Eines habe ich jetzt, wo es Nacht ist, endlich begriffen: Heller wird es heute nicht mehr. Und ich habe außerdem gerade sechsmal hintereinander so geniest, dass ich dachte, das Gesicht fliegt mir davon. Ist es zum Teil auch. Und auf dem Computerbildschirm gelandet. Der Drucker war so entsetzt, dass er daraufhin das Drucken aufgab, obwohl es sich hier eher um einen Zufall handeln dürfte. Zuerst schwor er Stein und Bein, er habe einen Papierstau erlitten. Als Nächstes verlangte er trotzig, dass seine Trommel gereinigt werden müsse. Ich habe ihn dann ausgestellt, damit mir sein rotes Warnlicht nicht mehr auf die Nerven geht. Und ich habe das Drucken eingestellt. Schon wieder eine höchst verstörende Metapher fürs Leben. Stau ohne Grund. Irgendetwas blockiert immer. Irgendetwas fällt immer runter und rollt in die hinterste Ecke. Irgendetwas blinkt oder stürzt wahrscheinlich in wenigen Sekunden schon wieder ab.
Zu den Accessoires der Stunde erkläre ich nun oben abgebildete Pflaster. So kommt es, wenn man nicht mehr aufhören kann, an seinen Fingern herumzubeißen. Die Pflaster sind quasi der letzte Schrei, bevor man die Hände vors Gesicht schlägt. Meine Mutter hat mich immer ermahnt, ich solle aufhören "mich selbst aufzuessen". Ich nehme an, es ist eine besondere Variante des Frustessens. Angst essen Finger auf. Was aber auch bedeutet, dass ich noch immer eher mich selbst verletze, anstatt mir endlich ein Revolvergebiss wachsen zu lassen, meine Zahnreihen in die Welt zu schlagen und sie hin und her zu schütteln, wie ein Hai seine Beute.
Was einen Tag zum Scheißtag macht, ist nicht immer leicht zu erklären. In der Regel kommen viele kleine Dinge dazwischen und es bestehen viele kleine und größere Unklarheiten. Unklar ist oft auch das eigene Verhalten. Aber wenigstens ergibt alles, was im Prinzip unzumutbar ist, in der Regel am Ende immerhin eine prima Anekdote. So wie das Telefonat, dass ich mit einem Mann hatte, der mich ursprünglich kontaktiert hatte, weil er angeblich auf dicke Damen steht und der dann aber gern über das Für und Wider kohlenhydratarmer Ernährung diskutieren wollte, weil er schließlich aus ersichtlichen Gründen in mir so etwas wie eine Expertin auf dem Gebiet erwarten durfte. Seine große Sorge war, mit zunehmendem Alter im Gesicht "fett" zu werden. Ich erklärte ihm, dann solle er doch gefälligst aufhören zu essen. Am besten sofort. Denn so wird man dünn. Einfach nichts mehr essen. Bis ans Ende seines Lebens...
Die Frage ist nicht, warum so ein fettphobischer Idiot mich (BBWxy - ja, der Name ist Programm) auf einem Online-Dating-Portal überhaupt je angeschrieben hat. Die Frage ist nicht, warum ich ihm eigentlich zugetraut habe, mehr als ein Idiot zu sein, und ihm meine Nummer gegeben habe. Die Frage, bevor der Kopf auf die Tischplatte knallt, ist: Was mache ich hier eigentlich?!
Wenn ich dünn wäre, wäre ich nicht hier.
Das Problem ist: DAS ist die Wahrheit. Trotz allem. Wenn Kate Harding behauptet, dass man das, was man dick nicht schafft, auch dünn im Leben nicht erreicht hätte, hat sie halt DOCH Unrecht. Wie sollte es auch anders sein? In einer Gesellschaft, die keinen größeren Feind kennt als Körperfett?
Kate Harding hat aber natürlich Recht, wenn sie uns auffordert, im JETZT mit unseren dicken Körpern neu anzufangen. Seinen Mut zusammen zu nehmen und so, wie man ist, dem Leben abzuringen, was man nur kriegen kann, nachdem man womöglich sein ganzes Leben zuvor den Kopf eingezogen und versucht hat, sich unter schwarzen Zelten zu verbergen, verlangt Biss. Es ist immer eine Frage des Mutes, was man aus seinem Leben macht. Aber die einzige Ermutigung, auf die Dicke immer zählen können, ist die, endlich eine Diät durchzuhalten.
Nein, dünne Lebensläufe werden nicht mit Feenblut geschrieben. Und weder ich noch Kate hätten dünn George Clooney geheiratet. (Und seien wir ehrlich - wer will das eigentlich wirklich?) Aber geheiratet hätte ich als "langfristig dünne" Ausgabe von mir selbst möglicherweise dann doch. Vielleicht hätte ich heute bereits ein paar Ehemänner hinter mir. Und wenn ich genau betrachte, wie viel Kraft der Kampf gegen den eigenen Körper und das gleichzeitige Abstrampeln um Selbstwerterhalt in den letzten Jahrzehnten gekostet hat, glaube ich eigentlich auch, dass ich dünn beruflich erfolgreicher wäre. Die Energie, die Dicke oftmals aufbringen müssen, um sich überhaupt der Welt zuzumuten, oder um sich stetig darum zu kümmern, endlich dünn zu werden, können andere in ihre Karriere stecken. So müsste (dürfte) es nicht sein. Wenn es der Welt egal wäre, ob jemand dünn oder dick ist.
Wäre ich dünn, wäre ich nicht nett.
Ich bin mir ziemlich sicher, ich wäre geradezu garstig, super-hochnäsig und egoistisch - und vermutlich meistens sehr, SEHR viel fröhlicher. ; ) Hässlichkeit (Dicksein), so wie jede andere adverse Schicksalskomponente, ist der sicherste Weg, ein besserer Mensch zu werden. Stiller. Weniger stolz. Weniger laut. Geduldiger mit anderen. Mitfühlender. Gerechter. Angepasster. Bescheidener. Weiser gar. Und wenn auch nur für die Außenwelt. Das ist eine Tatsache und nebenbei ein gern verarbeitetes Motiv in amerikanischen Fernsehspielen für Teenager.
Nicht dass ich Gefahr liefe, womöglich wieder abnehmen zu wollen. Ich werde den Teufel tun und den Einsatz meiner Ressourcen noch einmal auf irgendetwas Anderes lenken, als auf das Erlangen größtmöglicher persönlicher Freiheit und Selbstbestimmtheit!
Es ist wohl hauptsächlich die Wut auf eben jene oben genannten Umstände, die mich dieser Tage mal wieder vermehrt mich selbst anfressen lässt. Dass sie sich noch immer nicht genug nach außen richtet und auch nicht annäherend ausreichend in Selbstfürsorge fließt, ist der Tatsache geschuldet, dass meine Umprogrammierung nur schleppend verläuft. Das zieht sich alles mit der dicken Selbstakzeptanz. Grollen ist halt auch eine zeitaufwendige Beschäftigung. Aber vermutlich ein notwendiger Teil des Weges. Dabei kann ich es gar nicht abwarten, eine garstige und egoistische Dicke zu werden.
NH