Samstag, 24. November 2012

Ganz viel Sex


 
Rebecca Jane Weinstein, Juristin und Gründerin der Fett-Akzeptanz-Plattform PeopleOfSize.com, hat ein Buch über etwas geschrieben, was nicht mehr ganz so unvorstellbar ist, wie es mal war. Aber noch immer ZIEMLICH unvorstellbar – leider auch oft und vor allem für die, die es direkt betrifft. Der Titel des Buches ist Fat Sex. Und es handelt von dicken Menschen und dem Sex, den sie haben – oder eben nicht haben.

Und viele dicke Menschen haben viel Sex NICHT. Weil sie sich für ihren Körper schämen, weil sie sich nicht vorstellen können, dass jemand sie attraktiv finden könnte, und weil viele Menschen dicke Körper tatsächlich nicht attraktiv finden, oder sich schämen, zuzugeben, dass sie es doch tun.

In einem Interview sagte die Autorin, dass das Buch allerdings auch darlege, dass dicke Menschen ebenso normale und/oder außergewöhnliche sexuelle Entwicklungen durchmachen, wie alle anderen. Der Inhalt des Buches scheint jedoch gleichzeitig zu belegen, dass ein sehr hohes Gewicht insbesondere für Frauen, bemerkenswert weichenstellend sein kann und häufig dazu führt, dass sexuelle Selbstfindung und Bestätigung härter und auf Umwegen erkämpft werden müssen.

Should fatties get a room?* (Will man dicken Leuten beim Knutschen zusehen?)

Die amerikanische Sitcom „Mike & Molly“ erzählt aus dem Alltag eines Paares, in dem beide Partner dick sind. Sie lernen sich in einer Selbsthilfegruppe kennen und versuchen immer mal wieder, eine Diät durchzuhalten – aber das Übergewicht der beiden spielt im weiteren Verlauf thematisch eine nur untergeordnete Rolle. Ich selbst habe die Serie bisher gern gesehen – und eine DVD beim letzten kleinen Preisausschreiben verschenkt. In den USA, wo sie 2010 anlief,  war „Mike & Molly“ mittelprächtig erfolgreich, schaffte es aber bis zur mittlerweile dritten Staffel. In Deutschland war sie, so muss man es wohl sagen, ein Flop und wurde von SAT1 eigestellt.

Wenn man davon ausgeht, dass mittlerweile ein Drittel aller erwachsenen Amerikaner auf Basis des Fantasiemaßstabes BMI als adipös einzustufen ist und die Hälfte der Deutschen zumindest als übergewichtig, dann ist es umso erstaunlicher, dass all diese runden Leute offenbar wenig Wert darauf legen, Schauspielern, die so aussehen, wie sie selbst, auf ihren Fernsehbildschirmen dabei zuzuschauen, wie sie die Tücken eines normalen Paaralltags meistern. Offenbar sehen wir alle sehr viel lieber, wie Dicke im Format „The Biggest Loser“ als Strafe für ihre Fülle kaserniert, gedemütigt und vorgeführt werden. Wer Geschichten mit dicken Menschen erzählen will, in denen das Dicksein Tatsache aber weder vorrangig komisches Element noch zu bekämpfendes Übel ist, der stößt leicht an seine Grenzen. Und an die des Publikums, das sich oft selbst nicht leiden kann und darum für das eigene Fett und/oder das anderer in weiten Teilen nicht viel mehr als Abscheu übrig hat.

