Im Deckel einer Snapple Lemonade... |
Gestern ging ich um sieben Uhr abends ins Bett, um mich "kurz mal hinzulegen". Ich wachte acht Stunden später auf, wankte etwas desorientiert aufs Klo, fütterte den Kater und nahm eine Tablette gegen die Kopfschmerzen, die ich bekommen hatte. Die kriege ich übrigens leicht, wenn ich länger schlafe als gewöhnlich. Ich ging wieder ins Bett, um ein paar Minuten abzuwarten, bis die Tablette wirken würde und wachte wiederum sechs Stunden später auf. Ich nahm noch eine Tablette und ließ den ungehaltenen Kater endlich in den Garten.
Und dann begann das Wochenende. Ich werde es wieder allein zu Hause verbringen. Es ist nicht so, dass ich mich am Schreibtisch langweilen würde - da ist genug zu erledigen. Ich langweile mich ohnehin nie. Ich würde nur bekanntlich sehr viel lieber nicht allein hier sitzen.
Aber keiner will was. Und was ich will, ist außer Reichweite. Darüber hinaus fehlen mir Nerven und ganz ehrlich auch tatsächlich abermals Mut und Selbstbewusstsein, mich als dicke Frau vielleicht doch allein ins Getümmel einer Single-Veranstaltung in Hamburg zu werfen, oder mich, wie ja schon lange geplant, in Experimentierlaune in eine Bar zu setzen.
Dass gar keiner etwas mit mir unternehmen wollte, stimmt auch nicht ganz: Einer der Männer aus meinem "kleinen, schwarzen Buch" hatte angefragt, ob ich mit nach Recklinghausen komme, zu einer Ü100-Party. Aber die Vorstellung, 6 Stunden im Auto zu verbringen, und Geld für ein Hotelzimmer zu investieren, nur um wieder in den Genuss der Gesellschaft der vermutlich gleichen dicken Clique von Insidern zu kommen, mit der ich schon einmal nur wenig Freude hatte, schien einfach kein sehr attraktiver Plan.
Men don't protect you anymore.
(Jenny Holzer)
Ja, es stockt, wenn es um mein dickes Selbstbewusstsein geht. Und jetzt, wo ich nach und nach meine letzten Profile auf den Online-Dating-Portalen im Internet lösche, weil die bezahlten Mitgliedschaften nun auch ausgelaufen sind, wird mir im Rückblick immer klarer, dass und warum der zweijährige Ausflug ins Online-Dating nicht nur einerseits sehr hilfreich war, was meine dicke Selbstakzeptanz betrifft, sondern andererseits auch mit einer allgemeinen, menschlichen und auch anhaltenden Enttäuschung einhergeht, die für mein Selbstbewusstsein gar nicht so günstig ist. Eine Enttäuschung, die aus der Erfahrung resultiert, es dem Gegenüber immer und immer wieder nicht wert gewesen zu sein, auch nur die grundlegendsten sozialen Gesten anzuwenden und/oder zu erwidern.
Fast könnte man glauben, die einfachsten Rituale im gesellschaftlichen Miteinander werden schlicht nur noch von einer Minderheit beherrscht. Vielleicht ist es so. Vielleicht handelt es sich hier wieder einmal um eine Entwicklung, die ich verpasst habe und ein Phänomen, das man nicht persönlich nehmen sollte. Aber ich kann mir nicht helfen. Es fühlt(e) sich einfach ziemlich persönlich an, wenn man es offenbar nicht wert war, dass einer am Tag nach einer Verabredung mal eine Nachricht schickt. Man war es nicht wert, ein Treffen rechtzeitig und nicht erst ein paar Stunden vorher abzusagen. Man war es nicht wert, Glückwünsche zum Geburtstag zu bekommen, obwohl der andere wusste, dass man gerade Geburtstag hatte und man heutzutage ja eigentlich sogar jedem seiner XING-Kontakte gratuliert. Man war es nicht wert, eine Nachricht zu Weihnachten oder zum Jahreswechsel zu schicken, obwohl man sich in dieser Zeit des Jahres gerade kennengelernt hatte. Man war es nicht wert, einfach mal so zwischendurch und aus purer Sympathie angerufen zu werden.
