Mittwoch, 21. November 2012

Abgesang: Erkenntnisse aus dem Hartz-IV-Selbstversuch


Nachdem unser Hartz-IV-Projekt nun schon seit Ende Oktober beendet ist, wird es Zeit, ein Resümee zu ziehen. Das Ziel war bekanntlich, im Oktober in den Hatz-IV-Kategorien Nahrungsmittel, Innenausstattung, Bekleidung, Gesundheitspflege, Freizeit, Bildung, Gaststättendienstleistungen und Sonstiges mit dem Regelsatz von insgesamt €276,83 auszukommen und möglichst auch innerhalb der Abteilungen im Budget zu bleiben. Im September, unserem Vergleichsmonat mit „regulären“ Ausgaben, lagen meine Gesamtausgaben für die o.g. Kategorien bei € 1368,82. Bei Michael waren es € 1070,42. Allerdings hatte bei uns beiden jeweils eine kurze Reise den Betrag ein wenig in die Höhe getrieben.
 
 
Es ist also zu schaffen.

Zumindest für einen Monat. Aber Spaß macht es nicht, mit dem Hartz-IV-Regelsatz auskommen zu müssen. Und leicht war es nach wie vor auch nicht. Im Oktober habe ich für die Kategorien insgesamt € 274,35 ausgegeben, Michael € 277,24. Michael ist in allen Bereichen weit innerhalb des Budgets geblieben – bis auf Freizeit und Gaststättendienstleistungen. Ich lag bei den Nahrungsmitteln wieder um € 20,38 über dem Budget, bei der Innenausstattung um € 11,06 (durch die eigentlich ungeplante Anschaffung eines Woks bei IKEA), bei der Gesundheitspflege um € 1,08 und bei der Bildung um € 1,11 (durch den Kauf der Hamburger Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt).

Was haben wir denn nun gelernt?

Am Ende waren wir nicht einmal mehr stolz, mit dem zugeteilten Geld ausgekommen zu sein. Die Befriedigung, die sich unter Umständen nach einer erfolgreichen Fastenübung einzustellen vermag, blieb schlicht aus. Michaels Erklärung hierfür leuchtet ein: Wir haben ja auf nichts verzichtet, was potentiell einen „negativen“ Einfluss auf unsere Lebensführung hat: Zigaretten, Computerspiele, Süßigkeiten. Wir haben hauptsächlich auf Dinge verzichtet, die niemand ernsthaft für schlecht halten kann  – z.B. auf Gemüse. Und Bücher. Und Opernkarten.

Und wie steht es nun mit der Ernährung? Zweifelsohne lag das Hauptaugenmerk wieder durchgängig auf dem Budget für Nahrungsmittel. Und das lag u. a. vermutlich daran, dass man einen Schuhkauf sehr wohl aufschieben kann – besonders, wenn man weiß, dass man im kommenden Monat schon wieder in sein „normales“ Leben zurückkehren wird. Essen kann man nicht aufschieben.

Ich habe in diesem Monat, wie berichtet, konsequent von preiswerten Kohlenhydraten und Fetten gelebt. Käse, Butter, Eier, Weißbrot, Kartoffeln, Pommes, Nudeln - und dann war da ja noch die Wiederentdeckung der Gewürzgurke. Und manchmal war es eine großartige Sache, all das essen zu dürfen, was man sonst im Hinterkopf immer unter „ungesund“ abgeheftet hatte. Wie ebenfalls bereits erwähnt, habe ich bei der ganzen Aktion geringfügig, aber anhaltend abgenommen. Seit Anfang Juli, als ich begann, mich zu wiegen, habe ich bis heute nach einigen Schwankungen 6 kg verloren.

Im Gegensatz zu mir, hatte Michael den Eindruck, sich während des Experiments sogar gesünder (wenn halt auch freudloser), bzw. bewusster zu ernähren, als wenn er nicht auf das Budget achten muss, weil er normalerweise sehr viel mehr auswärts isst – auch Fast Food. Allerdings war es schwieriger, sich einzuschränken, als er gedacht hatte. Eines seiner Fazits war, dass es einfacher ist, gemeinsam arm zu sein. Als er vor Jahren zusammen mit einer Mitbewohnerin auf sehr kleinem Fuß lebte, machte das erheblich mehr Spaß als im Single-Haushalt. Ein Fernsehabend und geteilte Nudeln mit Butter sind halb so schlimm, und man muss sie auch nicht für die kommenden fünf Tage immer wieder aufwärmen.

