Montag, 28. April 2014

Ausgelesen: Ich bleib so scheiße wie ich bin

Anfang zwanzig war ich eine große Freundin des positiven Denkens. Und ich war jeden Tag zutiefst verzweifelt, weil ich gar nicht so schnell denken konnte, wie meine Ansprüche an mich selbst immer weiter und fast stündlich wuchsen. Ich hatte nicht weniger im Sinn, als irgendwann einen Oscar für Regie oder Drehbuch zu gewinnen. Und vielleicht einen Rockstar zu heiraten. In keinem von diesen beiden Szenarien war ich ein Gramm schwerer als 50 kg. Natürlich nicht. Das Leben, das ich vor mir hatte, war so großartig und atemberaubend, dass es mich schaffte, bevor es überhaupt begann, was dazu führte, dass ich meinen ursprünglich äußerst strategisch gewählten Studienort Los Angeles nach nur zwei Jahren wieder verließ, statt ihn zur Heimat und zum Schauplatz meines glanzvollen Kunstschaffens zu machen. Ich konnte einfach nicht mehr. Und daran änderten auch ein Berg an Lebenshilfe-Büchern und Tapeten aus Post-Its, die mir bestätigten, wie wunderbar und fähig ich war, NICHTS. Das war das erste, große Scheitern...
 
 
Es wäre ganz schön gewesen, Rebecca Niazi-Shahabis "Ich bleib so scheiße wie ich bin" damals schon zu haben. Aber womöglich musste ich ohnehin erst alt genug werden, um seine Botschaft überhaupt kapieren und schätzen zu können. Schließlich habe ich auch erst vor zwei Jahren begriffen, dass Diäten Scheiße sind. Während mich an John C. Parkins "Fuck It!" der Titel selbst am allermeisten beeindruckt hat, war die Lektüre von "Ich bleib so scheiße wie ich bin" für mich im Ganzen erholsam, erhellend und erheiternd. Nicht von vorn bis hinten ganz und gar logisch und konsequent. Aber ich habe das Buch am Ende trotzdem zugeklappt, und zu mir gesagt: "Ganz genauso isses!"

Was ich gelernt habe / was ich eigentlich schon wusste, aber nun noch besser weiß:

 
Das antagonistische Prinzip ist keine Frage der Disziplin - es tritt automatisch, naturgegeben und bei jedem auf: Sobald man sich vornimmt, mehr Sport zu treiben, weniger Schokolade zu essen und kein Geld mehr zum Fenster rauszuwerfen, wird das Bedürfnis, mit 500 g Toblerone auf der Couch zu sitzen und im Internet nach neuen Schuhe zu suchen nur umso größer. Man hat also immer gute Chancen, zu scheitern, wenn man sich grundlegend verändern, bzw. ein "besserer" Mensch werden will. Wenn man aber bei der Selbstoptimierung versagt, was fast unvermeidbar ist, dann entsteht ein Kreislauf aus Selbstzweifeln und Schuld. Man wird ganz klar nicht dünner, weil man einen schwachen Charakter hat. Den gilt es zu bekämpfen, damit man dann das Fett / die Zigaretten / die Faulheit überwinden kann. Und schwupp, hat man für den Rest seines Lebens ganz hervorragende Gründe, sich mies zu fühlen.

Wo der innere Schweinehund mit Disziplin und Überzeugungskraft nicht zu überwinden ist, kommt die Idee des positiven Denkens ins Spiel. Man muss nur richtig fest daran galuben, dass man reich, berühmt und beliebt wird, dann werden sich diese Gedanken in der Realität manifestieren. Oder auch nicht. Aber dann hat man ja wieder selbst Schuld, weil man nicht in der Lage ist, positiv genug zu denken. Muss man halt noch härter an sich arbeiten...

