Samstag, 30. Juni 2012

Zwischenruf: Hunger!


Vorweg kurz zur Erinnerung: 400 Milliarden Dollar werden jährlich weltweit für Diätprodukte und –programme ausgegeben.

Und jeden Tag hungern 925 Millionen Menschen, also jeder 7. auf diesem Planeten. 146 Millionen Kinder sind untergewichtig und gefährdet, an Unterernährung zu sterben. Und alle 15 Sekunden stirbt in der Tat ein Kind, weil es nicht genug zu essen hatte. In 2010 lebten 49 Millionen US-Amerikaner in Haushalten, in denen zumindest zeitweise nicht genug Nahrungsmittel zur Verfügung standen. In Deutschland bekommen Schätzungen nach 500.000 Kinder regelmäßig nicht genug zu essen. Ungefähr 1,5 Millionen Menschen kämen in Deutschland nicht über die Runden, wenn sie nicht die Hilfe der Tafeln in Anspruch nehmen könnten.

Die Beträge, die ich für den aktuellen Arbeitslosengeld II-Regelsatz für Nahrungsmittel gefunden habe, liegen zwischen 129,24 und 132,71 Euro. Allein die Tatsache, dass man diesen offenbar nicht auf Anhieb auf einer offiziellen, staatlichen Internetseite findet, macht mich richtig wütend. Auf jeden Fall ist das nicht viel und nicht genug. Umso erstaunlicher die weit verbreitete Überzeugung, dass Übergewicht vornehmlich ein Problem sozial schwacher Schichten sei – wobei die Herleitungswege ab hier eher verschwommen sind. Eine gängige Theorie besagt, dass arme Menschen einfach zu dumm und ungebildet sind, um sich gesund zu ernähren. Das entbehrt schon deshalb nicht einer gewissen Ironie, weil das in bestimmten Kreise ebenfalls gern bejammerte „Unterschichtenfernsehen“ voll ist mit Programmen, die um die Umerziehung Dicker und die Regeln vermeintlich gesunder Ernährung kreisen (mir stellen sich bei dem Gedanken an „The Biggest Loser“ noch immer die Nackenhaare auf). Gleichzeitig wird hierbei natürlich zweierlei unterstellt: a) man kann sich mit Hartz IV ausgewogen ("gesund") und abwechslungsreich ernähren, wenn man nur schlau genug ist – und b) der Hartz IV-Regelsatz reicht gegebenenfalls auch, um sich dick und rund zu essen. 

Ich habe nun beschlossen, auch einmal den Hartz IV- Selbstversuch zu machen. Ich werde mich im Juli von 130 Euro ernähren. Das tue ich sonst nicht. Dabei werde ich natürlich von vornherein schummeln, weil ich selbstverständlich noch aufbrauchen werde, was ich im Kühlschrank und im Vorratsschrank habe. Denn ich habe das Glück, dass am Ende des Monats noch was zu essen da ist. Fest steht schon jetzt, dass ich nie wieder Geld dafür bezahlen werde, im Zuge einer künstlich erzeugten Hungersnot Gewicht zu verlieren. Mit jeder sinnlosen, überteuerten, geschmacklosen Dose Eiweißpulver verhöhnt man die, die regelmäßig hungrig ins Bett gehen.  

NH

Montag, 25. Juni 2012

Food for thought: Lesley Kinzels "Two Whole Cakes"


Ich mag ja dünne Bücher. Denn ich habe wenig Zeit. Das Risiko ist natürlich, dass in einem dünnen Heftchen auch nicht viel steht. Oder aber die Autorin kommt schnell auf den Punkt und schafft es, eine komplexe Thematik auf angemessene Weise auf eingeschränktem Raum zu behandeln. Darum war Lesley Kinzels kurzer Abriss über Selbstakzeptanz und das Ende vom Kampf um den perfekten (dünnen) Körper eine Entdeckung für mich. Lesley Kinzel ist Fett-Aktivistin – und Amerikanerin. Wenn man das Stichwort „Fettakzeptanz“ bei Google eingibt, bekommt man ein mageres Ergebnis von 188 Seiten, bei „Fettaktivismus“ sind es sage und schreibe sieben (!) Ergebnisse. In Deutschland dürften Flashmobs dicker WutbürgerInnen in naher Zukunft nicht zu erwarten sein – eine kulturelle und politische Thematisierung der Stigmatisierung und Diskriminierung Dicker ist hierzulande bislang kein besonders schillerndes Thema. Das heißt nicht, dass Dicke hier die Nase nicht auch voll hätten. Sie suchen sich Unterstützung in Internet-Foren und Selbsthilfegruppen und begreifen langsam, dass sie nicht nur nicht allein, sondern richtig VIELE sind. Wie sollte es auch anders sein? Wenn ÜBER 50% der Deutschen zu dick sind (Fragen hierzu bitte an das Bundesgesundheitsministerium), was ist dann eigentlich wirklich „normal“? 

