Samstag, 15. September 2012

Bildungsnotstand


Nur noch einmal zur Erinnerung: Das Budget, das ein Hartz-IV-Empfänger monatlich für "Bildung" zur Verfügung hat, beträgt € 1,39. Wären wir im September noch immer auf Sparkurs, hätte ich mich mit den € 20 für das Ticket zur Documenta 13 also schon wieder ins Aus geschossen. Und das, wo mein Coach Michael auf die Frage, wie man trotz schmaler Kost und geringem finanziellem Spielraum positiv bleibt, Folgendes anmahnte: "Nichts zu denken, sollte man tunlichst vermeiden. Das macht unzufrieden." Der Leere im Magen darf nicht die Leere im Kopf folgen. Man darf sich in mageren und frustrierenden Zeiten geistig nicht hängen lassen, sonst sieht es erst recht düster aus. Das schreit eigentlich nach einem Büchereiausweis, den ich zuletzt als Studentin hatte.
 
Auch noch einmal zur Erinnerung: Michael und ich werden im Oktober einen erneuten Anlauf machen, und versuchen, mit dem Hartz-IV-Regelsatz in verschiedenen Kategorien (Ernährung, Bekleidung, Unterhaltung, Bildung, Gesundheitspflege, etc.) auszukommen, nachdem ich mit meinem Budget von € 130 für Lebensmittel jetzt bereits zweimal baden gegangen bin. Der September dient als Referenzmonat, in dem die "normalen" Kosten nur einmal konsequent aufgelistet werden. Ich hatte eigentlich gar keine genaue Vorstellung, wie viel ich für gewisse Dinge ausgebe, und selbst Michael war erstaunt, "was man so verpulvert, ohne es zu merken." Dabei hat er vorrangig in seine Wohnung und in Bekleidung investiert. Ich hingegen sollte ich mir vermutlich mal Gedanken über den Preis meiner Nachtcreme machen.

Jetzt ist der Monat zur Hälfte rum, und um es kurz zu machen: Der Regelsatz für alle von uns einbezogenen Kategorien von € 276,83 ist bei uns beiden weit, weit, weit überschritten - und während Michael sich nun doch Gedanken macht, ob das im Oktober wirklich so locker werden wird, wie gedacht (obwohl er in der Lage ist, fünf Personen für  €16,97 mit Coq au vin blanc, Rosmarinkartoffeln und Feldsalat mit gebratenen Champignons zu versorgen), grüble ich ja noch immer, ob eine VOGUE* eigentlich zu "Unterhaltung" oder zu "Bildung" gehört.

Nicht, dass Bildung nicht auch unterhaltsam sein könnte. Genauso wie die Kunst. Wenn sie die Unterhaltung wünscht. An alle, die auch dort waren - ich weiß ja nicht, wie Ihr das seht, aber das war nicht mein Eindruck auf der Documenta 13, die nun morgen zu Ende geht. Sie war an gewissen Orten so verstockt, dass sie es einem mitunter sogar schwer machte, das verdammte Schildchen zu finden, auf denen der Titel des jeweiligen Werkes stand. Und bieder war sie. Politisch korrekt. Und sich selbst genug. Also alles, was ein Showgirl nicht ist. Aus den anwesenden Hintergrundgeschichten könnte man sicher viele solide Dokumentarfilme machen. Aber gezähmte Kunst kann mich mal.

Da ist es nur konsequent, wenn die Selbstauslöschung des Werkes und sein Transfer in die Belanglosigkeit vom Konzeptkünstler Yan Lei quasi gleich miteingebaut wurde - indem die 360 Gemälde seiner Installation im Verlauf der 100 Tage mit Autolack besprüht und zu monochromen Flächen wurden. Als es in den ersten Berichten über diese Documenta hieß, sie sei geprägt von "glühendem Feminismus" (New York Times) wurde mir ganz warm ums Herz. Man fragt sich, was die Verfasserin gesehen hat, um auf diese Idee zu kommen. Alles Einbildung? Dem Himmel sei am Ende Dank für Llyn Foulkes und Rabih Mroué.


(Yan Lei "Limited Art Project" - documenta13)
Es geht also weiter - der Plan, endlich wirklich mit richtig wenig auszukommen. Und übrigens besteht auch noch immer das Vorhaben, das Gewicht zur Entlastung meiner Gelenke irgendwann noch ein wenig zu reduzieren.

Gleichzeitig missfällt es mir sehr, dass ich mich jetzt, wo ich mich für das Projekt nach langer Zeit mal wieder auf die Waage gestellt habe, auch gleich dabei ertappe, wie ich in alte Muster von Waagen-Zwanghaftigkeit rutsche. Nach Jahren habe ich nun begonnen, mich wieder täglich zu wiegen - und das Gewicht aufzuschreiben! Obgleich sich mein Gewicht in diesem Monat nach der Abnahme im August im Prinzip kaum verändert, ist es so: Wenn es ein paar Gramm weniger sind, bin ich zufrieden. Wenn die Zahl höher ist, spüre ich, wie sich das alte Gefühl des Versagens mit seiner hässlichen Fratze neben mich in mein Spiegelbild drängelt. Das muss auf jeden Fall aufhören. Es ist doch wie verhext - im Kampf um Selbstakzeptanz landet man doch immer wieder verdammt leicht mit einem Teller Kohlsuppe in der Hand direkt am Abgrund. Die Waage liegt jetzt am Boden des Wäschekorbes. Da sehe ich sie so schnell nicht wieder.


*(Erinnert sich eigentlich noch jemand an die halbherzige "Health Initiative" der VOGUE-Chefredakteurinnen? Aber dazu in einem kommenden Beitrag mehr.)

NH