Ich war es nicht wert, einen Schirm aufzuspannen und sich trotz Regens in die Innenstadt von Hamburg zu begeben, um mich zu treffen. Ich war es nicht wert, überhaupt rechtzeitig aufzustehen, um zu einer Verabredung mit mir kommen. Ich war es nicht wert, von zu Hause abgeholt zu werden. Ich war es erst recht nicht wert, eine Blume oder eine Flasche Wein zum Treffen bei mir zu Hause mitzubringen. In zwei Jahren und nach mittlerweile Dutzenden von Dates/Kontakten habe ich nur einmal Blumen bekommen. Ich war damals so außer mir vor Freude und Erstaunen, dass ich sie auch gleich fotografiert habe:
Ich war es nicht wert, dass mir die Tür aufgehalten wird. Ich war es nicht wert, dass man mich zum Kaffee oder gar zum Essen einlädt (wo denke ich auch hin?!). Ich war es nicht wert, dass man während des Telefonats mit mir den Fernseher ausschaltet. Ich war es nicht wert, sich für ein Treffen mehr als eine Stunde Zeit zu nehmen. Ich war es nicht wert, dass man mich im Dunkeln zum Wagen begleitet.
Klar, fragt ruhig, ob ich denn selbst frohe Weihnachten und gute Besserung wünsche, Verabredungen einhalte, kleine Geschenke mache, jemanden im Auto abhole und kurze Nachrichten sende. JA, VERDAMMT - das tue ich. Ich habe auch schon beide Tassen Kaffee bezahlt...und meiner Begleitung wäre es im Leben nicht eingefallen zu protestieren. Mit diesem Effekt weiblicher Emanzipation haben Männer meiner Erfahrung nach ganz und gar kein Problem. Was Männer dazu bringt, in bestimmten Situationen nicht einmal mehr ein Minimum an verbindlichem Wohlwollen oder Fürsorge zu demonstrieren, obwohl sie sich in Kontakt mit einer Frau befinden, die sie eigentlich ganz interessant finden (denn sonst stünden sie ja vermutlich nicht mit ihr in Kontakt) bleibt mir ein Rätsel. Ebenso rätselhaft ist oft ihr Erstaunen oder ihre schiere Empörung, wenn man ihnen dann mitteilt, dass sie einem durch ihr "überentspanntes" Verhalten das Gefühl geben, dass sie eigentlich kaum Wert auf eine weitere Verbindung legen und dass man im Gegenzug nun auch die Lust verloren hat, sich noch länger mit ihnen zu befassen.
Wie dem auch sei, so vielen männlichen Menschen nicht einmal so wenig wert gewesen zu sein, hat meinem Selbst-WERT keinen Schwung gegeben, sondern hinterlässt nun doch eher einen bitteren Nachgeschmack. Das merke und schmecke ich jetzt. Aber das ist halt noch immer die blödeste Seite des Online-Datings: Man kann sehr schnell sehr viel über viele Männer lernen und dabei gründlich erleben, dass es halt ganz bestimmte Einzelfälle gibt...Und das sind die, die die Blumen mitbringen.
Der Kater frisst jetzt nur noch von Papptellern.
Und gekocht wird auch nicht mehr. Ab jetzt wirklich nicht mehr! Trotz aller Bemühung, mir das Operieren in der Küche durch Organisation, Zugänglichkeit und "Ein-Schritt-Lösungen", also einen Küchenaufbau, der es einem erlaubt, bestimmte Dinge mit nur einem Handgriff zu erreichen oder zu erledigen, so einfach wie möglich zu machen, schaffe ich es alle paar Tage, diesen Raum zum Schlachtfeld zu machen. Davon gibt es keine Fotos. Es mag mir nicht peinlich sein, meinen nackten Po in die Kamera zu halten. Der Zustand meiner Küche ist es.
