Sonntag, 26. Juni 2016

Follow me around 48: Traurige Tage


Ich bin mir sicher, dass Gustav bis dahin schon etwas geahnt hat, aber als ich sein Terrassenkörbchen reingeholt und mit seinem Futter und Spielzeug gefüllt habe, wusste er es auch ganz sicher - irgendetwas Einschneidendes würde passieren. Er lag lang auf dem Teppich und keuchte ein wenig. Ich weiß nicht, ob wegen der Hitze, oder ob ihn die Panik ergriff.

Er hörte auf, sich zu beschweren, dass er nicht mehr raus durfte und ging plötzlich auch Corbinian aus dem Weg. Der entspannte sich zusehends, als ob er begriffen hatte, dass es nicht sein Koffer war, der gepackt worden war und jetzt auf die Abreise wartete.

Erst vor einigen Tagen hatte ich durch Zufall herausbekommen, was Gustavs Lieblingsessen ist - gekochtes Huhn. Damit habe ich ihn dann bis zum Aufbruch den Tag über vollgestopft. Ich weiß, dass die Chancen, dass ihm so bald wieder jemand Huhn kocht, nicht sehr groß sind. So freundlich und fürsorglich die Leute, die ihn aufgenommen haben auch sein mögen, so viel Aufwand wie bei mir, wird dort vermutlich nicht betrieben werden.

Er konnte nicht mehr bleiben.

Er hat es sich selbst vermasselt. Er hätte Corbinian einfach aus dem Weg gehen müssen, anstatt ihn zu triezen, ihn im Garten und in der Wohnung zu scheuchen und zuletzt sogar richtig zu attackieren. Corbinian hatte sich in den letzten Tagen nur noch verkrochen. In Ecken oder auf Schränken. Er hat auch nur noch auf dem Tisch gefressen, um Gustav stets im Auge zu behalten. Und er hatte sich nicht mehr in den Garten getraut, weil Gustav ihn auch da verfolgte. Da wird man selbst zutiefst unvernünftig und verlangt Vernunft vom Tier: "Warum bist du nur so dumm!? Warum, warum, warum nur!? Hör doch einfach damit auf, und du kannst für immer bei uns bleiben!!" Und ich hätte es mir so gewünscht, dass er bleibt.

Als ich mich dann angesichts der verzweifelten Lage, in der sich Corbinian befand, steinschweren Herzens und heulend entschieden hatte, Gustav ins Tierheim zu bringen, und erst mit dem Tierheim Süderstraße und danach mit der Göttin und der Welt telefonierte, stellte ich fest, dass Tierheime ganz offensichtlich nicht in jedem Fall für Tiere zuständig sind, sondern in der Regel eher dafür, sie sich vom Leib zu halten: "Damit haben wir ja gaaar nichts zu tun!", "Da sind wir ja gaaar nicht zuständig!", "Da sind Sie bei uns ja gaaanz falsch!". Der Ton gedehnt bis patzig. Der Hamburger Tierschutzverein herrschte mich an, dass meine 22 Jahre Mitgliedschaft hier überhaupt keinen Unterschied machen würden. Vielleicht hätte ich American Express um Hilfe bitten sollen ("Membership has its privileges") - weniger sinnlos und unerfreulich wäre das auf jeden Fall nicht geworden.

Man ist verzweifelt und ziemlich allein mit einem echten Problem, und es ist mal wieder niemand zuständig. Alle anderen sind zuständig. Sollen die doch machen. Die Polizei zumindest hätte Gustav dann doch abgeholt, und wenn die ihn ins Heim bringt, so erkärte mir ein hilfreicher Beamter, "müssen die das Tier auch aufnehmen". Aber ich wollte den Kater eigentlich ja ohnehin gar nicht so recht hergeben - und ihn schon gar nicht verhaften lassen.

Wer mir dann wirklich half, waren zwei Mitarbeiterinnen unserer Tierarztpraxis. Eine von ihnen hat ihre Pferde auf einem Hof untergebracht, der Gustav dann nach einem Anruf von ihr ein Zuhause angeboten hat. Dort wohnt er zukünftig umgeben von Kühen, Schafen, Pferden und Reitern. "Bekommt er dort denn auch Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten?" - "Ja, natürlich!" - "Gibt es denn dort noch mehr Katzen, wo er doch gerade solche Probleme mit Corbi hatte?" - "Ja, eine andere Katze. Aber die wohnt im anderen Haus auf dem Gelände. Und auf dem Hof können die sich gut aus dem Weg gehen." - "Er wohnt also auch drinnen?" - "Ja, er kann raus und rein. Und er bleibt auch erst einmal ein paar Tage drinnen, um sich an die neuen Menschen zu gewöhnen." - "Und er wird auch ein ruhiges Plätzchen speziell für sich haben?" - "Ja!"

