Sonntag, 21. August 2016

Follow me around 51: Herbst wäre mir lieber

Angeblich soll es nächste Woche noch einmal heiß werden. Von mir aus muss das wirklich nicht mehr sein. So lange ich denken kann, atme ich immer auf, wenn das Licht gelber und milchiger wird, und ich zum ersten Mal im Jahr ganz sicher den Herbst riechen kann. Seit über zehn Jahren habe ich zu meinem persönlichen, gefühlten Herbstanfang immer das distinkte Bedürfnis, eine große Kanne süßen Tee zu kochen und einen Vicar Of Dibley-Marathon abzuhalten. Ohne Kuhmilch im Tee ist das allerdings nicht ganz so befriedigend, wie sonst.

1635 Gegenstände weniger

Und den gestrigen Samstag habe ich im Keller verbracht. Hin und wieder besuchten mich der Kater oder neugierige Nachbarn, die alle paar Stunden ausriefen "Du bist ja noch iiiimmer hier!" und die Gelegenheit nutzten, sich über ihr Zusammenleben mit ihrem eigenen Kram auszubreiten. Offenbar kann dazu jeder etwas beitragen. Allerdings hat offenbar kaum jemand so viele Kisten voll mit Weihnachts- und Osterdekoration, wie ich. Das Publikum staunte jedenfalls nicht schlecht. Und Herr Zeymer brachte mir am Ende eine Flasche Bebivita-Saft mit Eisen. Ich muss ausgesprochen bedürftig gewirkt haben. Und ich war dankbar für den gelegentlichen Small Talk. Es war irgendwie tröstlich. Ich bin zwar nicht von Leuten umgeben, mit denen ich zumeist wenig gemeinsam habe und die mir die meiste Zeit gehörig auf den Wecker gehen, aber allein bin ich hier im Haus nicht.

Dabei lief es nicht besonders gut.Von fünfzehn Kisten sind dreizehn noch da. Elf davon voll mit Weihnachtskugeln in jeder Form und Farbe (ich meine das so), Rehen, Eichhörnchen, Adventskalendern, verschneiten Häusern mit Beleuchtung und allem anderen. Mir war nicht klar, wie sehr die 
Feiertage und was sie atmosphärisch und in meiner Geschichte repräsentieren, an mir kleben. Natürlich nicht im religiösen Sinne. Sondern im Hinblick auf Idealvorstellungen. Insbesondere die Feiertage am Jahresende sind ja oft überfrachtet von Hoffnungen auf Harmonie, Ruhe und Frieden. Und diese innere Perfektion soll sich auch noch im Äußeren wiederspiegeln. Traditionell waren Erwartungen und Enttäuschungen im Angesicht der Realität in meiner Familie stets besonders hoch und groß. Wenn man hinzuzählt, dass die Weihnachtsfeierei vor allem für mich auch immer als Übergang ins neue, noch unbeschädigte Jahr und damit in eine frische und viel erfolgreiche Zukunft fungierten, wird mir noch deutlicher, warum ich erstens selbst so viel Weihnachtskrempel habe (denn das meiste davon stammt nicht mehr aus dem Nachlass meiner Mutter), und warum ich ihn auch jetzt nicht wirklich rauswerfen kann. Obwohl meine Weihnachtsdekoration seit dem Tod meiner Mutter ohnehin eher spärlich ausfällt. Die Hoffnung dass alles irgendwann besser wird, gepaart mit der immerwährenden Überzeugung, dass auch alles auf jeden Fall besser werden MUSS, ist diejenige, die sich in diesem Haus noch immer am verbissensten behauptet. Da gibt es weiterhin die Vision, dass ich eines Tages den deckenhohen Weihnachtsbaum meiner Kindheit, der, obwohl er komplett gerade, symmetrisch und perfekt geschmückt war, dummerweise die meiste Zeit mitten auf einem familiären Schlachtfeld stand, für mich zurückerobere, den Anlass und den Platz für ihn finde, und ihn mit all meinen bunten und exzentrischen Ornamenten zum ersten Mal zum Mittelpunkt einer gänzlich glücklichen Festivität mache. Wer weiß...vielleicht brauche ich einfach auch nur noch ein Jahrzehnt, um das ganze Zeug dann doch bei ebay zu verkloppen. Hoffnungen und Ansprüche werden bekanntlich automatisch kleiner, wenn einem die Zeit ausgeht.

Außerdem ist der Keller natürlich noch lange nicht fertig. Während die gestrige Aktion nun sehr langwierig war, aber platzmäßig wenig Fortschritt beschert hat, hoffe ich (mal wieder), dass die verbleibenden Kisten und Gegenstände sich weniger gegen meine Bemühungen stemmen werden, sie endlich freizusetzen. Es ist mein erklärtes Ziel, meinen Keller in Zukunft vom Eingang bis zum Fenster an der gegenüberliegenden Wand durchschreiten zu können, ohne irgendetwas aus dem Weg räumen, bzw. ausweichen zu müssen. 

