11 Programmpunkte auf der Reise zu dicker Selbstakzeptanz und zu einem friedlicheren Zusammenleben mit dem eigenen, dicken Körper:
1. Den eigenen Körper wahrnehmen / kennenlernen
Wie gut hast du dir deinen dicken Körper überhaupt in der letzten Zeit / den letzten Jahren angesehen? Weißt du ganz sicher, wie dein nackter Rücken aussieht? Kennst du deine Oberarme wirklich? Oder deine Knie? Die Unterseite des Busens? Den Verlauf der Dehnungstreifen und Krampfadern? Wie ist es mit der Innenseite der Oberschenkel? Oder der Poritze? Oder den Achseln?
Eine ehrliche Bestandsaufnahme des eigenen Körpers ist der erste Schritt zu dicker Selbstakzeptanz. Dazu sind mehrere größere und kleinere Spiegel natürlich hilfreich. Ich selbst habe mich am Anfang meiner Reise von allen Seiten fotografiert und gefilmt - auch die Stellen, die schwerer zugänglich sind. Es kann übrigens auch nicht schaden, sich mal so richtig zu beschnuppern.
Wer besonders gründlich sein will, kann ein kurzes "Reisetagebuch" führen: Wie sieht es aus in den Achseln? Sind da Narben vom Rasieren, von denen man nichts wusste? Ist die Farbe der Haut etwas dunkler? etc.
Der Zweck der Übung ist folgender: Man kann nur wirksam akzeptieren, was man auch kennt. Außerdem stehen die Chancen gut, dass diese Art der Betrachtung aus dem gefühlt unförmigen, unbekannten Monsterkörper wieder einen guten Bekannten macht, der ganz bestimmt nicht überall so grauslich ist, wie man ihn für lange Zeit zuvor verbucht hat. Selbst das, was man nicht schön findet, verdient es, betrachtet und beschrieben zu werden. So wie man es auf einer tatsächlichen Reise auch tut.
Das Beste: Man gewöhnt sich an den Anblick der eigenen dicken Körperlandschaft, wenn man sie regelmäßig wahrnimmt. Der Anblick wird "normal". Und was wir "normal" finden, TATATAAA, finden wir automatisch irgendwann auch nicht mehr hässlich.
2. Vorbilder suchen
Einige Jahre bevor ich mich entschied, mich dem Schlankheitsterror zu entziehen, saß ich in einem Café und der Kaffee wurde von einer wirklich coolen, hübschen, jungen und sehr dicken Kellnerin serviert. Sie war tätowiert und hatte ein paar Piercings im Gesicht. Sie hatte braune, hochgezwirbelte Haare, einen sehr großen Busen unter dem engen, weißen T-shirt und trug abgewetzte Birkenstock-Sandalen. Ihre Fußnägel waren dunkel lackiert.Sie war nicht einmal besonders freundlich, sondern eher ein wenig genervt. Aber sie war vermutlich (und leider) die allererste dicke Frau, bei der ich die Körperfülle nicht als störend empfand, sondern als stimmiges und dazugehöriges Merkmal ihrer Erscheinung. Ich weiß noch, dass ich zu meiner Mutter sagte: "Die ist aber hübsch." Und meine Mutter drehte sich ein wenig überrascht um, guckte und sagte dann: "Ja, stimmt." Und ich dachte damals: "Wenn es möglich ist, dick und cool zu sein - warum schaffe ich das nicht?" Ich erinnere mich an all das so genau, weil ich tatsächlich einen Tagebucheintrag über die Begegnung verfasst habe - auf meinem Blackberry (so lange ist das schon her), noch während ich dort am Tisch saß. Trotzdem war ich gedanklich noch immer im Diät-Modus.
Das Internet ist eine ganz besonders gute Quelle, um sich dicke Vorbilder zu suchen und zu finden. Fatshion- und Fettakzeptanzblogs und- vlogs sind voll mit dicken, schicken und mutigen Frauen, die öffentlich interessante Dinge tun und wissen. Auch die Zahl dicker Popkultur-Vorbilder hat in den letzten Jahren zugenommen - ich persönlich verdanke ja Beth Dito und Melissa McCarthy eine ganze Menge.