Aber „Mike & Molly“ enthielt unerwartet offenbar auch Zündstoff für eine handfeste Kontroverse in dessen Zentrum die magersüchtige Kolumnistin Maura Kelly stand und in dessen Verlauf die amerikanische Ausgabe der Marie Claire einen nicht unerheblichen Anteil ihrer Abonnentinnen verlor. Kelly wurde mit der eigentümlichen Aufgabe betraut, als Reaktion auf „Mike & Molly“ für die Website des Magazins eine Kolumne darüber zu verfassen, „ob es für Zuschauer wirklich unangenehm ist, dicken Leuten beim Knutschen zuzusehen“. Denn Mike und Molly küssen sich. Und sie haben Sex. Der wird natürlich nicht gezeigt, aber oft erwähnt. Maura Kelly verfasste daraufhin ein bösartiges kleines Traktat darüber, warum sie Dicke grundsätzlich ekelhaft findet („Yes, I think I’d be grossed out if I had to watch two characters with rolls and rolls of fat kissing each other…because I’d be grossed out if I had to watch them doing anything.”) und die Andeutung dicker Sexualität erst recht. Wer auch immer tatsächlich entschied, dass der Artikel auf der Seite veröffentlicht werden würde, mag vielleicht eine kleine, überschaubare Provokation beabsichtigt haben, hatte aber die Rechnung eindeutig ohne die Leserinnen gemacht, die sich in diesem Fall zu einem ungeahnten Shitstorm aufschwangen. Maura Kelly musste sich entschuldigen. Sie schob den Ausrutscher auf die durch die eigene Essstörung verzerrte Wahrnehmung. Liest man Kellys Text vor diesem Hintergrund noch einmal, wird offensichtlich, wie sehr ihre ungefilterten Angriffe auf die Körperlichkeit anderer in Wahrheit vor Selbsthass nur so triefen. Dennoch ist auch klar, dass sie mit ihrem Ekel in einer essgestörten Gesellschaft nicht allein ist. So hatte der Fernsehsender CBS einem CNN-Bericht zufolge durchaus auch von Zuschauern Beschwerden bezüglich der Küsse unter Dicken erhalten.

Fetish walking (Achtung: wandelnder Fetisch)

Ist der Sex, den dicke Leute haben, ekelhaft? Oder reflektiert der Ekel vor dickem Sex genauso auf den zurück, der ihn verspürt und äußert, wie der allgemeine Ekel vor Dicken? Ist es obendrein ein Problem mit der eigenen Sexualität, die Menschen wie Kelly daran hindert, leben und leben zu lassen?

Immerhin die Ansicht, dass es zumindest NICHT normal ist, eine spezifische sexuelle Vorliebe für dicke Körper zu haben, dürfte noch immer weitverbreiteter sein, als das Gegenteil. Aber es ist nicht nur das. Rebecca Jane Weinstein legt in ihrem Buch dar, es werde außerdem gemeinhin unterstellt, dass ein dicker Körper so unattraktiv ist, dass man über ihn auch dann nicht hinwegsehen kann, wenn andere Eigenschaften einer Person umso liebenswerter sind. Wenn also ein Nicht-Dicker eine Beziehung mit einem dicken Menschen eingeht, weil er primär seinen Humor oder seine Energie sexy findet, kann er genauso leicht in Erklärungsnot geraten, wie derjenige, der sich explizit zu runden Körpern hingezogen fühlt. Die Freunde können es nicht glauben. Die Familie versteht es nicht. Die Kollegen machen sich lustig. Was DARF einen anmachen?

Weinstein wirft einen näheren Blick auf die heimische (US-amerikanische) Pornoindustrie und stellt fest, dass es, gemessen an Verkaufszahlen und der Fülle pornographischer Darstellungen mit dicken – in der Hauptsache – Protagonistinnen, bei weitem nicht mehr als „unnormal“ bezeichnet werden kann, an runden Körpern sexuell interessiert zu sein. Dicke Pornographie ist kein Nischenmarkt, sondern Big Business, bei dem Milliarden mit sexuell aktivem, wogendem Fett verdient werden. Gibt man tatsächlich einfach nur einmal spaßeshalber „fat sex“ bei Google ein, bekommt man innerhalb von 0,15 Sekunden 395.000.000 Ergebnisse. Eine Bekannte, die sich mit der Materie ein bisschen auskennt, erzählte mir unlängst: „Die erfolgreichsten Prostituierten auf dem Kiez sind jedenfalls keine kleinen, dünnen Mädchen.“

