Samstag, 21. März 2015

So ziemlich



"Du bist ziemlich dick. Darf Dein Partner denn auch ziemlich dick sein ? Oder betreibst Du hier eine Art von Doppelmoral ?"(Nachricht an mich, erhalten bei finya.de am 20.03. um 18.05 Uhr von einem Mitglied mit dem Profilnamen "Firstforward", nach eigenen Angaben 44 Jahre alt, Profil ohne Foto - die liebe ich ja ohnehin immer ganz besonders.)


Man könnte weinen. Wenn es nicht so komisch wäre. Und ja - es wird wirklich höchste Zeit, Worten auch Taten folgen zu lassen und endlich alle meine Profile auf Dating-Plattformen platt zu machen, bevor sie mich doch noch schaffen.  
Natürlich habe ich Fuckfucker oderwieauchimmer nicht direkt geantwortet, sondern habe ihn nur geblockt. Aber ich werde seine Frage beantworten. Hier. Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass sie vielen auf den ersten Blick gar nicht so abwegig und anmaßend vorkommt, wie sie tatsächlich ist. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass viele Leute unbedarfterweise sagen würden, dass man "sowas" doch durchaus auch mal fragen dürfen muss.
Also:
Erstens: Dicke haben selbstverständlich keinerlei Verpflichtung, andere Dicke attraktiv zu finden. Schon gar nicht als potentielle Partner. So wie für jemanden mit blauen Augen oder langen Haaren oder großen Füßen ganz sicher keine Obligation besteht, sich zu Partnern mit blauen Augen, langen Haare oder großen Füßen hingezogen zu fühlen. Im Hinblick auf Vorlieben bei der Partnerwahl Moral ins Spiel zu bringen (so es sich nicht um Pädophilie handelt), passiert meiner Erfahrung nach nur Menschen, die noch viel, viel, viel verbitterter sind als ich. Wir alle sind jedoch sehr wohl dazu verpflichtet, andere nicht auf der Basis körperlicher Eigenschaften herabzusetzen, zu diskriminieren und ihrer Würde zu berauben.
Zweitens bin ich tatsächlich nicht dumm genug, um nicht ziemlich genau zu verstehen, was der unsympathische Steller der vorangestellten Frage tatsächlich gemeint hat: Der Frager findet schlicht, dass Dicke hässlich sind. Um sich überhaupt mit ihnen abzugeben, muss man in seinem Universum schon ganz gehörig Toleranz und Milde mitbringen, um dann erfüllt von Edelmut über die ekelerregende Hülle hinwegzusehen und sich womöglich für innere Werte zu interessieren. Und wenn Dicke einen solch enormen Kraftakt von anderen verlangen, werden sie ja wohl bereit sein, diesen ebenfalls auf sich zu nehmen. Was da außerdem ganz deutlich mitschwingt ist dieses: Wer hässlich ist, kann nicht einfach ankommen und womöglich mehr verlangen, als ihm zusteht. Denn es steht Hässlichen nun einmal nicht viel zu. Am besten bleiben sie also ohnehin gleich unter sich.
Tja. Was soll man dazu sagen? Zunächst siehe natürlich „Erstens“. Und dann erlaube ich mir, hier auf einen offensichtlichen und zutiefst egozentrischen, aber natürlich oft gemachten Denkfehler hinzuweisen: Denn das, was ich selbst hässlich finde, muss noch lange nicht für den Rest der Welt auch hässlich sein…Aber natürlich war ich all meinen Fettliebhabern immer ausgesprochen dankbar, dass sie sich so großzügig überwunden haben, mir ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken, obwohl sie selbst so gar nicht dick und hässlich waren. ; ) Allerdings ist es ja auch längst kein Geheimnis mehr, dass ich dieser Tage sehr viel mehr Probleme habe, meine inneren Werte dauerhaft an den Mann zu bringen, als meine äußeren.
Damit drittens keiner auf die verwirrte, nörgelnde Idee kommt, ich würde mich vor einer persönlichen Antwort drücken: Klar könnte mein Partner dick sein. Er könnte aber auch muskulös oder dünn sein. Denn ich gucke zuerst in Gesichter und Augen. Und dann auf Hände. Dann kommt die Stimme. Der Geruch. Und dann das Gehirn. Wenn ich all das wirklich will, will ich vermutlich auch den Rest. Denn das ist dann ohnehin schon ein Lottogewinn.
Und viertens habe ich das dringende Bedürfnis, vorzuschlagen, dass Idioten endlich unter sich bleiben sollten. Zu ihrem eigenen Besten. Denn dann müssen sie auch unter dem Rest von uns nicht immer so schrecklich leiden.