Weder Michael noch ich haben im Oktober negative körperliche Auswirkungen oder einen Mangel an Energie wahrgenommen. Was bleibt, ist milde Verwirrung. Was ist schon gesunde Ernährung? Und wie sich Hartz-IV-Empfänger bzw. Menschen, die am Existenzminimum leben, in Ermangelung besseren Wissens ungesund überernähren und dadurch maßgeblich zur Verfettung der Nation beitragen sollen, bleibt weiterhin ein Rätsel.

In einem vorangegangen Post haben wir auch schon die Gefahr sozialer Isolation angesprochen. Wer plötzlich mit sehr knappen Ressourcen über die Runden kommen muss, lernt seine wahren Freunde kennen – so wie in vermutlich jeder Krisensituation. Michael hatte ihre volle Unterstützung im Oktober. Sie luden ihn ein, oder blieben einfach alle zusammen zum Videoabend zu Hause, um das Budget nicht weiter zu strapazieren.

In meinem Bekanntenkreis hielt man das Experiment dann doch eher für eine exzentrische Privatsache, was nicht heißen soll, dass man nicht mit haufenweise guten Ratschlägen versorgt worden wäre. Es war bemerkenswert, wie viel alle Welt plötzlich über das Leben am Existenzminimum wusste. Und wenn man der Mehrzahl dieser wohlmeinenden Berater glauben darf, dann ist es auch gar nicht schwer, mit dem Hartz-IV-Regelsatz klarzukommen. Zwar waren die meisten zunächst überrascht, wie niedrig dieser ist, aber „Möhren sind doch billig“ und „Von so einer Tüte Äpfel hat man doch lange was“ – und „Man kann ja Pizza auch selber machen“. Wir haben uns gefragt, warum viele unserer Gesprächspartner darauf bestanden, es sei leicht, mit wenig auszukommen, wenn die meisten von ihnen eigentlich absolut keine persönliche Erfahrung damit haben. Würde man nachhaken, würde man hier und da möglicherweise auf erhebliche Vorurteile gegenüber Hartz-IV-Empfängern stoßen – übergewichtige, faule, asoziale, ungepflegte, einfach gestrickte Kreaturen, die den ganzen Tag und letztendlich ihr ganzes Leben auf Kosten der Steuerzahler auf dem Sofa sitzen. Wenn „solche Leute“ es „schaffen“, mit dem Regelsatz auszukommen, dann kann es gar nicht schwer sein. Würde man außerdem ernsthaft zu dem Schluss kommen, dass Menschen, die aus was für Gründen auch immer auf Hartz IV angewiesen sind, mehr oder weniger zwangsläufig den Anschluss an die Gesellschaft verlieren (zur Erinnerung: € 1,39 für Bildung im Monat), müsste man eigentlich auch dafür sein, dass sich daran etwas ändert. Vielleicht durch eine Erhöhung der Sätze. Aber vielleicht auch durch viel mehr und viel einfühlsamere Unterstützung bei Arbeitssuche, Weiterbildung und Kinderbetreuung. Eine Gesellschaft kann nicht bestimmte Mitglieder abschreiben und erwarten, dass diese am Ende nicht Gefahr laufen, es auch selbst zu tun.

Noch kurz einen Nachtrag zum „Containern“ – im Supermarkt um die Ecke teilte man mir auf Nachfrage, ob ich mal in den Containern stöbern dürfte, mit, dass in ihren Containern nichts Verwertbares mehr sei, weil sie ihre Reste an die Tafel abgeben. Das würden ohnehin immer mehr Supermärkte in der Gegend tun. Wenn das stimmt, und davon gehe ich aus, dann ist das natürlich toll. Ich sag’s jetzt einfach: Ich war zu dem Zeitpunkt einigermaßen erleichtert, denn auf das Experiment hatte ich wirklich wenig Lust. Gedanklich bleibe ich aber trotzdem mal dran.
 
Zum Thema passend hier noch ein sehens-/lesenswerter Beitrag.


PS: Hab' ich doch gleich noch was gelernt, bzw. heute Nachmittag beim Einkaufen entschieden: Ich werde in diesem Jahr die Weihnachtskauferei und -verschenkerei ganz erheblich einschränken und stattdessen lieber eine Spende an ein oder zwei etablierte, vertrauenwürdige Projekte/Organisationen überweisen, deren Arbeit ich für wichtig halte. Auch das dürfte im Hinblick auf die Frage, wie man das den verblüfften Nicht-Beschenkten nun wieder vermittelt, abermals nicht ohne Herausforderungen sein. Ich versuch's trotzdem. Außerdem können wir da auch gleich wieder zu vybzbilds Welt schalten, denn da gibt es einen entsprechenden Hinweis auf den Buy Nothing Day.

NH