Warum also sollte man als dicker Mensch und insbesondere als dicke Frau Sorge haben, nicht zu genügen? Und sexuell schlicht unattraktiv/inakzeptabel zu sein? Warum gibt kaum einer zu, dass er Dicke aufregend findet, wenn es doch offensichtlich so viele tun? Die Antwort wurde oben bereits gegeben. Die Gesellschaft befindet sich im Krieg gegen das Fett. Weinstein sieht Liebhaber von dicken Körpern momentan in der Situation, in der vormals Schwule und Lesben waren. Heute seien sie es, der die Gesellschaft es schwer mache, sich zu „outen“. Denn wer Fett sexy findet, kann, wie gesagt, schlicht nicht richtig ticken. Muss „pervers“ sein. Womit wir beim „wandelnden Fetisch“ wären. Sexuelles Begehren, das sich laut Definition auf bestimmte Gegenstände oder Konstellationen von Körpern und Gegenständen richtet – viele Dicke wollen DAS nicht sein. Sie wollen verständlicherweise nicht in einen Topf geworfen werden mit Damenbärten, Nylonstrümpfen, Gasmasken und halbnackten Frauen, die mit ihrem Geländewagen im Schlamm stecken bleiben. Nicht dass damit irgendetwas nicht in Ordnung wäre, aber eine dicke Person ist nun einmal zunächst weder ein Objekt noch eine Inszenierung. Mitunter sind sie deshalb misstrauisch. Gleichzeitig ist es oftmals schwer für sie, zu glauben, dass jemand, der sie (unerwarteterweise) sexuell will, dann auch an ihnen als Person interessiert ist. Oder dass er Körpermaße gar nicht so wichtig findet.

Was sich da außerdem leicht erschwerend ins Bild schiebt, ist die eher gruselige Variante von Feedern (Fütterern) und Gainern/Feedees (Gefütterten). Bei der Vorstellung, in eine Beziehung zu geraten, in der es das erklärte Ziel des Partners ist, den anderen zu mästen und so mehr und mehr Kontrolle über den immer unbeweglicher werdenden Körper zu erlangen, dürften den meisten Dicken die Haare zu Berge stehen. Natürlich kann jeder mit seinem Körper machen, was er will. Aber was muss insbesondere einer Frau vorher passiert sein, damit sie einwilligt, ihren gezielt zum Gefängnis auszubauen und sich so in letzter Konsequenz tatsächlich zum Fetisch, zum Objekt machen lässt? Und wie muss einer gestrickt sein, der diese Bereitschaft ausnutzt? (Ja, stimmt - ich habe wenig übrig für ungleiche Machtverhältnisse in sexuellen Zusammenhängen, verklagt mich ruhig! ; ))

Fetisch oder kein Fetisch: In den Geschichten der von Weinstein Befragten stellt sich trotz allem eines eindrucksvoll heraus: Offene Fat Admirers (Fettliebhaber) können unter Umständen eine wertvolle Anlaufstelle sein – vor allem für dicke Frauen – wenn es um Selbstakzeptanz geht. Die Erfahrung, dass ein anderer in der Lage ist, wildes Begehren für den selben Körper zu empfinden, mit dem man sich selbst im Zweifel seit Ewigkeiten im Krieg befunden hat, könne eine absolute Befreiung sein. Und es scheint mir einleuchtend. Man stelle sich das mal vor: Keine sorgenvollen Gedanken daran, was sich alles wellt oder wackelt. Beim Date mit einem Fat Admirer ist man als dicke Person schließlich genau das, was der andere wollte. Vermutlich ist nichts, was man an nackten Untiefen und Geheimgängen zu bieten hat, eine Überraschung für ihn. Da muss man das Licht nicht dimmen, um unsichtbar zu werden. Scham ist kein Rezept für guten Sex, und einige von Weinsteins Interview-Partnerinnen haben sich durch die gezielte Suche nach Sexpartnern mit einer expliziten Vorliebe für dicke Körper tatsächlich die Möglichkeit verschafft, die Scham zum ersten Mal in ihrem Leben in der Handtasche zu lassen. Klingt eigentlich wie ein hervorragender Deal. Und verlangt in der konkreten Umsetzung vermutlich trotzdem verdammt viel Mut. Aber wenn man vorhat, sich diese Erfahrung zu holen, sollte man es tunlichst VOR der nächsten Diät tun, denn das ist eine Chance, die mit jedem Gramm in der Tat schwindet. ; )

Was Weinsteins Buch jedoch wie gesagt auch dokumentiert, ist, dass dick zu sein fast immer einen deutlichen Einfluss auf die sexuelle Evolution eines Menschen hat. Meistens verzögert es Erfahrungen und führt in der Summe letztendlich sehr wohl zu mehr Demütigung und Ablehnung. Aber fast alle Schilderungen enden mit einer Stärkung des Selbstwertgefühls und mehr Selbstakzeptanz, die sich die Protagonistinnen und Protagonisten auf die eine oder andere Art individuell erarbeitet haben.

