Rebecca Jane Weinstein, Juristin und Gründerin der
Fett-Akzeptanz-Plattform PeopleOfSize.com, hat
ein Buch über etwas geschrieben, was nicht mehr ganz so unvorstellbar ist, wie
es mal war. Aber noch immer ZIEMLICH unvorstellbar – leider auch oft und vor
allem für die, die es direkt betrifft. Der Titel des Buches ist Fat Sex.
Und es handelt von dicken Menschen und dem Sex, den sie haben – oder eben nicht
haben.
Und viele dicke Menschen haben viel Sex NICHT. Weil sie sich
für ihren Körper schämen, weil sie sich nicht vorstellen können, dass jemand
sie attraktiv finden könnte, und weil viele Menschen dicke Körper tatsächlich
nicht attraktiv finden, oder sich schämen, zuzugeben, dass sie es doch tun.
In einem Interview sagte die Autorin, dass das Buch
allerdings auch darlege, dass dicke Menschen ebenso normale und/oder
außergewöhnliche sexuelle Entwicklungen durchmachen, wie alle anderen. Der
Inhalt des Buches scheint jedoch gleichzeitig zu belegen, dass ein sehr hohes
Gewicht insbesondere für Frauen, bemerkenswert weichenstellend sein kann und
häufig dazu führt, dass sexuelle Selbstfindung und Bestätigung härter und auf
Umwegen erkämpft werden müssen.
Should fatties get a room?* (Will man
dicken Leuten beim Knutschen zusehen?)
Die amerikanische Sitcom „Mike & Molly“
erzählt aus dem Alltag eines Paares, in dem beide Partner dick sind. Sie lernen
sich in einer Selbsthilfegruppe kennen und versuchen immer mal wieder, eine
Diät durchzuhalten – aber das Übergewicht der beiden spielt im weiteren Verlauf
thematisch eine nur untergeordnete Rolle. Ich selbst habe die Serie bisher gern
gesehen – und eine DVD beim letzten kleinen Preisausschreiben verschenkt. In
den USA, wo sie 2010 anlief, war
„Mike & Molly“ mittelprächtig erfolgreich, schaffte es aber bis zur
mittlerweile dritten Staffel. In Deutschland war sie, so muss man es wohl sagen,
ein Flop und wurde von SAT1 eigestellt.
Wenn man davon ausgeht, dass mittlerweile ein Drittel aller erwachsenen
Amerikaner auf Basis des Fantasiemaßstabes BMI als adipös einzustufen ist und
die Hälfte der Deutschen zumindest als übergewichtig, dann ist es umso
erstaunlicher, dass all diese runden Leute offenbar wenig Wert darauf legen,
Schauspielern, die so aussehen, wie sie selbst, auf ihren Fernsehbildschirmen dabei
zuzuschauen, wie sie die Tücken eines normalen Paaralltags meistern. Offenbar
sehen wir alle sehr viel lieber, wie Dicke im Format „The Biggest Loser“ als
Strafe für ihre Fülle kaserniert, gedemütigt und vorgeführt werden. Wer
Geschichten mit dicken Menschen erzählen will, in denen das Dicksein Tatsache
aber weder vorrangig komisches Element noch zu bekämpfendes Übel ist, der stößt
leicht an seine Grenzen. Und an die des Publikums, das sich oft selbst nicht
leiden kann und darum für das eigene Fett und/oder das anderer in weiten Teilen
nicht viel mehr als Abscheu übrig hat.
Aber „Mike & Molly“ enthielt unerwartet offenbar auch
Zündstoff für eine handfeste Kontroverse in dessen Zentrum die magersüchtige
Kolumnistin Maura Kelly stand und in dessen Verlauf die amerikanische Ausgabe
der Marie Claire einen nicht unerheblichen Anteil ihrer Abonnentinnen verlor. Kelly
wurde mit der eigentümlichen Aufgabe betraut, als Reaktion auf „Mike &
Molly“ für die Website des Magazins eine Kolumne darüber zu verfassen, „ob es für
Zuschauer wirklich unangenehm ist, dicken Leuten beim Knutschen zuzusehen“.