Auch wer glaubt, sich mit körperlicher und charakterlicher Selbstoptimierung eine Pole-Position auf dem Beziehungsmarkt zu sichern, kann das alles laut Niazi-Shahabi gleich wieder vergessen. Offenbar gibt es Erhebungen darüber, dass Männer tatsächlich Angst vor schönen Frauen haben, also vor solchen, die gängigen Schönheitsidealen am meisten entsprechen. Diese haben darum oft regelrecht Probleme, einen Partner zu finden. Die Frauen, die in Bars angesprochen werden, sind die, die signalisieren, dass sie angesprochen werden wollen. Und nicht die, die strahlend schön sind. Ich habe ja schon seit Langem vor, als dicke Dame mal wieder ein Bar-Experiment zu starten. In den letzten Jahren war es immer so, dass ich als dicke Frau in Bars den ganzen Abend total unbehelligt verbringen konnte. Da wollte keiner was. Lag das nun wirklich am Fett, bzw. meiner Unattraktivität? Oder daran, dass Männer mich für eine sauertöpfische Zicke halten? Na, vielleicht werde ich das zu einerem späteren Zeitpunkt noch genauer erforschen...

Ist eine Frau überdurchschnittlich schön UND gebildet, kann sie sich den Traum von einer stabilen, langfristigen Beziehung offenbar statistisch gleich ganz abschminken. Wer wirklich auf dem Heiratsmarkt am besten abzusetzen ist, und sich zusätzlich am meisten Hoffnung darauf machen kann, mit seinem Partner obendrein alt zu werden, das sind in der Tat eher durchschnittliche, graue Mäuse mit realistischen Erwartungen, was den eigenen Marktwert betrifft. Das gilt für Männlein wie Weiblein, und heißt, dass man hier eigentlich die Arschkarte gezogen hat, wenn man zu toll ist.

Was die Ansprüche an potentielle Partner angeht, so kann ich ja auch wenig aus meiner Haut. Dafür kann ich bei der Gefühlswelt des anderen mit Abstrichen leben. Ich verbringe lieber Zeit mit jemandem, den ich großartiger finde, als er mich, als mit jemandem, der verrückt nach mir ist, aber mir auf den Wecker fällt. Was uns zu dem Märchen bringt, dass man erst sich selbst lieben müsse, um jemand anderen lieben zu können. Das ist natürlich Blödsinn. Habe ich schon immer gesagt. Ich habe mich die meiste Zeit meines Lebens nicht geliebt. Das steht fest. Aber ich war immer (und ich bestehe absolut darauf, dass dieses zutreffend ist) in der Lage, andere (Katzen und einige Menschen) wie wild zu lieben. Ohne guten Grund und ziemlich bedingungslos - und aus vollstem Herzen. Ich bin sehr froh und stolz, dass es so ist.

Trotzdem: Wenn es, wie immer in Frauenmagazinen und Ratgebern verbreitet, wirklich die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Partnerschaft sein sollte, dass man auch allein total glücklich und mit sich und der Welt im Reinen ist, dann haben die meisten Single-Frauen noch einen verdammten Batzen Arbeit vor sich. Niazi-Shahabi gibt zu bedenken, dass derjenige, der als Single komplett glücklich ist, ja eigentlich auch gar keinen Partner mehr braucht, denn: "Wer keinen Machtkampf will, sollte keine Beziehung führen." (S. 193) In Liebesbeziehungen regiert nicht die Vernunft. Oft übrigens auch nicht die helle Freude. Und sie sind genauso schwer zu optimieren, wie die beteiligten Parteien selbst.

Nach der Perfektionierung des Körpers und der Beziehung geht es an die Karriere. Dabei gibt die Autorin zu bedenken, dass Höchstleistungen, die durch fortwährende Arbeit und Anstrengung erbracht werden, oft den Stress und die investierte Lebenszeit nicht wert sind. Das Glück über erreichte Erfolge verpufft erwiesenerweise schnell. Zusätzlich erzeugt Erfolg mehr Druck - er macht, so Niazi-Shahabi, unfrei. Karriere macht in der Regel außerdem nur der, der sich wirksam anpasst. Aber auch wer hart arbeitet und sich an die Regeln hält, ist nicht automatisch erfolgreich. Erfolg ist, mehr als wir gemeinhin annehmen, reiner Zufall, beziehungsweise ein Ergebnis der Umstände. Leute, die erfolgreich sind, haben oft einfach nur mehr Glück, als andere. Manche bereits bei ihrer Geburt. Hierzu kann man übrigens auch in Malcolm Gladwells "Überflieger" noch Erstaunliches erfahren.

