Montag, 13. Mai 2013

Zu dünn


 
Ein Bekannter von mir behauptet ja gern: "Wenn man keine Erwartungen an etwas hat, wird es gut." Das stimmt schon einmal nicht.* Na, jedenfalls führen mich meine Streifzüge durch dicke soziale Universen jetzt sogar schon bis nach Recklinghausen. Und zwar zur Ü100 Party in der Vest Arena am vergangenen Samstag in - nun ja, Recklinghausen halt. Diese "pfundigen Tanzvergnügen" für dicke Menschen und solche, die dicke Menschen mögen, finden regelmäßig in verschiedenen deutschen Städten statt - in Hamburg z.B. das nächste Mal am 12. Oktober im Edelfettwerk. Die recklinghausener Ü100 jedoch soll die größte ihrer Art sein...und ich fand mich schlicht nicht zurecht...
 
Während ich bei meinem ersten Ausflug auf eine solche Veranstaltung in besagtem Edelfettwerk vor einigen Wochen auf ein paar vertraute Gesichter von meinem "dicken Stammtisch" traf und mich buchstäblich an ihren Rockzipfeln festhalten konnte, war ich diesmal allein unterwegs. Mein Ü100-erfahrenes "Date" hatte mich versetzt, und das, was ich normalerweise auf einer Party mache, auf der ich niemanden kenne, stellte sich hier als absolute Loser-Strategie heraus. Sonst nehme ich immer erst einmal mein Glas und setze mich an einen noch ruhigen, eher leeren Ort - die Bar, die Terrasse, oder die Küche. Und in der Regel kommt jemand zu mir und sagt was ; ). So ist das einfach. Dann sag ich was zurück. Und schwupps, kommt vielleicht noch jemand dazu, die Sache ist erledigt und man kennt plötzlich Leute.
 
Ist hier noch frei?
 
Kurzum: Die einzigen, die bei dieser Sause nett zu mir waren, waren die reizende und übrigens sehr schlanke Barfrau, die mir meine Drinks zusammenrührte (für die man mit Wertmarken bezahlen musste...what is THAT all about?!), sowie eine runde Dame, die an der Bar hinter mir in der Schlange stand. Sie lächelte mich an, und irgendwie dachte ich noch, die ist auch allein hier.
 
Die Sache mit den Sitzgelegenheiten gestaltete sich dann denkbar schwierig. Zwar waren alle möglichen Stühle und Barhocker leer, aber - wie die Liegen am Swimmingpool eines Aldiana Club Hotels um sechs Uhr in der Früh - offenbar besetzt, besetzt, BESETZT! Die Frage "Ist hier noch frei?" wurde von einsam zurückgelassenen BewacherInnen entsetzt abgewehrt und man wurde buchstäblich fortgewedelt. Andere dicke Damen sahen mich angesichts meines Begehrens stumm an und drehten sich dann augenrollend weg. Kein Scherz. Und obwohl die Ü100 natürlich auch als Flirtforum für Dicke und ihre Verehrer gilt, gab's für mich, solange ich da war, jedenfalls keinerlei Avancen, die ich hätte abwehren müssen/können. Also stand ich lange dumm herum, reckte den Hals, um vielleicht doch jemanden zu entdecken, den ich kannte und lief ansonsten im Kreis wie ein Zirkuspferd. Dabei stocherte ich wild in meinen Virigin Coladas herum (wie passend).
 
Was dann kam, könnte man vielleicht als Frustessen bezeichnen. Gleichzeitig war es aber auch eine konsequente Umsetzung des intuitiven Essens, denn irgendwie war mir ja schon die ganzen letzten Wochen auf so unerklärliche Weise nach Blut. Also habe ich zwei Bratwürste im Brötchen gekauft - UND vertilgt. Schließlich musste man ja auch irgendetwas mit seinen Händen tun. Und da mich sogar das Candygirl (verteilt Süßigkeiten) mit ihrem Bauchladen schnitt, gab's nichts anderes zu essen. Irgendwo soll ja ein Obstkorb gestanden haben...ehrlich, Kinder - whatever.
 