Denn Mike und Molly küssen sich. Und sie haben Sex. Der wird natürlich nicht
gezeigt, aber oft erwähnt. Maura Kelly verfasste daraufhin ein bösartiges
kleines Traktat darüber, warum sie Dicke grundsätzlich ekelhaft findet („Yes, I
think I’d be grossed out if I had to watch two characters with rolls and rolls
of fat kissing each other…because I’d be grossed out if I had to watch them
doing anything.”) und die Andeutung dicker Sexualität erst recht. Wer auch immer
tatsächlich entschied, dass der Artikel auf der Seite veröffentlicht
werden würde, mag vielleicht eine kleine, überschaubare Provokation beabsichtigt
haben, hatte aber die Rechnung eindeutig ohne die Leserinnen gemacht, die sich
in diesem Fall zu einem ungeahnten Shitstorm aufschwangen. Maura Kelly musste
sich entschuldigen. Sie schob den Ausrutscher auf die durch die eigene
Essstörung verzerrte Wahrnehmung. Liest man Kellys Text vor diesem Hintergrund
noch einmal, wird offensichtlich, wie sehr ihre ungefilterten Angriffe auf die
Körperlichkeit anderer in Wahrheit vor Selbsthass nur so triefen. Dennoch ist auch
klar, dass sie mit ihrem Ekel in einer essgestörten Gesellschaft nicht allein
ist. So hatte der Fernsehsender CBS einem CNN-Bericht zufolge durchaus auch von
Zuschauern Beschwerden bezüglich der Küsse unter Dicken erhalten.
Fetish walking (Achtung:
wandelnder Fetisch)
Ist der Sex, den dicke Leute haben, ekelhaft? Oder
reflektiert der Ekel vor dickem Sex genauso auf den zurück, der ihn verspürt
und äußert, wie der allgemeine Ekel vor Dicken? Ist es obendrein ein Problem
mit der eigenen Sexualität, die Menschen wie Kelly daran hindert, leben und
leben zu lassen?
Immerhin die Ansicht, dass es zumindest NICHT normal ist,
eine spezifische sexuelle Vorliebe für dicke Körper zu haben, dürfte noch immer
weitverbreiteter sein, als das Gegenteil. Aber es ist nicht nur das. Rebecca
Jane Weinstein legt in ihrem Buch dar, es werde außerdem gemeinhin unterstellt,
dass ein dicker Körper so unattraktiv ist, dass man über ihn auch dann nicht
hinwegsehen kann, wenn andere Eigenschaften einer Person umso liebenswerter
sind. Wenn also ein Nicht-Dicker eine Beziehung mit einem dicken Menschen
eingeht, weil er primär seinen Humor oder seine Energie sexy findet, kann er genauso
leicht in Erklärungsnot geraten, wie derjenige, der sich explizit zu runden
Körpern hingezogen fühlt. Die Freunde können es nicht glauben. Die Familie
versteht es nicht. Die Kollegen machen sich lustig. Was DARF einen anmachen?
Weinstein wirft einen näheren Blick auf die heimische (US-amerikanische)
Pornoindustrie und stellt fest, dass es, gemessen an Verkaufszahlen und der
Fülle pornographischer Darstellungen mit dicken – in der Hauptsache – Protagonistinnen,
bei weitem nicht mehr als „unnormal“ bezeichnet werden kann, an runden Körpern
sexuell interessiert zu sein. Dicke Pornographie ist kein Nischenmarkt, sondern
Big Business, bei dem Milliarden mit sexuell aktivem, wogendem Fett verdient
werden. Gibt man tatsächlich einfach nur einmal spaßeshalber „fat sex“ bei
Google ein, bekommt man innerhalb von 0,15 Sekunden 395.000.000 Ergebnisse. Eine
Bekannte, die sich mit der Materie ein bisschen auskennt, erzählte mir
unlängst: „Die erfolgreichsten Prostituierten auf dem Kiez sind jedenfalls keine
kleinen, dünnen Mädchen.“
Warum also sollte man als dicker Mensch und insbesondere als
dicke Frau Sorge haben, nicht zu genügen? Und sexuell schlicht unattraktiv/inakzeptabel zu sein? Warum gibt kaum einer zu, dass er Dicke aufregend findet,
wenn es doch offensichtlich so viele tun? Die Antwort wurde oben bereits gegeben.