Fazit: Es ist nicht schlimm, übergroße Träume aufzugeben. Denn das müssen wir alle irgendwann. Es ist viel schlimmer, seine Lebensfreude aufzuschieben und sich erpressbar zu machen, bis man dünn, fit, schön, klug, interessant, schlagfertig, selbstbewusst, erfolgreich, beziehungsfähig, oderweißdergeierwasauchimmer ist. Das ist natürlich auch unser Grundsatz hier am Strand. Darum: Gutes Buch.

NH
 

Montag, 21. April 2014

Strandkörper!

Man denkt nicht viel und trödelt so am Computer herum - und dann plötzlich: Post vom Detlef (D!)*. Pünktlich am Ostermontag. Mit erstaunlichem Inhalt. Denn der Detlef (D!) kennt seine willensschwachen, schwabbeligen Pappenheimer schon sehr genau - schließlich sind sie ja auch seine Brötchengeber: "Fühlst du dich (...) träge nach der Osterschlemmerei?"

...Gut, das tue ich persönlich jetzt tatsächlich nicht. Ich fühle mich ganz normal. Mein Körper hatte über die Feiertage schlicht nicht das Bedürfnis, sich sozusagen vorsorglich mit vermeintlich "Verbotenem" vollzustopfen, weil die nächste Hungerkur (bzw. der Detlef (D!)) schon hinter der nächsten Ecke lauert. Das kommt daher, dass ich nun doch versuche, trotz weniger Kohlenhydraten noch immer halbwegs intuitiv zu essen und möglichst wenig zu "verbieten".

Denn wenn irgendwer hingegen noch immer glaubt, man könne gefahrlos und ohne Jojo-Effekt eine Diät machen, und diese dann eines Tages problemlos auch wieder beenden, sollte er sich wirklich mal mit dem Detlef (D!) unterhalten. Der weiß es besser. Muss er ja auch, denn er vertreibt schließlich ein Diät-Programm, und lebt, wie alle anderen Anbieter, davon, dass das mit dem Aufhören eben nicht klappt. Was ihn jedoch hervorzuheben scheint, ist die Art, auf die er das eingebaute Versagen seines Verkaufsschlagers zur expliziten Werbebotschaft gemacht hat. Nach "BodyChange" folgt konsequenterweise "BodyChange NEXT". Damit kann man "nach einer Pause wieder durchstarten". Oder sein "Gewicht dauerhaft halten".

Zwar schiebt er die Schuld für das Versagen seines Produktes ganz klar dem Kunden in die Schuhe, denn was soll er sonst auch tun, aber versichert uns sogleich, dass man "kein schlechtes Gewissen" zu haben braucht. Schließlich nützt es ja auch niemandem, und am allerwenigsten dem Detlef (D!), wenn man im Ärger zurückblickt - auf ein Programm, das so komplex und gleichzeitig beliebig ist, dass es ohnehin kaum einer durchziehen wird (bis auf den Josef aus dem Werbevideo natürlich), und auf das Geld, das man mal wieder für Diätquatsch zum Fenster hinausgeschmissen hat.

Nein, nein, nein - immer munter voran: Die "Mission Beachbody" beginnt heute, und für 12,90 Euro im Monat hilft einem der Detlef (D!) dabei, endlich sexy!, sexy!, sexy! zu werden - mit so revolutionären Mitteln wie Kochrezepten, Turnanleitungen und aufmunternden Kalendersprüchen, sowie einer Internet-Selbsthilfegruppe (Forum). Bei wem das die ersten einhundert Male nichts gebracht hat - diesmal wird alles anders sein (!). Man muss sich nur "jetzt für einen neuen Lifestyle" entscheiden. Huch, das hätte ja von meinem Hausarzt kommen können... Dauerhafter Erfolg entsteht schließlich nur, wenn man sich "langfristige Ziele setzt!". Übersetzt heißt das: Einmal Diät, immer Diät, bzw. für immer prekär oder gestört-kontrolliert essen. Und wo er recht hat, hat er recht, der Detlef (D!)...