In den USA ist die Bewegung weiter. Sie ist natürlich größer – und noch dazu empfindlicher als ein Hornissennest. Als die Marie-Claire-Kolumnistin Maura Kelly einen Blog-Beitrag darüber verfasste, dass es ekelhaft ist, im Fernsehen dicken Schauspielern beim Knutschen zusehen zu müssen, bekam das Magazin 28.000 Zuschriften. Leserinnen drohten massenweise, ihre Abos zu kündigen und tausende, unter ihnen Sharon Osborne, forderten quer durchs Internet einen Boykott der Zeitschrift, bis Maura Kelly gefeuert würde. Wurde sie nicht. Jedenfalls nicht gleich. Lesley Kinzel war dann diejenige, die von Marie Claire damit beauftragt wurde, die passende Antwort auf den Schwachsinns-Artikel der eigenen Mitarbeiterin zu verfassen – um die Gemüter zu beruhigen und um größeren Schaden abzuwenden. Kinzel war Mitbegründerin des Blogs „Fatshonista“ und ist eine Internet-Berühmtheit auf dem Gebiet Fettakzeptanz.

 

„Your body is not a tragedy.“


„Two Whole Cakes“ ist eine Mischung aus Autobiographie und Analyse – und liefert auf wenigen Seiten einen ganzen Fundus an Ideen, wie Selbstakzeptanz entwickelt und erreicht werden kann: Unser Körper ist „keine Tragödie“, aber dass wir das Gefühl haben, uns jeden Tag für ihn entschuldigen müssen, ist eine. Mode ist politisch und sich mit Kleidern sichtbar statt unsichtbar zu machen ist einen Form von Aktivismus. Feminine Stereotype verletzen alle – auch die, die ihnen entsprechen. Wessen Problem ist es eigentlich, wenn die Gesellschaft Angst vor meinem Körper hat? Und sie HAT ANGST. Kinzel beschreibt auf Seite 75, wie sie als Kind von ihrem langen dünnen Schatten fasziniert war und Sommerabende damit verbrachte, mit ihm zu tanzen, weil er so war, wie sie sich eine wundervolle, schlanke Zukunft vorstellte. Ich hatte tatsächlich die gleichen Schattenerlebnisse als Kind. Ich hatte sie vergessen, und die Erinnerung hat mich sehr berührt. Aber das beweist auch nur wieder, wie ähnlich unsere Geschichten mitunter sind.

Es gibt leider nicht viele substantielle Veröffentlichungen zum Thema Fettakzeptanz auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Selbst wenn auf Diät-Ratgebern heute „Diät nein danke“ steht – das ist um Himmels Willen nicht ernst gemeint! Sabine Asgodoms „Das Leben ist zu kurz für Knäckebrot“ ist vielleicht gut gemeint, dann aber so trutig, wie der Titel – und letztendlich auch noch inkonsequent. Susanne Fröhlich schreibt in „Und ewig grüßt das Moppel-Ich“ einen Brief an Kohlenhydrate, die sie jetzt wieder essen darf…nun, vielleicht kommt die Revolution ja in Gang, wenn sie endlich was Anständiges im Magen hat. Bei mir steht jetzt Friedrich Schorbs „Dick, doof und arm“ oben auf der Leseliste; Udo Pollmer und Gunter Frank habe ich bereits abgearbeitet. 

Ich war so fröhlich, Kinzels Buch als coole und relevante „Starthilfe“ auf den Weg in die dicke Selbstakzeptanz gefunden zu haben, dass ich gleich noch zwei Exemplare erworben habe, um sie zu verschenken. 

Wenn ihr eines haben wollt, sendet mir einfach eine kurze E- Mail an office@nicola-hinz.com bis Freitag (29.06.12). Ich packe alle Namen in einen Hut und ziehe zwei. Ich melde mich dann bei euch, und ihr könnt mir die Adresse geben, an die das Buch gehen soll.