Er wird seinen Namen behalten, er konnte sein Körbchen, sein Spielzeug und sein Futter mitnehmen. Er bekam vor seiner Abreise einen frischen Chip (weil er bis dahin keinen gehabt hatte), und ich kann mich in ein paar Tagen in der Praxis erkundigen, wie er sich eingelebt hat...eigentlich hatten wir unfassbares Glück. Trotzdem rannen mir während der Übergabe am Freitagabend ohne Unterlass die Tränen über das Gesicht. Es war kein wirkliches Weinen. Kein Schluchzen und Rotzen mehr. Vielmehr ein stetes Rinnsal, wie aus einem Wasserhahn.

Obwohl sie furchtbar nett waren, müssen sie mich in der Praxis für einen wunderlichen und komplett überemotionalen Kontrollfreak halten.Und buchstäblich sowie auch ganz allgemein für nicht ganz dicht. Ich weiß, dass sie es entweder schon tun, oder kurz davor waren. Und ich würde es ihnen nicht übel nehmen. Ich betrachte mich im Spiegel und denke, vielleicht bin ich es ja auch nicht. Dicht. Aber ich habe auch immer wieder das kleine entsetzte Gesichtchen von Gustav vor Augen, das mich auf der Fahrt in die neue, unbekannte Zukunft vom Nebensitz verzweifelt und anklagend anstarrte und anschrie, während er gleichzeitig vor Angst den Katzenkorb mit Pipi tränkte.

Und dann beobachte ich Corbinian, der sich in seinem Zuhause und im Garten scheinbar wieder wohl fühlt und bereits am Freitag alles darin innerhalb von ein paar Stunden für sich zurückerobert hat. Ich kann mir trotzdem nicht helfen - fast halte ich es für möglich, dass Gustav jetzt am Ende sogar das bessere Katzenleben erwartet. In unaufgeregter Umgebung, mit relativ großer Freiheit und im Kontakt mit mehreren bodenständigen Menschen, während Corbi weiterhin ziemlich unmittelbar und ungefiltert mir, meinen Neurosen und meiner schier bodenlosen Verlustangst ausgesetzt sein wird.

...

Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt.


NH

Sonntag, 12. Juni 2016

Follow me around 47: Räumungen


Plötzlich habe ich so viel Platz, dass ich gar nicht weiß, wohin damit. Ich habe quasi gar keinen Platz für den Platz. Ja, Platz kann man natürlich bewegen und verschieben. Ich tue das bereits seit Tagen - und nun auch schon den ganzen Nachmittag. Und ich habe schlicht überhaupt gar keine Übung darin, Teile meines Raumes einfach leerstehen zu lassen. Es verwirrt mich regelrecht.

Aus den angepeilten 500 Gegenständen, die ja innerhalb eines Monats meinen Haushalt verlassen sollten, sind nun, mit mehrwöchiger Verspätung, am heutigen Tag 700 geworden. Das hängt auch maßgeblich mit den ca. 250 Büchern zusammen, die ich in den letzten paar Tagen habe gehen lassen, und obwohl das nur gut 10% der Bibliothek waren, macht sich das Verschwinden der Dinge im Ganzen nun doch langsam bemerkbar.

Ich bin mit der Verwaltung eines Übermaßes an Dingen beschäftigt, so lange ich denken kann. Ich habe bereits als Kind sortiert und umgeräumt und organisiert und gelagert. Wenn Dinge gingen, verhielt es sich ironischerweise immer ganz genauso wie mit meinem Gewicht nach Diäten - sie kamen multipliziert wieder zurück.

Als ich noch zu Hause wohnte, war ich außerdem involviert in die Verwaltung der Dinge meiner Mutter. Wie viele Nachkriegskinder hatte sie eine Hang dazu, Gegenstände zu horten, "weil man sie ja irgendwann noch einmal brauchen könnte." Das führte auch zu ewigen Kreisläufen des vernunftgetriebenen Aussortierens und des anschließenden, fast trotzig anmutenden Wiederanhäufens. In der Doppelgarage, die zur Wohnung gehörte, die wir einige Jahre bewohnten, nachdem sich meine Eltern getrennt hatten, war jedenfalls nicht einen Tag lang Platz für ein Auto.