Erklärungsversuch
 
Der Beginn einer Unterhaltung zwischen Fremden ist wie der Mechanismus des gegenseitigen Grüßens auf der Straße. Es gibt kurz vorher, im Bruchteil einer Sekunde, Anzeichen und eine Art Schwingung, die signalisiert, dass der andere in diese kurze Form der Kommunikation einsteigen wird. Wenn man sich irrt, und er es nicht tut, liegt hinterher was Merkwürdiges in der Luft. Ich habe an dem Abend neben unzähligen Menschen gestanden, und keine Unterhaltung hinbekommen. Dass es auf deutschen Partys immer etwas schwerer ist, Gespräche zu beginnen, als, sagen wir mal, mit Engländern, ist auch klar. Wir sind zurückhaltender - das ist einfach so. Trotzdem muss hier irgendetwas passiert sein, was eher außergewöhnlich ist. Mein grundsätzlicher Eindruck war, dass es tatsächlich eine Fett-Szene gibt, in der sich viele bereits kennen und eine nicht unelitäre Gemeinschaft bzw. Grüppchen bilden, die wenig Interesse an Neuankömmlingen hat/haben. Deren Regeln oder Codes sind mir ganz offensichtlich nicht geläufig. Weder die der runden, tanzenden Frauen, die mehrheitlich mit ihren Freundinnen da waren. Noch die der zumeist schlanken Männer, die ihre Kreise zogen, um einen dicken Fang zu machen.
 
Mutprobe
 
Ein wenig Bewegung schien in die Sache zu kommen, als er auf der Bildfläche auftauchte: Rob Zombie (minus Vollbart) parkte sich mit seinem Freund an einem Tresen vor meiner Nase, an dem offenbar plötzlich Plätze frei waren, zog die Jacke aus, zeigte die tätowierten Arme her und brachte mich blitzschnell auf Ideen, wie der Abend vielleicht doch noch zu retten war. Da er ohne weibliche Begleitung zu sein schien, und einer wie er nun ganz bestimmt nicht gekommen war, um zu biederen Sommerhits abzuhotten, schloss ich messerscharf: Fettliebhaber auf der Jagd. Und ich hatte Fett. Und bekanntlich eine freigewordene Hälfte im Hotelbett. In meinem Kopf  malte ich mir das Ganze als völlig neue Trainingseinheit aus: Jemanden im wahren Leben und zur unmittelbaren Umsetzung aufzureißen - oder es wenigstens zu versuchen, um auch hinter diesem sexuellen Versuchsaufbau als dicke Frau einen Haken machen zu können.
 
Also schlich ich um ihn herum, sah ihn an und traute mich nicht. Irgendwann hat er's wohl gemerkt und zurückgeguckt. Was er gedacht hat, weiß ich natürlich nicht, aber in meinem Kopf lamentierte es plötzlich schrill "WAS MACHST DU HIER EIGENTLICH!?", woraufhin ich mich fluchtartig und ohne mich noch einmal umzusehen auf den Weg zum Auto machte. Bei den Parkplätzen traf ich dann übrigens die ebenfalls anhanglose Frau von der Bar. Sie war vermutlich auch auf dem Heimweg, und wir lächelten noch einmal. Tatsächlich ärgere ich mich jetzt, dass ich ihr kein schwesterliches Besäufnis angetragen habe. Andere Partygänger waren beim knüpfen von Kontakten sehr viel erfolgreicher gewesen - jedenfalls ließen dieses die beschlagenen Scheiben des Wagens gegenüber vermuten. Und ein paar knutschende Pärchen waren gänzlich unbeeindruckt davon, dass ich sie mit meinen Scheinwerfern anleuchtete. Ich verpieselte mich genervt in die Bar neben meinem Hotel, deren Kräuterrinha mich am Ende so zurichtete, dass ich es gerade noch schaffte, in mein riesiges Bett zu wanken.
 
Alles anders
 
Einer meiner ehemaligen Fettliebhaber kommentierte meine Niederlage so: "Dem wärst du doch eh' zu dünn gewesen."
 
Ich: "Also, jetzt hör' aber auf. Dir war ich doch auch nicht zu dünn."
 
Er: "Doch...Eigentlich schon."
 
Ich: "Wie bitte?"
 
Er: "Na, entschuldige mal - wiegst du überhaupt noch über hundert Kilo?"
 
Ich (nach empörtem Schnauben): "Jahaaa, allerdings."
 
Er: "Naja, ist jetzt ja nicht so wichtig - du hast ja schließlich auch ein Gesicht."
 
Ich: sprachlos
 
Er: "Und das ist mir ja wichtiger, als ein bestimmter Körperumfang...Bist du noch dran?"
 
Ich: "Das heißt, du hattest etwas mit mir, obwohl mein Körper nicht so toll ist, weil das Gesicht stimmt?"
 
Er: "Also bitte, ich habe nicht gesagt "nicht so toll"...Mehr wäre halt toller."
 
Ich: "Jajaja...und das Gesicht..."
 
Er: "Also mehr Gesicht brauchst du nicht."
 
Es ist offiziell: Ich habe mein Gesicht zurück. Kein "Du hast ein so hübsches Gesicht, aber..." mehr.
 
 
* Wenn DAS wirklich so wäre, hätte es mit uns allerdings auch viel besser laufen müssen, mein Guter. 
 
NH