NH

Follow me around 20: A day in the life...

...ist ja auch so eine beliebte Vlogging-Kategorie. Aber die meisten meiner Tage eignen sich wahrhaftig nicht für pastellige Selbstdarstellung in bewegten Bildern. Und wer würde schon ernsthaft meine alltägliche, kleinlich-säuerliche Wirklichkeit betrachten wollen? Vorsicht: Nichts für schwache Nerven. ; ) 

Um es noch einmal deutlich mit den Worten von Jack Nicholson in "A Few Good Men" zu sagen: "You can't handle the truth!"


Dienstag:

8:30 Bürste bleibt im Haar hängen, fliegt mir aus der Hand und durchs Badezimmer.

9:00 Kundin ist krank und nicht da. Ich stehe bei ihr vor der Tür. Offenbar hat sie früh am Morgen eine Nachricht auf meinem AB hinterlassen, die ich aber nicht abgehört habe.

9:20 Zurück zu Hause. Sehr gesprächiger Nachbar fängt mich auf der Auffahrt ab und berichtet über den Stand seiner Zahnfleischprobleme.

10:42 Tasche auf dem Beifahrersitz fällt in scharfer Kurve seitlich um.

10:53 Stau vorm Hauptbahnhof. Habe Telefonnummer von Kunden nicht dabei. Muss Mail schreiben, dass ich mich verspäte.

11:05 Muss jetzt dringend aufs Klo. Noch immer im Stau.

11:11 Krampf im linken Fuß.

11:35 Beim Kunden. Mir fehlt Material, das vermutlich aus der Tasche gefallen sein muss.

12:40 Beifahrersitz hakt, lässt sich nicht nach hinten schieben. Aber die verlorenen Unterlagen liegen darunter.

12:42 Rüchwärtsgang hakt auch.

12.50 Essen im Auto. Sandwich-Soße am Jackenärmel.

12.51 Stelle fest, dass ich einen Anruf verpasst habe. Private Nummer. Nun kann ich mich für immer fragen, wer das wohl war.

13:21 Bauchschmerzen. Ziemlich stark sogar.

16:50 Bleibe bei Gang durch fremdes Gartentor am Riegel hängen. Loch in T-shirt.

18:15 Im Auto. SMS, dass ich meine Schreibmappe habe liegen lassen. Drehe um, fahre 20 Minuten zurück, um sie abzuholen.

20:37 Keine Blaubeeren bei Penny.

23:07 Klingeln im Ohr.


Donnerstag:

8:31 Kater reißt aus Übermut erst Loch in Schlafanzughose und dann in meine Wade.

8:36 Beim Aufreißen einer Tüte mit Katzenfutter spritzt mir die Soße ins Gesicht und auch sonst überall hin.

18:55 Ankunft in der "Galerie der Gegenwart" in Hamburg.

18:58 Bekomme mit meinem Ticket, für das ich 12 Euro bezahle (obwohl die Deutsche Bank die Ausstellung sponsort), einen orangefarbenen Aufkleber überreicht, den ich sichtbar auf mir anbringen soll.

18:59 Gerate mit übereifriger Kartenabreißerin in einen Streit, als sie mich "beraten" will, wo ich den Aufkleber am besten platziere. Sie ist beleidigt, weil ich ihren Rat nicht will. Und weil sie natürlich nicht begreift, dass ich orangefarbene Markierungen (aus vielerlei Gründen) an den Revers von Leuten echt daneben finde.