Was nun den Beach Body angeht, so habe ich im Internet ein nur zu einleuchtendes Rezept gefunden, das viel billiger, fröhlicher und gesünder ist:  

1. Hab' einen Körper.

2. Geh' an den Strand.

Die Partnerin vom Josef (dem aus dem BodyChange-Werbevideo) versteigt sich am Ende des Filmchens übrigens noch dazu, zu implizieren, dass sie gar nicht mehr so recht weiß, wie sie ihren Freund eigentlich attraktiv finden konnte, als er noch kein Sixpack hatte. Hm. Mir scheint, mein lieber Josef, da hat jemand womöglich an der komplett falschen Stelle Ballast verloren...

In diesem Sinne - macht euch lieber mal auf und hinterlasst Spuren im Sand.


*Detlef D. Soost

NH

 

Donnerstag, 3. April 2014

Idiotenfund

"Mein Name ist Thomas Grau. Ich bin Idiotenjäger und stets auf dem Weg zum nächsten Idiotenfund."*

 
Niemand - also, zumindest niemand, der noch alle Hühner auf dem Hof hat - käme wohl auf die absurde Idee, einer Person mit dunkler Hautfarbe den Rat zu geben, doch endlich aufzuhören, sich über die sowohl offene als auch unterschwellige Diskriminierung aufgrund besagter Hautfarbe zu beschweren, weil diese Abweichung von in dem jeweiligen Kulturkreis gefühlten Majoritätsnormen ja schließlich nicht die Schuld derer sei, die diskriminieren.

Niemand, der halbwegs bei Vernunft ist, würde einem Menschen mit dunkler Hautfarbe nahelegen, sich diese bleichen zu lassen, um "normal" und damit nicht mehr das Opfer von Diskriminierung zu werden. Obwohl das natürlich sehr wohl geht. Und im Klima eines globalen Schönheitsrassismus, der untrennbar mit der Vorherschaft westlicher Schönheitsideale verknüpft ist, natürlich auch überall geschieht. Um prominente Beispiele zu finden, muss man nicht lange suchen: Auch Beyoncé und Rihanna waren scheinbar nicht immer ganz so blass wie heutzutage. Zudem werden weltweit tausendfach Nasen schmaler operiert, Lippen verkleinert und Schlupflider verändert, damit die Gesichtszüge westlich-kaukasischen Vorbildern gleichen.

Auch würde man wohl kaum jemandem, der von rassistischer Diskriminierung betroffen ist, dazu raten, sich einfach nicht um die feindliche Welt da draußen zu kümmern, und sich stattdessen schlicht selbst zu lieben, weil es dann offenbar egal ist, ob man täglich die öffentliche, mediale Verächtlichmachung und Stigmatisierung der eigenen Person aushalten muss, geringere berufliche Aufstiegschancen hat, etc. Möglicherweise hilft ein dickes Fell, die individuelle Situation besser zu meistern - eine Lösung des Problems an sich ist sie keinesfalls.

JA, ABER FETT...

...ist etwas ganz anderes als Hautfarbe/Geschlecht/Behinderung/sexuelle Orientierung, oder? Am Fettsein ist man ja selber SCHULD. Das ist kein Schicksal, das ist das weithin sichtbare Ergebnis einer FALSCHEN Lebensführung. Wären Dicke nicht so faul, dumm, trotzig, deviant, etc., würden sie sich anpassen. Und abnehmen. Oder sie hätten es gar nicht erst so weit kommen bzw. sich so gehen lassen. Und müssten dann auch nicht rummaulen, dass sie Benachteiligung erfahren.

Sizeism, die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Körpermasse, gilt als die letzte gesellschaftlich noch immer hinreichend und weitgehend akzeptable Art der Selbsterhöhung auf Kosten anderer. Dicken gegenüber darf man sich noch immer klar überlegen fühlen und dieses auch unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Es handelt sich einerseits um ästhetische, aber natürlich vor allem um moralische Überlegenheit. Eben aus den oben dargelegten, wenn auch reichlich schattigen Gründen. Wer sich selbst durch sein "Fehlverhalten" über die Grenzen des "Normalen" und "Richtigen" katapultiert, lädt Schuld auf sich. Schädigt gar das Gemeinwesen. Und gehört ermahnt. Am besten pausenlos. Das bringt dann auch das eigene Selbstwertgefühl so richtig ordentlich voran.