Die Gesellschaft befindet sich im Krieg gegen das Fett. Weinstein sieht Liebhaber
von dicken Körpern momentan in der Situation, in der vormals Schwule und Lesben
waren. Heute seien sie es, der die Gesellschaft es schwer mache, sich zu „outen“.
Denn wer Fett sexy findet, kann, wie gesagt, schlicht nicht richtig ticken. Muss
„pervers“ sein. Womit wir beim „wandelnden Fetisch“ wären. Sexuelles Begehren,
das sich laut Definition auf bestimmte Gegenstände oder Konstellationen von Körpern
und Gegenständen richtet – viele Dicke wollen DAS nicht sein. Sie wollen verständlicherweise
nicht in einen Topf geworfen werden mit Damenbärten, Nylonstrümpfen, Gasmasken
und halbnackten Frauen, die mit ihrem Geländewagen im Schlamm stecken bleiben. Nicht
dass damit irgendetwas nicht in Ordnung wäre, aber eine dicke Person ist nun
einmal zunächst weder ein Objekt noch eine Inszenierung. Mitunter sind sie
deshalb misstrauisch. Gleichzeitig ist es oftmals schwer für sie, zu glauben,
dass jemand, der sie (unerwarteterweise) sexuell will, dann auch an ihnen als Person interessiert ist. Oder
dass er Körpermaße gar nicht so wichtig findet.
Was sich da außerdem leicht erschwerend ins Bild schiebt,
ist die eher gruselige Variante von Feedern (Fütterern) und Gainern/Feedees
(Gefütterten). Bei der Vorstellung, in eine Beziehung zu geraten, in der es das
erklärte Ziel des Partners ist, den anderen zu mästen und so mehr und mehr
Kontrolle über den immer unbeweglicher werdenden Körper zu erlangen, dürften
den meisten Dicken die Haare zu Berge stehen. Natürlich kann jeder mit seinem
Körper machen, was er will. Aber was muss insbesondere einer Frau vorher passiert
sein, damit sie einwilligt, ihren gezielt zum Gefängnis auszubauen und sich so
in letzter Konsequenz tatsächlich zum Fetisch, zum Objekt machen lässt? Und wie
muss einer gestrickt sein, der diese Bereitschaft ausnutzt? (Ja, stimmt - ich
habe wenig übrig für ungleiche Machtverhältnisse in sexuellen Zusammenhängen, verklagt mich ruhig! ; ))
Fetisch oder kein Fetisch: In den Geschichten der von Weinstein
Befragten stellt sich trotz allem eines eindrucksvoll heraus: Offene Fat
Admirers (Fettliebhaber) können unter Umständen eine wertvolle Anlaufstelle sein – vor allem
für dicke Frauen – wenn es um Selbstakzeptanz geht. Die Erfahrung, dass ein
anderer in der Lage ist, wildes Begehren für den selben Körper zu empfinden,
mit dem man sich selbst im Zweifel seit Ewigkeiten im Krieg befunden hat, könne
eine absolute Befreiung sein. Und es scheint mir einleuchtend. Man stelle sich
das mal vor: Keine sorgenvollen Gedanken daran, was sich alles wellt oder
wackelt. Beim Date mit einem Fat Admirer ist man als dicke Person schließlich genau
das, was der andere wollte. Vermutlich ist nichts, was man an nackten Untiefen
und Geheimgängen zu bieten hat, eine Überraschung für ihn. Da muss man das
Licht nicht dimmen, um unsichtbar zu werden. Scham ist kein Rezept für guten
Sex, und einige von Weinsteins Interview-Partnerinnen haben sich durch die
gezielte Suche nach Sexpartnern mit einer expliziten Vorliebe für dicke Körper tatsächlich
die Möglichkeit verschafft, die Scham zum ersten Mal in ihrem Leben in der
Handtasche zu lassen. Klingt eigentlich wie ein hervorragender Deal. Und
verlangt in der konkreten Umsetzung vermutlich trotzdem verdammt viel Mut. Aber
wenn man vorhat, sich diese Erfahrung zu holen, sollte man es tunlichst VOR
der nächsten Diät tun, denn das ist eine Chance, die mit jedem Gramm in
der Tat schwindet. ; )
Was Weinsteins Buch jedoch wie gesagt auch dokumentiert, ist, dass dick
zu sein fast immer einen deutlichen Einfluss auf die sexuelle Evolution eines
Menschen hat. Meistens verzögert es Erfahrungen und führt in der Summe
letztendlich sehr wohl zu mehr Demütigung und Ablehnung. Aber fast alle
Schilderungen enden mit einer Stärkung des Selbstwertgefühls und mehr
Selbstakzeptanz, die sich die Protagonistinnen und Protagonisten auf die eine
oder andere Art individuell erarbeitet haben.