Wenn man sich mit attraktiven, dicken Vorbildern / Bildern umgibt, passieren drei Dinge: Man gewöhnt sich daran, dass dicke Körper überhaupt auf positive Weise sichtbar gemacht und in den Vordergrund gerückt werden. Der eigene, innere Richter verändert seine Kriterien, und man gewöhnt sich an die Idee, dass dick gut/erfolgreich/schön/etc. ist. Das führt irgendwann zu der Schlussfolgerung, dass das eigene Fett auch schön und erfolgreich sein kann.
3. Andere dicke Körper wahrnehmen
Andere dicke Körper im wahren Leben oder in Büchern und im Internet zu betrachten, ist ein sinnvolle Übung, weil man feststellt, dass es natürgemäß recht viele Ähnlichkeiten gibt. Und an anderen Körpern findet man Dehnungstreifen mitunter weniger "unansehnlich", als an sich selbst. Dabei sind es im Prinzip die gleichen Streifen. Wieder geht es um eine Veränderung der Perspektive hin zu "Normalität". Wer sich regelmäßig andere Körper, die gängigen Schönheitsstandards nicht entsprechen, genau ansieht, stellt fest, dass es "normal" ist, diesen Standards nicht zu entsprechen.
4. Lesen, Lesen, Lesen
Teil meines Einstiegs in die dicke Selbstakzeptanz war die eifrige Lektüre von einschlägigen Blogs und Büchern zum Thema Fettakzeptanz, die mich dankenswerter Weise und üppig mit Strategien, Informationen und moralischer Unterstützung versorgt haben. Leider ist Fettakzeptanz bisher kein wirklich großes Thema in Deutschland, so dass die folgende kurze Liste mit "Klassikern" zum Thema ausschließlich auf Englisch zu haben ist.
Lesley Kinzel: Two Hole Cakes
Virgie Tovar (Hrsg.): Hot & Heavy
Golda Poretsky: Stop Dieting Now
Wendy Shanker: The Fat Girl's Guide to Life
Marilyn Wann: Fat!So?
Rebecca Jane Weinstein: Fat Sex
Kate Harding, Marianne Kirby: Lessons from the Fat-O-Sphere
5. Sex
Ich habe immer wieder beschrieben, was für eine große Hilfe die Begegnung mit Fettliebhabern dabei war, meinen dicken Körper selbst schön zu finden und mich auch in sexueller Hinsicht nicht mehr für ihn zu schämen, sondern regelrecht stolz auf ihn zu sein. Kontakt zu gutaussehenden, respektvollen und leidenschaftlichen Fettliebhabern findet frau im Internet in der Regel ohne große Schwierigkeiten. Natürlich sind gesunder Menschenverstand, konsequente Selbstfürsorge und Klarheit über die eigenen Wünsche und Grenzen, sowie angemessene Gründlichkeit bei der Auswahl immer essentielle Voraussetzungen beim Online-Dating.
Es lohnt sich sehr, Sex mit jemandem zu haben, der den oftmals lang schamhaft verhüllten und diffarmierten Körper einfach nur super findet. Es ist eine unbezahlbare Erfahrung, die ich jeder von unserer fettphobischen Kultur entmutigten Frau wünsche.
Wer sich in einer Partnerschaft befindet, in der das Gegenüber eine im Grunde negative/neutrale Einstellung zum Fett hat, sollte die Sache unbedingt auf den Tisch bringen. Partner, die einem nicht das Gefühl geben, dass man attraktiv ist, sind nicht gut. Für niemanden! Und ganz besonders nicht für jemanden, der um Selbstakzeptanz kämpft.
In einigen, komplett anders gelagerten Fällen könnte sich bei einem offenen Grundsatzgespräch herausstellen, dass der Partner das Fett lieber mag, als man selbst geglaubt hat. Das ist dann ja auch mal gut zu wissen. ; )
6. Intuitives Essen
Dicke Selbstakzeptanz und Diät-Programme schließen einander aus. Ich kann nicht mit einem Bein im Diät-Land stehen bleiben, wenn ich eine wirkliche Veränderung meines Lebens und meiner Einstellung zu mir selbst erreichen will. Diäten scheitern. Scheitern fühlt zu Schuldgefühlen, und Schuldgefühle fahren das Selbstwertgefühl in den Keller. Das kann man sich auf der Reise zu dicker Selbstakzeptanz schlicht nicht leisten.