Natürlich sind die Gründe für ein hohes Körpergewicht vielfältig. Natürlich sind Körper ohnehin verschieden. Natürlich kann nicht jeder schlank werden, wenn er nur diszipliniert genug ist. Natürlich ist ein besonders hohes Gewicht oftmals gerade das Resultat jahrelanger Diäten, also quasi des verbissenen Kampfes um "Normalität". Aber im Grunde ist das alles vollkommen unerheblich. Denn Dicke schulden niemandem Rechenschaft für ihr Dicksein. Was die Gesellschaft ihnen allerdings schuldet, ist das, was sie allen Menschen aufgrund ihres Menschseins schuldet - Gleichbehandlung und Respekt.

Bei Blog-Posts, in denen es um Diäten oder Sex geht, verdreifacht sich hier regelmäßig die Klickzahl. Insbesondere die Kombination der Stichworte "Vorher" und "Diät" im vorangegangenen Beitrag war in dieser Hinsicht ausgesprochen erfolgreich. Wollte ich dieses Blog zu alter Blüte puschen, müsste ich vermutlich einfach nur wieder von meinem Diät-Alltag erzählen, meine Sit-ups filmen, pfiffige, kalorienarme Snacks erfinden und Graphiken über meinen Gewichtsverlauf erstellen.

Das alles werde ich selbstverständlich nicht tun.

Trotzdem - in einer essgestörten Gesellschaft gehen Diäten immer. Fünfundreißig Prozent aller Diätassistentinnen in Österreich sind ja schon geradewegs auf dem Weg in die Orthorexie**- wäre doch gelacht, wenn das für den Rest der Weltbevölkerung nicht auch zu schaffen ist. Und kaum eine Frau, in der das Thema Ernährung nicht zumindest gedanklich die Missionarin hervorbringt (ich nehme mich hier nicht aus). Denn über RICHTIGE Ernährung wissen wir alle Bescheid. Und unser Gott ist in der Regel größer als all die anderen - insbesondere dann, wenn wir gerade mit irgendeiner hinreichend komplexen Methode ein paar Kilos losgeworden sind.

In einer essgestörten Gesellschaft herumzuerzählen, dass Diäten langfristig dick machen und statistisch sogar die Lebenszeit verkürzen, und dass Ernährungsrichtlinien mitunter schneller veraltet und für die Tonne sind, als wir den Nährwert von Magerquark nachschlagen können***, ist, als ob man sich auf einer Tagung Wiedergeborener Christen dazu aufschwingt, seine Zweifel bezüglich der Wahrscheinlichkeit einer unbefleckten Empfängnis durch ein Megaphon zu brüllen. Die Chancen auf einen Rausschmiss stehen gut. Das ändert jedoch nichts daran: Starre Ernährungsvorschriften sind Religion. Kollektive Gewichtskontrolle ist Religion. Womit wir dann auch geradewegs wieder bei dem Konzept der Schuld wären.

Denn was ist schon Religion ohne Schuld? Was von Dicken gefordert wird, ist selbstverständlich keine Anpassung an eine statistische "Normalität". Die Realität in Deutschland ist, dass die meisten von uns (mehr als die Hälfte) schon längst als "übergewichtig" verbucht werden. Die "Normalität", die durch Missachtung, Anfeindung und Respektlosigkeit erzwungen werden soll, ist ein kulturelles, ideologisches Ideal****. Es ist, um genau zu sein, Fiktion. So wie die unbefleckte Empfängnis halt. Und dient zur moralischen Selbsterhöhung. So wie Scripted Reality im Nachmittagsfernsehen.

Körperfett hat nichts, aber auch nichts mit Moral zu tun.

Soviel dazu.

NH


*Google Werbespot. Herr Grau jagt eigentlich "Meteoriten", aber jeder versteht nur "Idioten".
**Orthorexie ist der krankhafte Zwang, sich "gesund" zu ernähren, wobei die selbstgesteckten Regeln immer strenger werden. Ich beziehe mich hier auf eine Studie von Wissenschaftlern der der Universität Innsbruck und der Medizinischen Universität Wien, veröffentlicht in der Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 11 S. 436-439
***z.B. Rajiv Chowdhury (Cambridge University) et. al. - Studie zum Einfluss von tierischen Fetten auf die Herzgesundheit (vor wenigen Tagen veröffentlicht)
****Joyce L. Huff "Access to the Sky" in The Fat Studies Reader (New York University Press, 2009)