Gesund und reich

Bekanntlich gibt es in meiner Wohnung selbst ja auch noch genug Baustellen. In der letzen Woche habe ich meinen Schreibtisch und die Rollschränke mit dem Bürobedarf  bearbeitet. Das war nicht annähernd so schwer, wie die Weihnachtskisten, hat aber auch mal wieder sehr eindrucksvoll gezeigt, wie penetrant die Zeuginnen gescheiterter Selbstverbesserung hier überall um mich herum lauern. Ich hatte für 2016 drei Kalender angelegt, um die Fortschritte in drei verschiedenen Kategorien genau zu dokumentieren und zu "steuern". Das waren Finanzen, Gesundheit, sowie berufliche Weiterentwicklung. Beim Ausräumen habe ich sie gefunden. Und sie waren alle leer. Nun sind sie alle im Müll. Vom Stapel Pro- und Contra-Blöcke, um effizienter Entscheidungen zu treffen, habe ich mich dagegen nicht trennen können. Ebenso wenig vom Formularblock für Bestellungen beim Universum. Ich weiß natürlich immer nicht, ob ich lachen oder heulen soll, wenn er mir in die Hände fällt, aber trotzdem...er ist Anschauungsmaterial für die Spirale der Selbstverbesserung, die leicht mal bis hinab ins magische Denken führt.

Im Auto höre ich in diesen Tagen die Hörbücher von Rebecca Niazi-Shahabi. Immer wieder von vorn, weil ich hoffe, dass ich etwas Grundsätzliches mitnehmen werde. Sie rät bekanntlich, den Kampf um Selbstoptimierung schlicht an den Nagel zu hängen, und damit ein zufriedeneres Leben zu führen. Aber so wie das Aufgeben von Diäten, ist das Aufgeben von Selbstoptimierung selbstverständlich ebenfalls alles andere als einfach. Denn auch hier muss man am Ende Hoffnungen und all die wunderbaren, ausgedachten Märchen über das eigene eigentliche Leben und die wilden Phantasien über persönliche Möglichkeiten, die man alle hätte, wenn man nur ganz anders oder zumindest ganz dünn wäre, aufgeben. Das ist schmerzhaft und erfordert viel Übung. Und ist natürlich ironischerweise genau genommen auch eine Art Selbstverbesserungsprojekt. 

Das alles hat mich dann aber auch nicht davon abgehalten, beim Besuch einer Buchhandlung vor ein paar Tagen, zusätzlich zu den Filofax-Einlagen für 2017 auch noch einen kofferschweren, in faux Leder gebundenen Planner zu erwerben - im DIN A4 Format und mit genug Platz für To-Do-Listen und Notizen. Ich kann halt (noch) immer nicht anders.

Mir wurde übrigens klar, dass ich offenbar schon verdammt lange nicht mehr besonders gründlich durch einen Buchladen gegangen war - ich weiß, man soll den Einzelhandel um die Ecke im Existenzkampf gegen das Internet unterstützen. Aber erstens gebe ich ohnehin nicht mehr viel Geld aus, weil ich wenig habe und dummerweise ist der Service von echten Menschen um die Ecke meiner Erfahrung nach durchaus öfter mal so schlecht und regelrecht unfreundlich, als ob sie diese Unterstützung wirklich nicht nötig haben. Obendrein sind Buchläden jetzt offenbar in der Hauptsache Papeterie- und Geschenkartikelhandlungen mit Regalen voll mit Kaffeebechern, Döschen mit Pfefferminz und vorrangig leeren Büchern, auf denen die selben verzweifelten Motivationssätze stehen, wie in den Werken in der Selbsthilfe- und Esoterik-Abteilung: "Wer in die Fußstapfen anderer tritt, hinterlässt keine Spuren." Wenigstens ist es um solch ein Geschirr nicht schade, wenn man es an die Wand wirft.

Die Frauenabteilung war angesichts all der vielen pastelligen Illustrationen auf den Deckblättern der aufgestapelten romantischen Komödien schwer von der für Mädchen zu unterscheiden. Zu meiner Zeit standen da ja noch lauter Taschenbücher aus dem Fischer Verlag. Die hatten ein Programm, das "Die Frau in der Gesellschaft" hieß und durch das Venussymbol am Buchrücken leicht zu erkennen war (ich weiß, ich weiß - zuletzt haben die Hera Lind gedruckt). Bei Rowohlt hieß die entsprechende Buchreihe "Neue Frau". Die wurde 1997 eingestellt...seufz. Und als mittelalte, elitäre Kampfelse glaube ich in der Tat, dass wir momentan direkt und immer tiefer in den verdummten Salat steuern, den wir dann haben werden...

Klug und erfolgreich

Meine Prüfung zur Psychotherapeutin HP kann ich hier in Schleswig Holstein übrigens allem Anschein nach erst in über einem Jahr ablegen. Weil die Prüfung nur einmal im Jahr stattfindet. Und in diesem Jahr fand sie statt, als ich noch im Unterricht saß. Das gibt mir jetzt also Zeit bis Oktober 2017, um mich vorzubereiten. Mir ist natürlich schon wieder unbegreiflich, wie hier von Behörden mit den persönlichen Biographien und der Lebensplanung der Bürgerinnen umgegangen wird, und ich könnte mich seitenweise echauffieren. Stattdessen werde ich jetzt mal ein Formular ausfüllen, um beim Universum jemanden zu bestellen, der mich beizeiten abfragt. Und zwischendurch auf mich aufpasst, so dass ich bis zum Prüfungstermin nicht schon längst entweder im Gefängnis oder in einer Burnout-Klinik gelandet bin.

NH