist dieser Interpretation nach Alibi und Wächter zugleich und bewahrt uns vor dem Stress, den es bedeuten würde, sich z.B. tatsächlich in einer Produktion von Agatha Christies Mausefalle im Gemeindezentrum auf die Bühne zu stellen. Es ist nicht die Gesellschaft mit ihren Normen, die einen  sabotiert, sondern der eigene Körper, der sich so  Anforderungen und Herausforderungen entziehen will. Und schwupp - ist man abermals selbst für den ganzen Mist verantwortlich. Ich bin keine Anhängerin dieses Erklärungsversuches mehr, weil der unterstellte Mechanismus natürlich nur funktioniert, solange man sich auf die Außenwelt und ihre offensichtliche Missbilligung des dicken Körpers verlassen kann. In einer Welt, in der Dicke keinen besonderen Mut dazu bräuchten, im Mittelpunkt zu stehen, wäre es ganz offenkundig eine völlig sinnlose Strategie. Was war also zuerst da? Das Fett, oder das angeknackste Selbstbewusstsein? Fett ist nur Fett. Bis man ein Drama daraus macht. Ich war nur ein großes, molliges Kindergartenkind. Bis man mir sagte, dass ich ein dickes, fettes Sorgenkind sei.

Gegen Entmutigung hilft nur konsequente Ermutigung, und ich persönlich finde ja, dass auch Wut dabei  sehr hilfreich ist. Zumindest am Anfang. Wut auf die vertane Zeit. Wut auf alle, die einen entmutigt haben – und es weiterhin versuchen werden. Sie sollten sich besser warm anziehen. Freude hilft natürlich auch. Freude, dass es vielleicht noch nicht zu spät ist. Freude, dass das Leben endlich wirklich anfängt.

Und ich gehe dann jetzt erst mal schwimmen. Wer schwimmt, sinkt ebenfalls nicht.