Freitag, 20. Dezember 2013

Doppelt fällt besser

Und so ganz ist es eben doch nicht vorbei. Am Abend meines 42. Geburtstags stand ich im fahlen Licht der Damentoilette eines thailändischen Restaurants und erstarrte beim Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. So verrückt es klingen mag – zuerst erkannte ich mich nicht. Also…natürlich nicht buchstäblich, sondern emotional. Es war ein Schock. Seit Monaten hatte ich mich nicht von meinem eigenen Spiegelbild so abgetrennt und verraten gefühlt.

Ich sah mich, und was ich sah, war abgrundtief hässlich. Ein teigiges, wabbeliges Monster starrte mit müden Augen zurück und atmete Zweifel, Entsetzen, Lebensverpfuschung, tote Hoffnungen und Selbstverachtung aus. Plötzlich ergriff die wilde Legende von der dünnen Frau, der eigentlich ein großartiges, dünnes Märchenleben zustehen würde, wenn sie nicht dummerweise in einen fetten, grausigen, schwachen Körper eingemauert worden wäre, für einen schauerlichen Moment wieder Besitz von meinen Gedanken und meinem Blick – und alles, was ich auf einmal nur noch sehen konnte, war mein Doppelkinn. Es schien um meinen Hals zu schlackern, wie eine ausgeleierte, klumpige Halskrause, und ich wusste, gar nichts ist sicher.  Was man auch glaubt, auf dem Weg zu dickem Selbstrespekt erreicht und geschafft zu haben.
Nach vier Jahrzehnten der Selbstverachtung ist Selbstakzeptanz im ersten Jahr noch immer ein verdammt wackeliges Häuschen. Ohne Vorwarnung hallt einem plötzlich der Einwand „JA, ABER…“ wieder durch die Seele. Die innere Richterin ist noch immer da – und sie hält nicht die Klappe. Sie bewertet weiterhin ungefragt, aber umso vorhersehbarer. Dünn gut. Fett schlecht. Und so gibt es tatsächlichh noch immer Fett an mir, dass ich zumindest gelegentlich hasse. Ich hasse mein Doppelkinn. Und meine geschwollenen Füße. Ich hasse, hasse, hasse sie! Aber besonders das Kinn. In meinem Kopf ist  es noch immer die Grenze, an der das Fett das Gesicht zu überwältigen droht…

Ich nehme an, Rückfälle sind normal.

Nur habe ich mit ihrer Wucht nicht gerechnet. Dabei  ist das Unwetter, das einen heutzutage unvermittelt einholt, vermutlich genau jenes, das einen früher immerfort und unablässig umgab. Als ich noch so ziemlich alles an mir hasste.  Als ich lieber gar nicht mehr in Spiegel sah. Irgendwo habe ich gelesen, man solle auf den Teil des Weges, den man zurückgelegt hat, immer stolz sein. Selbst dann, wenn der Rest noch immer verdammt lang ist. Das stimmt. Und verlangt wiederum Akzeptanz. Rachele von The Nearsighted Owl  schlägt indessen vor, das zweite oder dritte Kinn mit Stolz herzuzeigen – wie ein schickes Accessoire…….Nein. Nicht ich. Zumindest nicht jetzt. Und auch keine Fotos, bitte.

NH