Meine Mutter wohnte vor ihrem Tod allein in einem kleinen Haus auf ca. 120 Quadratmetern. Ihre Wohnräume waren nicht vollgestopft mit Kram. Er lag nicht überall offen herum. Das wahre Ausmaß ihres Festhaltens an Gegenständen eröffnete sich mir erst nach ihrem Tod, als ich ihre Schränke öffnete und zwei Monate lang jedes einzelne ihrer Besitztümer in die Hand nahm, bevor ich entschied, was damit geschehen sollte.

Sie besaß ungefähr 50 BHs. Weil man nie weiß, ob man nicht auf der Straße umkippt und ins Krankenhaus muss, war es in ihrer Welt eine Frage der Ehre, auch in einem medizinischen Notfall unter keinen Umständen in abgewetzten Unterkleidern erwischt zu werden. Aber die alten Dinge wurden mal wieder nicht weggeworfen, sondern für schlechte Zeiten aufgehoben. Die älteste Dose in den Tiefen ihres Vorratsschrankes war übrigens 10 Jahre alt.

Ihr Haus beherbergte neben allem anderen auch einige Sammlungen: Eine Glassammlung, eine Hühnergöttersammlung (Steine, die natürlicherweise ein Loch haben), eine Stuhlsammlung, eine Sammlung chinesischer Glücksbringer,...irgendwann fand ich mich am Glascontainer wieder und warf - quasi in Selbstverteidigung - Cocktailgläser aus den 50er Jahren hinein. Denn man kann halt nur so viele Kisten mit Spenden überall in der Stadt anliefern.

Und ich fand Gebirge aus Bett- und Tischwäsche - hoch und scharf gebügelte Kante auf Kante aufgestapelt. Der Besitzerinnenstolz, die Tiefe der Verschriebenheit und der Bemühungen im Dienste der Dinge erschütterte und rührte mich zugleich. Einen Stapel antiker Leinenhandtücher habe ich damals, so wie er war, mitgenommen und in meinen Schrank gelegt. Er war ein Denkmal an die Liebe für die Dinge, die im Leben meiner Mutter immer eine übergeordnete Rolle spielten. In der Zwischenzeit bin ich dazu übergegangen, die streng aufbereiteten Handtücher in der Küche zu verwenden und habe das Denkmal damit aufgelöst.

Sich jetzt noch einmal gezielt und systematisch von Gegenständen zu trennen, ist auch deshalb weiterhin so anstrengend, weil die Dinge nach wie vor mit Gefühlen und Erinnerungen und Plänen aufgeladen sind. Und je mehr ich meine Besitztümer und vor allem auch die ererbten gehen lasse, desto schwerer und emotional geladener werden die Entscheidungen für oder gegen die Dinge, denn vieles von dem, was jetzt wieder zur Disposition steht, habe ich in einem vorherigen Aussortierungsprozess nicht aufgegeben, und dafür gab es zum jeweiligen Zeitraum eben Gründe, die jetzt vielleicht weniger schwer wiegen, aber sich deswegen noch lang nicht komplett aufgelöst haben. Seit zwei Tagen habe ich nun einen blasigen, juckenden Ausschlag an beiden Händen, der, wenn man dem Internet glauben darf, zu einem erheblichen Anteil stressinduziert sein dürfte. Mit den Dingen gerät einem halt auch die eigene Geschichte wieder in die Finger.

Aber es muss sein. 

In diesem Jahr gewinne ich ihn ein für allemal - den Kampf gegen die Macht der Dinge. Am Ende dieses Jahres bin ich nur noch von Dingen umgeben, die mir wirklich gut tun, und deren Anwesenheit einen Zweck und Sinn hat. Außerdem werden es nur noch so viele Dinge sein, dass der Alltag komplett reibungslos und störungsfrei organisiert werden kann. Dazu muss übrigens noch sehr viel mehr Kram hier raus, denn: "You cannot organize the clutter, and if you want to live an organized life, you have to minimize the things that you have."* (Kathy Roberts, TheTidyTutor.com)

Wissenschaftlich erforscht und herausgefunden wurde in der Tat, dass Frauen auf unübersichtliche Räume voll mit Kram und Unordnung mit einer vermehrten Ausschüttung von Stresshormonen reagieren. Männer tun das übrigens nicht. (UCLA)

Wobei man bei einigen Dingen schon eine geistesblitzartige Eingebung haben muss, um sie überhaupt eines schönen Tages als überflüssiges Gerümpel zu erkennen. Bei mir ging heute nun endlich der hässliche Mixer, in dem der letzte Smoothie vor ungezählten Monden angerührt wurde. Smoothies my ass...


*Du kannst Krimskrams nicht organisieren, und wenn du ein organisiertes Leben führen willst, musst du die Dinge, die du hast, minimieren."

NH