Ich habe mich gefragt, wie die immer wiederkehrende Erfahrung, dick und damit in einem gesellschaftlich inakzeptablen Körper zu leben, meine Sexualität beeinflusst hat und dazu verglichen, welche Erfahrungen im schlanken und welche im dicken Körper überwogen haben (und so komisch es klingen mag - es gab kaum Phasen "dazwischen"). Die Erfahrungen, die zumindest gefühlt am häufigsten gemacht wurden, stehen oben auf der Liste. Allerdings ist hier alles nur ungefähr. Und ein wenig verschwommen.

Dick

-          Von der Umwelt GAR NICHT als sexuell wahrgenommen werden.
-          Nicht gewollt werden. (Sollte man sich doch einmal getraut haben, Signale zu senden.)
-          Verwirrung und Panik bei (sehr seltenen) unerwarteten aber nicht unerwünschten   Annäherungsversuchen – warum will der mich? Und dann mit ziemlicher Sicherheit: Flucht!
-          Ganz selten: Unerwünschte Anmache.

Dünn (zumeist jedoch trotzdem eingebildet dick)

-          Verwirrung und Panik bei unerwarteten aber nicht unerwünschten Annäherungsversuchen – warum will der mich? (Endete auch nicht selten mit Flucht.)
-          Unerwünschte und oft aufdringliche Anmache, Annäherungsversuche, Belästigung.
-          Etwas mehr Selbstbewusstsein beim Ergreifen von Initiative und in der Konsequenz gewollt werden.
-         Nicht gewollt werden.

Ja, es war schon so: Immer, wenn ich dünn war, ging deutlich mehr. Allerdings musste man in solchen Phasen auch immer sehr viel mehr abwehren, was ich regelmäßig als ziemlich anstrengend empfunden habe. Und wo mehr ging, war auch sehr viel mehr Gelegenheit für akute Scham. Denn ohne die ging ich auch schlank nie aus dem Haus.

Vor ein paar Wochen habe ich im Zuge eines kleinen Fotoprojekts mal Bestandsaufnahme gemacht und meinen Körper nackt und aus purem Forscherinnendrang von allen Seiten und aus so ziemlich jeder möglichen Perspektive abgelichtet. Von nah und von fern. Man hat ja so viele Teile, die man naturgemäß nie wirklich zu Gesicht bekommt. Und ich war vorbereitet auf eine wahre Landkarte des Grauens. Aber dann kam es anders, und nicht alles, was ich sah, stürzte mich mehr in schiere Verzweiflung. Erstens gab es mir Sicherheit, jetzt genau zu wissen, was ich dem anderen wirklich „zumuten“ würde, wenn ich das Licht anließe. Und zweitens fand ich einige Bilder sogar richtig schön. Und dann dachte ich mir, wenn ich mich selbst, so wie jetzt nun einmal bin, zumindest aus bestimmten Blickwinkeln irgendwie sexy finden kann, dann kann das jemand anders auch…….Also wirklich, jetzt.

Weinsteins Fazit aus den von ihr gesammelten Schilderungen dicker Menschen ist ohnehin: Es sind Haltung und Selbstbewusstsein, die sexy machen. Ich hoffe, das ist eine gute Nachricht. Denn was für scheue Viecher gerade diese zwei ironischerweise sind, davon kann ich bekanntlich ein Lied singen.


*Gängiger englischer Ausspruch, wenn Leute in der Öffentlichkeit ihre Zuneigung zu deutlich zeigen – zumindest im Auge des Betrachters: Get a room you two, nobody wants to see that. (Nehmt euch gefälligst ein Hotelzimmer, das will doch keiner sehen.)

NH