Ich bin mir sicher, dass Gustav bis dahin schon etwas geahnt hat, aber als ich sein Terrassenkörbchen reingeholt und mit seinem Futter und Spielzeug gefüllt habe, wusste er es auch ganz sicher - irgendetwas Einschneidendes würde passieren. Er lag lang auf dem Teppich und keuchte ein wenig. Ich weiß nicht, ob wegen der Hitze, oder ob ihn die Panik ergriff.
Er hörte auf, sich zu beschweren, dass er nicht mehr raus durfte und ging plötzlich auch Corbinian aus dem Weg. Der entspannte sich zusehends, als ob er begriffen hatte, dass es nicht sein Koffer war, der gepackt worden war und jetzt auf die Abreise wartete.
Erst vor einigen Tagen hatte ich durch Zufall herausbekommen, was Gustavs Lieblingsessen ist - gekochtes Huhn. Damit habe ich ihn dann bis zum Aufbruch den Tag über vollgestopft. Ich weiß, dass die Chancen, dass ihm so bald wieder jemand Huhn kocht, nicht sehr groß sind. So freundlich und fürsorglich die Leute, die ihn aufgenommen haben auch sein mögen, so viel Aufwand wie bei mir, wird dort vermutlich nicht betrieben werden.
Er konnte nicht mehr bleiben.
Er hat es sich selbst vermasselt. Er hätte Corbinian einfach aus dem Weg gehen müssen, anstatt ihn zu triezen, ihn im Garten und in der Wohnung zu scheuchen und zuletzt sogar richtig zu attackieren. Corbinian hatte sich in den letzten Tagen nur noch verkrochen. In Ecken oder auf Schränken. Er hat auch nur noch auf dem Tisch gefressen, um Gustav stets im Auge zu behalten. Und er hatte sich nicht mehr in den Garten getraut, weil Gustav ihn auch da verfolgte. Da wird man selbst zutiefst unvernünftig und verlangt Vernunft vom Tier: "Warum bist du nur so dumm!? Warum, warum, warum nur!? Hör doch einfach damit auf, und du kannst für immer bei uns bleiben!!" Und ich hätte es mir so gewünscht, dass er bleibt.
Als ich mich dann angesichts der verzweifelten Lage, in der sich Corbinian befand, steinschweren Herzens und heulend entschieden hatte, Gustav ins Tierheim zu bringen, und erst mit dem Tierheim Süderstraße und danach mit der Göttin und der Welt telefonierte, stellte ich fest, dass Tierheime ganz offensichtlich nicht in jedem Fall für Tiere zuständig sind, sondern in der Regel eher dafür, sie sich vom Leib zu halten: "Damit haben wir ja gaaar nichts zu tun!", "Da sind wir ja gaaar nicht zuständig!", "Da sind Sie bei uns ja gaaanz falsch!". Der Ton gedehnt bis patzig. Der Hamburger Tierschutzverein herrschte mich an, dass meine 22 Jahre Mitgliedschaft hier überhaupt keinen Unterschied machen würden. Vielleicht hätte ich American Express um Hilfe bitten sollen ("Membership has its privileges") - weniger sinnlos und unerfreulich wäre das auf jeden Fall nicht geworden.
Man ist verzweifelt und ziemlich allein mit einem echten Problem, und es ist mal wieder niemand zuständig. Alle anderen sind zuständig. Sollen die doch machen. Die Polizei zumindest hätte Gustav dann doch abgeholt, und wenn die ihn ins Heim bringt, so erkärte mir ein hilfreicher Beamter, "müssen die das Tier auch aufnehmen". Aber ich wollte den Kater eigentlich ja ohnehin gar nicht so recht hergeben - und ihn schon gar nicht verhaften lassen.
Wer mir dann wirklich half, waren zwei Mitarbeiterinnen unserer Tierarztpraxis. Eine von ihnen hat ihre Pferde auf einem Hof untergebracht, der Gustav dann nach einem Anruf von ihr ein Zuhause angeboten hat. Dort wohnt er zukünftig umgeben von Kühen, Schafen, Pferden und Reitern. "Bekommt er dort denn auch Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten?" - "Ja, natürlich!" - "Gibt es denn dort noch mehr Katzen, wo er doch gerade solche Probleme mit Corbi hatte?" - "Ja, eine andere Katze. Aber die wohnt im anderen Haus auf dem Gelände. Und auf dem Hof können die sich gut aus dem Weg gehen." - "Er wohnt also auch drinnen?" - "Ja, er kann raus und rein. Und er bleibt auch erst einmal ein paar Tage drinnen, um sich an die neuen Menschen zu gewöhnen." - "Und er wird auch ein ruhiges Plätzchen speziell für sich haben?" - "Ja!"
Er wird seinen Namen behalten, er konnte sein Körbchen, sein Spielzeug und sein Futter mitnehmen. Er bekam vor seiner Abreise einen frischen Chip (weil er bis dahin keinen gehabt hatte), und ich kann mich in ein paar Tagen in der Praxis erkundigen, wie er sich eingelebt hat...eigentlich hatten wir unfassbares Glück. Trotzdem rannen mir während der Übergabe am Freitagabend ohne Unterlass die Tränen über das Gesicht. Es war kein wirkliches Weinen. Kein Schluchzen und Rotzen mehr. Vielmehr ein stetes Rinnsal, wie aus einem Wasserhahn.
Obwohl sie furchtbar nett waren, müssen sie mich in der Praxis für einen wunderlichen und komplett überemotionalen Kontrollfreak halten.Und buchstäblich sowie auch ganz allgemein für nicht ganz dicht. Ich weiß, dass sie es entweder schon tun, oder kurz davor waren. Und ich würde es ihnen nicht übel nehmen. Ich betrachte mich im Spiegel und denke, vielleicht bin ich es ja auch nicht. Dicht. Aber ich habe auch immer wieder das kleine entsetzte Gesichtchen von Gustav vor Augen, das mich auf der Fahrt in die neue, unbekannte Zukunft vom Nebensitz verzweifelt und anklagend anstarrte und anschrie, während er gleichzeitig vor Angst den Katzenkorb mit Pipi tränkte.
Und dann beobachte ich Corbinian, der sich in seinem Zuhause und im Garten scheinbar wieder wohl fühlt und bereits am Freitag alles darin innerhalb von ein paar Stunden für sich zurückerobert hat. Ich kann mir trotzdem nicht helfen - fast halte ich es für möglich, dass Gustav jetzt am Ende sogar das bessere Katzenleben erwartet. In unaufgeregter Umgebung, mit relativ großer Freiheit und im Kontakt mit mehreren bodenständigen Menschen, während Corbi weiterhin ziemlich unmittelbar und ungefiltert mir, meinen Neurosen und meiner schier bodenlosen Verlustangst ausgesetzt sein wird.
...
Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt.
NH