NH

Samstag, 16. Juni 2012

Volksverdickung



Was wir ja schon länger wissen, ist, dass über die Hälfte der Deutschen „zu dick“ ist, nämlich einen BMI* über 25 hat (bei Männern sind es SOGAR 67%). Jetzt hat das Robert-Koch-Institut im Rahmen seiner „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (scheinbar) ganz frisch auch noch dieses herausgefunden: Ein Viertel der Deutschen hat einen BMI über 30. Und ist damit „zu fett“ (heute.de), „fettsüchtig“ (Die Welt) oder, etwas netter gesagt, „viel zu dick“ (Der Tagesspiegel). Und alle sind wieder fürchterlich erschrocken. Dabei hat sich die Zahl derjenigen, die einen BMI über 25 haben, seit der Vorgängerstudie von 1998 gar nicht erhöht. Und die Zahl der „Schwergewichte“, die einen BMI von 30 mit sich herumschleppen, ist seit der letzten Untersuchung für Männer um 3,8% auf aktuell 23,3% und für Frauen um ganze 1,4%  auf 23,9% gestiegen. Das RKI selbst bezeichnet zumindest den Anstieg für Frauen als „nur leicht“. Ein anderes Ergebnis der Studie besagt allerdings, dass 8,1% der Studienteilnehmer von „aktuellen Symptomen einer Depression berichteten“, aber das hat es vielerorts nicht einmal in die Berichterstattung geschweige denn in die Schlagzeilen geschafft. Mit „Fettsüchtigen“ lässt sich das Sommerloch halt besser stopfen, als mit „Verrückten“.

Wir befinden uns also unaufhaltsam und geradewegs auf dem Weg in die fette Hölle. Das Verderben. DAS SAHNETORTENINFERNO!!!... Zugegeben, die Fahrt dauert vielleicht jetzt schon etwas länger als gedacht. Es ist halt wie mit dem Weltuntergang - kommt er heut‘ nicht, kommt er morgen. Aber die deutsche Dickendämmerung wirft ja nicht erst seit 1998 ihre Schatten voraus, sondern bereits seit ich ein Kind bin. Ich erinnere mich noch gut an die Spiegel-Ausgabe, die mein apfelförmiger Vater meiner dünnen Vollzeitmutter anklagend und wortlos auf den Frühstückstisch legte, bevor er sich ins Büro verdrückte und ihr die Drecksarbeit überließ. Hätte ich in der Grundschule schon gewusst, dass ich es heute in meinem Blog gern zeigen würde, hätte ich das Titelblatt natürlich aufgehoben - ja…das ist jetzt halt irgendwie blöd. Aber es zeigte natürlich genau das, was immer mal wieder gern auf Fotos drauf ist, die das Thema einer vom Übergewicht bedrohten Gesellschaft illustrieren sollen: Ein dickes Kind mit doofem Gesichtsausdruck, das etwas Essbares in sich hineinstopft. Übrigens warte ich persönlich auch schon seit den Siebzigern darauf, dass die Deutschen aussterben, und irgendwie wird es trotzdem immer schwerer, am Samstag einen Parkplatz in der Innenstadt zu kriegen. Dass der allerletzte Deutsche nicht vor 20 Jahren schon längst mit einer Currywurst in seinen aufgeschwemmten Pranken geplatzt ist, grenzt an ein Wunder.

Eine wesentliche Erfahrung des Älterwerdens ist ja glücklicherweise auch die heilsame Erkenntnis, dass man über Jahrzehnte mit immer dem gleichen Mist für dumm verkauft wird.

Aber sie scheinen die Schüsse einfach nicht zu hören. Die Medien nicht, die Politik nicht (Die Reaktion des Bundesgesundheitsministeriums auf die (alten und) aktuellen Ergebnisse dürfte so vorhersehbar sein, wie das Ende eines Rosamunde-Pilcher-Romans. Man wird uns wieder auffordern, fettarm zu essen und zu turnen was das Zeug hält, damit das Gesundheitssystem unter unserer Last nicht zusammenbricht.) und augenscheinlich ist Neutralität bei der Fett -Frage etwas, das selbst Wissenschaftlern zumeist extrem schwer fällt. Warum sonst mache ich das Thema Gewicht zum Eröffnungsknall der Präsentation einer Studie, die eigentlich gerade auf diesem Feld ergeben hat, dass es kaum etwas Neues gibt? Ein Schelm, der dabei „Hexenjagd“ denkt?