19:03 Kann das Klo nicht finden. Weil es im Treppenhaus kein Schild gibt.

19:09 Kein Abfallbehälter in der Kabine. Muss Müll in der Hand mit in den Vorraum tragen.

19:34 Einige deutsche Übersetzungen der englischen Titel sind mir aufgefallen. Sie sind nicht sehr gut/genau, bzw. im Prinzip falsch und verändern damit regelrecht die Bedeutung und/oder Auslegungsmöglichkeiten der betreffenden Kunstwerke.

ORLAN: "LE BAISER DE L'ARTISTE", 1977
Renate Bertlmann

19:44 Erstaunlich, dass eine Ausstellung der "Feministischen Avantgarde der 1970er Jahre" in der Hauptsache voll ist mit Darstellungen nackter Frauenkörper. Und mit Körpern, die durch ihre Besitzerinnen manipuliert und dargestellt werden (Selbstportraits). Körper, die selbst vor feministischem Hintergrund zumindest zum Teil noch immer zu posieren scheinen und irgendwie gefallen wollen (siehe besonders Hannah Wilke). Die hier dargestellte Anklage der damals und heute ja auch noch herrschenden Machtverhältnisse ist zahm. Die Wut ist eher ambivalent und mitunter, scheint sie sogar nach innen gerichtet. Stille Verwirrung bei der Bestimmung und Annäherung an die eigene Identität, Sexualität und Körperlichkeit, ein nicht enden wollendes, aus heutiger Sicht naiv anmutendes Abarbeiten von stereotypen Frauenrollen und Schönheitsstandards, sowie die Gefangenheit in eben jenen, bestimmen die Ausstellung. Die Werke sind, in Übereinstimmung mit fehlender Drastik, zumeist eher kleinformatig und schwarz-weiß. Eine radikalere Ausnahme ist Renate Bertlmann mit ihrer "Schwangeren Braut im Rollstuhl". Persönlich suche ich während meines Rundganges nach irgendeiner inneren Verbindung. Schließlich arbeite ich auch mit Selbstportraits, um mich selbst besser zu erkennen, und um mich in einer Situation der Rebellion zu stärken. Aber (fast) die ganze Zeit denke ich nur: Mehr Lärm! Mehr Farbe! Dann würde das alles vielleicht nicht so verdammt lange dauern! Mit der Freiheit. Man kann nicht rebellieren und kritisieren - und gleichzeitig nicht unangenehm auffallen. Und ja, wie am Meinungsbrett richtig bemerkt: Obendrein sind hier augenscheinlich nur weiße Künstlerinnen vertreten.

19:45 Am schwarzen Brett, an dem man auf roten Zetteln seine Meinung zur Ausstellung mitteilen soll, gibt es keine Stifte mehr in den Haltern. Kunstbewachungsdamen laufen hin und her und am Brett vorbei. Bleiben sogar davor stehen. Merken aber nichts.

20:02 Es gibt im Museumsshop so gut wie keine Postkartenmotive aus der Ausstellung. Nur den Katalog für 40 Euro. Den kaufe ich diesmal nicht.


 20:08 Kartenabreißerin grüßt nicht zum Abschied, wirft mir aber hämisch-giftigen Blick zu.

20:20 Gehe durch die Bahnhofshalle auf dem Weg zum Auto. Offenbar komplett zugedröhnter, gefährlich schwankender Herr taucht neben mir auf und schickt sich an, einen Schluck aus dem Strohhalm zu nehmen, der aus meinem Smoothie ragt.

20:25 Kaufe neuen Smoothie.

20:29 Gehirnfrost.

20:49 Im Auto. Sehe die Leuchtreklame für den Dom am Horner Kreisel. Ist wieder keiner da, der mit mir in der Geisterbahn knutscht...

NH