Dicke Selbstakzeptanz heißt, sich heute für den Körper zu entscheiden, den man heute hat, und fortan gut zu ihm zu sein. Das bedeutet, ihn nicht mehr mit Verachtung zu strafen und ihn gedanklich zu beschimpfen. Das Bedeutet aber auch, ihn nicht mehr phasenweise hungern zu lassen, oder mit klumpigen Weight-Watchers-Fertiggerichten zu quälen.
Ich habe ja, wie berichtet, sehr gute Erfahrungen mit "intuitivem Essen" gemacht. Die Regeln des intuitiven Essens sind sehr einfach: Iss das, was du willst, wann du es willst und höre auf, wenn du satt bist. Nein, man wird sich in Zukunft nicht nur von Kartoffelchips ernähren. Das ist die Erfahrung so ziemlich aller intuitiven Esserinnen, von denen ich gelesen oder mit denen ich gesprochen habe: Wer isst, was er will, stellt fest, dass der Körper sehr viele verschiedene Sachen will, wenn er alles haben DARF. Und nein, er wird auch bestimmt nicht so groß wie ein Zeppelin, weil ein Körper, der alles essen darf, keine Angst vor Hungersnöten hat, und außerdem nicht durch Schuldgefühle bei jedem Bissen gestresst ist, gar nicht mehr alles essen WILL.
7. Sich endlich Wut gestatten und Angriffe abwehren
Angreifer lauern überall. Ich habe sogar schon von meinen Fettliebhabern gesagt bekommen, dass sie ein wenig auf ihre Figur achten müssen und lieber keinen Apfelkuchen wollen. Freundinnen und Kollegen jammern auch gern über ihre schier unförmigen Körper, während man dick daneben steht. Verwandte und Partner werden leicht mal etwas deutlicher und persönlicher, wenn es darum geht, das Fett von Angehörigen zu kritisieren und Veränderungen anzumahnen. Und offenbar gibt es auch Idioten auf freier Wildbahn, die einen im Supermarkt über Ernährung belehren wollen, die Beleidigungen über die Straße schreien oder am Nebentisch tuscheln. Ärzte können ja auch oft nur schwer mit ihren Vorurteilen hinterm Berg halten.
Es ist an der Zeit, sich klar zu machen, dass man eine solch respekt- und oft gedankenlose Behandlung durch die Umwelt NICHT VERDIENT. Die anderen sind die, die falsch liegen. Sie haben die Regeln einer fettphobischen Gesellschaft so stark verinnerlicht, dass ihnen Feingefühl und Kinderstube in den beschriebenen Situationen offenbar komplett abhanden kommen. Und das muss man nicht hinnehmen. Das muss man ansprechen.
Man könnte damit beginnen, das Gegenüber in ruhigem Ton darüber zu informieren, dass man sich in Zukunft nicht mehr über die Bekämpfung von Fett auseinandersetzen wird, weil man sich so OK findet, wie man ist. Man kann auch (Fremden) mitteilen, wie mies man sich eigentlich jedes Mal fühlt, wenn jemand negative Bemerkungen über Dicke macht. Eine anschließende Diskussion ist übrigens nicht nötig und auch nicht wünschenswert. Tatsächlich fordert man hier nämlich nur die Einstellung eines Verhaltens, das man niemals so lange hätte aushalten sollen.
Man kann sich alternativ auch über die Angreifer lustig machen - man kann z.B. der jammernden Freundin zustimmen, wenn sie wieder über ihre Oberarme nörgelt und sie ausfragen, was sie denn nun endlich dagegen zu tun gedenkt. Mal sehen, wie lange es dauert, bis sie was merkt.
Wer sich im Ringen um Selbstakzeptanz so richtig weit zurückgeworfen fühlen will, muss neben allem anderen natürlich nur den Fernseher einstellen, oder eine Zeitschrift aufschlagen. Mainstream-Medien sind etwas, das man als Dicker im Interesse des eigenen Selbstbewusstseins ohnehin nur sehr sorgfältig ausgewählt nutzen sollte. Und dabei sollte man gedanklich immer seine kugelsichere Weste tragen.