Um bei einer Größe von 1,68 m und mit einem BMI von 24,8 um Haaresbreite nicht „übergewichtig“ zu sein, dürfte ich 70 kg wiegen. Kein Kilo mehr. DAS wird in diesem Leben vermutlich nicht noch einmal passieren. Da könnten wir uns allenfalls vielleicht ein paar Monate nach meiner Beerdigung noch einmal sprechen. Die allerdings lässt vielleicht nicht mehr lang auf sich warten - dass man mit einem BMI über 25 quasi mit einem Bein im Grab steht, entspricht zwar weder der Lebenserfahrung der meisten Menschen noch neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber ist ja quasi gesellschaftlich verabredet. Studien, die das Gegenteil zeigen, egal wie seriös die Quelle (Katherine Flegal, Heather  Orpana, Abel Romero-Corral), erfreuen sich oft eher geringer medialer Aufmerksamkeit und sind entsprechend wenig nachhaltig, wenn es um öffentliches Bewusstsein geht. Warum nur? Es sind doch eigentlich gute Neuigkeiten, dass erst ein BMI über 35 sich möglichweise lebensverkürzend auswirken kann, und dass sich alle mit einem BMI zwischen 25 und 30 wirklich freuen könnten, weil sie vermutlich die besten Chancen von ALLEN haben, richtig alt zu werden. Aber die Diskussion um Gewicht und seine gesundheitlichen Konsequenzen ist keine vorrangig wissenschaftliche, sondern eine moralische. Wo kämen wir denn da hin, wenn sich all diese Moppel für ihre Maßlosigkeit nicht mehr schämen und/oder sich vor dem Tod fürchten würden?

Amerikanische Verhältnisse?

Auch so eine Bedrohung, mit der uns Medien regelmäßig bewerfen, wenn es um Körperfülle geht. Aber in der Tat müssen wir eigentlich nur mal vorsichtig über den großen Teich schielen, wenn wir wissen wollen, was uns WIRKLICH  blüht. Nirgendwo sind die Schönheitsideale rigider und nirgendwo dürfte der kollektive Leidensdruck, diesen nicht zu entsprechen, größer sein. Statistisch betrachtet ist immer rund ein Drittel der Amerikanerinnen auf Diät. 10 Millionen Amerikanerinnen leiden an Essstörungen. 80% aller Amerikanerinnen über 13 haben bereits mindestens eine Diät hinter sich. Der BMI liegt bei zwei Dritteln der Erwachsenen in den USA über 25, und 36% haben einen BMI über 30. Allerdings hat sich auch hier in den letzten zehn Jahren nicht viel geändert. Wie bei uns, breiten sich die Körper überraschenderweise NICHT aus wie Luftballons an Heliumflaschen. Sie werden aber eben auch nicht dünner. Und das, obwohl  Amerikaner Schätzungen nach pro Jahr bis zu viermal mehr Geld für Diätprodukte und -programme ausgeben, als für Bekleidung - die angegeben Zahlen liegen für die Diätindustrie in den USA  zwischen  55 und 68 Milliarden Dollar. In ganz Europa sind es bisher geschätzt „nur“ ca. 100 Milliarden Euro. Weltweit geht es für die Branche momentan um ca. 400 Milliarden Dollar jährlich, sie rechnet aber mit 670 Milliarden bis zum Jahr 2015. Und zumindest auf die Hilfe der deutschen Bundesregierung dürfte sie hierbei ganz sicher zählen können. Menschen, die sich hässlich und unzulänglich fühlen, sind Goldesel. Überall auf der Welt.

* Eine kleine Reise in die Entstehungsgeschichte dessen was wir heute noch immer auf höchst fragwürdige  Weise verwenden, um Körper zu klassifizieren, den BMI, gibt es hier.

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Ach, und täglich grüßt das Murmeltier - weil es so schön zum Thema passt, hier für interessierte Leserinnen und Leser ein Beitrag, der bereits am 21. Dezember, 2007 schon einmal auf candybeach.com (unter der Rubrik "Body Watch") veröffentlicht wurde:

Magersucht ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate. Etwa 15 Prozent der Erkrankten sterben daran. Und noch immer sind 9 von 10 Betroffenen weiblich. Nun hat die Bundesregierung sich der Sache angenommen – mit einer Kampagne „gegen den Schlankheitswahn in der Gesellschaft“. Der schmissige Titel der Aktion ist „Leben hat Gewicht“. Verantwortlich für die Initiative zeichnen Familienministerin Ursula von der Leyen, Bildungsministerin Annette Schavan und Alice Schwarzer – und natürlich unsere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Für alle, die es bereits schon wieder verdrängt haben sollten: das ist DIE SELBE Gesundheitsministerin, die vor gar nicht langer Zeit die angeblich komplett verfettete Nation dazu bringen wollte, sich bitteschön unter einen BMI von 25 zu verschlanken. Damals hieß es, 53 Prozent der Frauen, 67 Prozent der Männer und 15 Prozent der Kinder zwischen 3 und 17 in Deutschland seien übergewichtig. Im Mai verabschiedete das Kabinett die Eckpunkte zur Erarbeitung eines Aktionsplanes zur Bekämpfung von Bewegungsmangel und Übergewicht. Angesichts der Tatsache, dass das ganze Land dabei war, im wuchernden Körperfett zu versinken, gab es beträchtliche, jedoch nur kurz währende Aufregung in den Medien - und dann hörte man nicht mehr viel. Wer wirklich gehässig ist - und das sind wir - könnte vermuten, dass der Frau Schmidt dieses nur Recht ist, denn sie hätte vermutlich auch keine Lust, sich bei andauerndem Interesse für die Angelegenheit womöglich von übereifrigen Journalisten immer wieder selbst nach den Fortschritten bei der Bekämpfung des eigenen erhöhten BMI befragen zu lassen. Was bei der Aktion damals deutlich wurde, war, dass weder Frau Schmidt noch irgendeiner der für sie arbeitet, sich offenbar groß für so etwas für Essstörungen interessiert. Sonst hätte man sich nicht dazu verstiegen, das ganze Land auf Diät setzen zu wollen. Experten, die damals schon bemängelten, man würde durch die Art der Kampagne Essstörungen eher fördern als bekämpfen, indem man relativ normalgewichtige Bürger dazu bringen könnte, ihr normales Essverhalten zugunsten eines BMI unter 25 gegen einen restriktiven und zwanghaften Umgang mit Nahrung einzutauschen, wurden damals nicht ernst genommen. Es bleibt zu befürchten, dass auch diesmal nicht allzu viele befragt wurden, die wirklich Ahnung von der Sache haben. Wie dem auch sei - während die Bundesregierung einerseits an über 1000 Mitglieder des LandFrauenverbandes Württemberg-Baden Schrittzähler verteilt hat und der Verband hofft, dass bald alle 55.000 Mitglieder dazu bewegt werden können, für die Volksgesundheit zu marschieren, wird nun andererseits beklagt, dass jeder fünfte Jugendliche zwischen 11 und 17 mittlerweile unter Bulimie oder Magersucht leidet. 56 Prozent aller 13- bis 14Jährigen wollen gern abnehmen. Das ist keine Überraschung für uns. Für die zuständigen Ministerinnen offenbar schon. Der Zentralverband der Werbewirtschaft warf der Kampagne vor, sie sei „populistisch und verlogen“. Dort hat man natürlich auch keine große Lust, auf eine Selbstverpflichtung, in Zukunft mit Models zu werben, die etwas mehr auf den Rippen haben, als der momentane Durchschnitt. Tatsache ist - man kann nicht beides haben: Eine schlanke, sportliche, fettarm ernährte Bevölkerung, in der alle so fit sind wie eine Landfrau - und gleichzeitig eine Gesellschaft, in der keiner kotzt oder hungert, um schlank und fit zu sein/zu erscheinen. Was soll denn ein Babyspeck-geplagter Teenager machen, der immerfort diesen sich widersprechenden Signalen ausgesetzt ist? Nicht essen darf man nicht. Aber essen was man will, darf man eigentlich auch nicht. Wo wir einen „Standardkörper“ platzieren, ob er nun schlank (Bundesregierung) oder dünner (Werbung, Mode) ist, ist im Prinzip egal. Es ist die unterschwellige (Werbung, Mode) oder auch ganz klare Vorschrift (Bundesregierung), wie man zu sein hat, die dazu führt, dass in Köpfen und Seelen etwas so richtig schief laufen kann. Als Gesellschaft hat man nur eine Chance gegen Essstörungen, wenn man zunächst einmal damit beginnt, mit allen menschlichen Formen und Körpern freundlich umzugehen, und für Toleranz, Entspannung und Selbstbewusstsein zu werben, statt für die Optimierung von Diagnoseverfahren. Aber wer soll das anstoßen? Die eher unbeteiligte Frau Schmidt womöglich? Nein, das kann man nicht einmal Alice Schwarzer überlassen. Das müssten wir schon selbst in die Hand nehmen.
NH

Mittwoch, 13. Juni 2012

THE UGLY GIRL PROJECT: Vintage I*



* Startig to see your mother's face in the mirror. / Wenn man anfängt, das Gesicht seiner Mutter im Spiegel zu sehen.

© Nicola Hinz 2012