Natürlich findet dort täglich eine echte Schlacht fest. Chaotische (nicht fein säuberlich gestapelte) Berge von dreckigem Geschirr entstehen innerhalb von Stunden, und werden erst einmal nicht beseitigt. Das bewerkstellige ich dadurch, dass ich für jeden Handgriff und jede Walnuss einen neuen Teller oder eine frische Schüssel und immer neues Besteck verwende. Ich lasse leere Verpackungen und Abfälle erst einmal auf der Arbeitsfläche liegen, anstatt sie gleich wegzuwerfen. Ich lasse Sachen spritzen und anbrennen. Ich kreiere dieses Chaos so, als wäre es mit Absicht. Ich sehe und verstehe, wie es entsteht. Aber es ensteht nicht mit Absicht. Es ist, und das ist ja schon seit Längerem meine Überzeugung, die Manifestation meiner noch immer vorhandenen Essstörung. Sie ist das Abbild des inneren fast vier Jahrzehnte alten Schlachtfeldes, wenn es um Nahrungsaufnahme geht. Und während ich bei eben jener Nahrungsaufnahme selbst diese Störung heute kaum mehr verspüre und weitgehend schuldfrei esse, scheint es so, als ob mich irgendetwas in mir für das Abschütteln der Schuld doch nicht ganz vom Haken lassen will. Ich begreife die Unordnung in der Küche als Bestrafungsmechanismus und/oder als eine wilde Äußerung von unterbewusst noch immer vorhandener Ambivalenz und Verwirrung im Bezug auf Ernährung. Und besonders in den letzten Tagen schien sich die Situation eher noch zu verstärken.
Und weil ich im Augenblick keine besseren Ideen mehr habe, bleibt die Küche nun endlich doch kalt. Nun ja, erwärmt wird nur noch in der Mikrowelle, und Lebensmittel, die in ihrem eigenen Behältnis auch gleich verzehrt werden können, werden klar bevorzugt. Dass das viel mehr Müll erzeugt als sonst, ist mir natürlich klar. Aber es geht hier schlicht um Selbstverteidigung. Der Kühlschrank ist heute voll mit Salatschalen, vorgeschnittenen und verpackten Früchten, Quark, Joghurt, und meinen Lieblingstofubällchen, die man gut kalt essen kann. Eine Liste mit den neuen Regeln hängt jetzt an der Küchentür. Mal sehen, ob ich mich so selbst überlisten kann.
Und da Fett- und Selbstakzeptanz weder leicht zu entwickeln noch zu erhalten sind,...
...nehme ich ja jede Hilfe, die ich irgendwie kriegen kann. Und ich würde in diesem Zusammenhang gern noch einmal auf das Buchprojekt von Gisela Enders hinweisen, für dessen Zustandekommen noch immer MitstreiterInnen gebraucht werden, die zur finanziellen Unterstützung eines der vorgestellten Angebote buchen. Ich selbst habe, wie gesagt, das Buch vorbestellt, denn ich finde es wirklich wichtig, die (äußerst überschaubare) Reihe der auf Deutsch verfügbaren Publikationen zum Thema Selbstakzeptanz für Dicke durch einen substantiellen Beitrag zu erweitern. Ich möchte das Buch gern lesen.
VORSICHT - Polemik!
Die Tatsache, dass die Unterstützung des Projektes tatsächlich im Augenblick zu stagnieren scheint, finde ich ärgerlich und bestürzend. Die Hälfte aller Deutschen ist statistisch betrachtet "übergewichtig". Millionen von Deutschen leiden an Essstörungen, und dennoch ist es augenscheinlich so gut wie unmöglich, das Thema auf einer breiteren, öffentlichen Ebene als relevant zu etablieren.
Selbst das Interesse derer, die sich zumindest im Ansatz mit der Problematik befassen und das Internet regelmäßig nutzen, um sich hier zu informieren und zu äußern, scheint sie oft noch immer nicht viel weiter zu tragen, als bis zum nächsten Modeblog, in dem sich dicke Frauen in mehrheitlich verdammt spießigen Outfits "auch hübsch" machen. Los Mädels, es wird Zeit - ein wenig Aktivismus steht jeder Frau! Genau wie ein wenig Feminismus! Tut mal was Politisches! Kauft ein Buch statt der nächsten billigen Handtasche!
Ich weiß, ich werde hierfür wieder eine Hand voll Leserinnen einbüßen. Aber wenn es gleichzeitig dazu führt, dass das Interesse anderer für das Projekt geweckt wird, ist das schon in Ordnung. ; )
NH