8. Regelmäßige Angreifer aussortieren
Manchmal dauert es etwas, bis das Umfeld begreift, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Bemerkungen über Diäten und Fett gehen vielen Menschen reflexartig über die Lippen, und oft fällt es ihnen ausgesprochen schwer, damit aufzuhören - selbst wenn sie es wollen. Wenn sie verstehen, worum es geht und sich bemühen, ist schon sehr viel gewonnen. Bei allen, die das nicht tun, muss man sich irgendwann fragen, wie viel Zeit man noch mit ihnen verbringen kann. Dicke Selbstakzeptanz ist schwer und kein Spiel, und es hängt viel davon ab.
9. Mit anderen Dicken kommunizieren
Der Austausch mit anderen "Betroffenen" hilft immer! Dicke Biographien ähneln sich oft auf erstaunliche Weise, und es ist keine Neuigkeit, dass es schlicht gut tut, zu wissen, dass man mit seinen negativen Erfahrungen nicht allein ist. Auch hier dürfte das Internet wieder eine bevorzugte Anlaufstelle sein, aber es gibt natürlich auch analog dicke Stammtische, Selbsthilfegruppen etc.. Ich selbst trage mich ja auch immer noch mit dem Gedanken, irgendwann einen "Club der dicken Damen" zu gründen.
10. Den Kleiderschrank überarbeiten
Ein Kleiderschrank, der voll ist mit Kleidern, die einem erst in schlanker Zukunft passen, ist voll mit Schuld und Versagen und Negativität - egal wie schön die Kleider sind. Weg damit! Die Umgestaltung meiner Garderobe war ein ganz entscheidender Schritt für mich. Schöne Kleidung, die man gern anzieht, ist Wertschätzung, die der Körper endlich verdient hat. Ich habe heute (fast*) nur noch Kleidungsstücke im Schrank, die ALLE der folgenden vier Kriterien erfüllen:
1. Ich finde sie schön.
2. Sie passen mir gut.
3. Sie sind bequem.
4. Sie sind heil**.
Mein Ziel war/ist es außerdem, mich bei meiner Kleiderwahl zukünftig "mehr zu trauen" (enger, bunter, ausgefallener), und dadurch sichtbarer zu werden. Denn öffentliche Sichtbarkeit ist für Dicke oft eine regelrechte Mutprobe. Und eine wichtige Übung auf dem Weg zur Selbstakzeptanz.
*Bis auf ein paar Erb- und Erinnerungsstücke.
**Das ist in der Tat eine große Sache, denn ich habe ja schon mal über die Hosen mit den zerschrabbelten Stellen zwischen den Oberschenkeln gesprochen, und wie schmerzhaft das werden kann.
11. Aktiv werden (in jeder Hinsicht)
All die vorangegangenen Punkte erfordern, dass man den Mut zusammennimmt, den es braucht, um seine Komfortzone zu verlassen. Tatsächlich ist das aber etwas, was man trainieren kann, und was bei regelmäßiger Übung immer leichter wird. Man sollte dann bei den oben beschriebenen Punkten auch nicht Halt machen. Man sollte sich und seinen dicken Körper ins Leben stürzen, und sich immer mehr trauen. Etwas, was vielen Dicken große Schwierigkeiten macht, ist z.B. der Gang ins öffentliche Schwimmbad. Vermeidung ist nur selten eine befriedigende Lösung.
Aber weil man sich selbst schneller akzeptieren wird, als die Umwelt, muss man als dicker Mensch auch in Zukunft oft Mut aufbringen, um öffentlich das zu tun, was man will: Schwimmen, Tanzen, Vorträge halten, bunte Hüte tragen, seine Meinung sagen, Eis essen. Aber man muss es tun, weil man das Leben nicht vermeiden kann, ohne es zu vertun.
Wie gesagt: Es wird alles leichter. Selbstakzeptanz führt zu mehr Mut, und mehr bestandene Mutproben zu noch mehr Selbstakzeptanz.
NH