Ich habe mich gefragt, wie die immer wiederkehrende
Erfahrung, dick und damit in einem gesellschaftlich inakzeptablen Körper zu
leben, meine Sexualität beeinflusst hat und dazu verglichen, welche Erfahrungen
im schlanken und welche im dicken Körper überwogen haben (und so komisch es klingen mag - es gab kaum Phasen "dazwischen"). Die Erfahrungen, die
zumindest gefühlt am häufigsten gemacht wurden, stehen oben auf der Liste.
Allerdings ist hier alles nur ungefähr. Und ein wenig verschwommen.
Dick
-
Von der Umwelt GAR NICHT als sexuell wahrgenommen
werden.
-
Nicht gewollt werden. (Sollte man sich doch
einmal getraut haben, Signale zu senden.)
-
Verwirrung und Panik bei (sehr seltenen) unerwarteten aber nicht
unerwünschten Annäherungsversuchen – warum will der mich? Und dann mit
ziemlicher Sicherheit: Flucht!
-
Ganz selten: Unerwünschte Anmache.
Dünn (zumeist jedoch
trotzdem eingebildet dick)
-
Verwirrung und Panik bei unerwarteten aber nicht
unerwünschten Annäherungsversuchen – warum will der mich? (Endete auch nicht
selten mit Flucht.)
-
Unerwünschte und oft aufdringliche Anmache, Annäherungsversuche, Belästigung.
-
Etwas mehr Selbstbewusstsein beim Ergreifen von
Initiative und in der Konsequenz gewollt werden.
- Nicht gewollt werden.
Ja, es war schon so: Immer, wenn ich dünn war, ging deutlich
mehr. Allerdings musste man in solchen Phasen auch immer sehr viel mehr abwehren,
was ich regelmäßig als ziemlich anstrengend empfunden habe. Und wo mehr ging,
war auch sehr viel mehr Gelegenheit für akute Scham. Denn ohne die ging ich
auch schlank nie aus dem Haus.
Vor ein paar Wochen habe ich im Zuge eines kleinen
Fotoprojekts mal Bestandsaufnahme gemacht und meinen Körper nackt und aus purem
Forscherinnendrang von allen Seiten und aus so ziemlich jeder möglichen
Perspektive abgelichtet. Von nah und von fern. Man hat ja so viele Teile, die
man naturgemäß nie wirklich zu Gesicht bekommt. Und ich war vorbereitet auf
eine wahre Landkarte des Grauens. Aber dann kam es anders, und nicht alles, was
ich sah, stürzte mich mehr in schiere Verzweiflung. Erstens gab es mir Sicherheit,
jetzt genau zu wissen, was ich dem anderen wirklich „zumuten“ würde, wenn ich
das Licht anließe. Und zweitens fand ich einige Bilder sogar richtig schön. Und
dann dachte ich mir, wenn ich mich selbst, so wie jetzt nun einmal bin,
zumindest aus bestimmten Blickwinkeln irgendwie sexy finden kann, dann kann das
jemand anders auch…….Also wirklich, jetzt.
Weinsteins Fazit aus den von ihr gesammelten
Schilderungen dicker Menschen ist ohnehin: Es sind Haltung und Selbstbewusstsein,
die sexy machen. Ich hoffe, das ist eine gute Nachricht. Denn was für scheue
Viecher gerade diese zwei ironischerweise sind, davon kann ich bekanntlich ein
Lied singen.
*Gängiger englischer
Ausspruch, wenn Leute in der Öffentlichkeit ihre Zuneigung zu deutlich zeigen –
zumindest im Auge des Betrachters: Get a room you two, nobody wants to see
that. (Nehmt euch gefälligst ein Hotelzimmer, das will doch keiner sehen.)
NH