Samstag, 24. November 2012

Ganz viel Sex


 
Rebecca Jane Weinstein, Juristin und Gründerin der Fett-Akzeptanz-Plattform PeopleOfSize.com, hat ein Buch über etwas geschrieben, was nicht mehr ganz so unvorstellbar ist, wie es mal war. Aber noch immer ZIEMLICH unvorstellbar – leider auch oft und vor allem für die, die es direkt betrifft. Der Titel des Buches ist Fat Sex. Und es handelt von dicken Menschen und dem Sex, den sie haben – oder eben nicht haben.

Und viele dicke Menschen haben viel Sex NICHT. Weil sie sich für ihren Körper schämen, weil sie sich nicht vorstellen können, dass jemand sie attraktiv finden könnte, und weil viele Menschen dicke Körper tatsächlich nicht attraktiv finden, oder sich schämen, zuzugeben, dass sie es doch tun.

In einem Interview sagte die Autorin, dass das Buch allerdings auch darlege, dass dicke Menschen ebenso normale und/oder außergewöhnliche sexuelle Entwicklungen durchmachen, wie alle anderen. Der Inhalt des Buches scheint jedoch gleichzeitig zu belegen, dass ein sehr hohes Gewicht insbesondere für Frauen, bemerkenswert weichenstellend sein kann und häufig dazu führt, dass sexuelle Selbstfindung und Bestätigung härter und auf Umwegen erkämpft werden müssen.

Should fatties get a room?* (Will man dicken Leuten beim Knutschen zusehen?)

Die amerikanische Sitcom „Mike & Molly“ erzählt aus dem Alltag eines Paares, in dem beide Partner dick sind. Sie lernen sich in einer Selbsthilfegruppe kennen und versuchen immer mal wieder, eine Diät durchzuhalten – aber das Übergewicht der beiden spielt im weiteren Verlauf thematisch eine nur untergeordnete Rolle. Ich selbst habe die Serie bisher gern gesehen – und eine DVD beim letzten kleinen Preisausschreiben verschenkt. In den USA, wo sie 2010 anlief,  war „Mike & Molly“ mittelprächtig erfolgreich, schaffte es aber bis zur mittlerweile dritten Staffel. In Deutschland war sie, so muss man es wohl sagen, ein Flop und wurde von SAT1 eigestellt.

Wenn man davon ausgeht, dass mittlerweile ein Drittel aller erwachsenen Amerikaner auf Basis des Fantasiemaßstabes BMI als adipös einzustufen ist und die Hälfte der Deutschen zumindest als übergewichtig, dann ist es umso erstaunlicher, dass all diese runden Leute offenbar wenig Wert darauf legen, Schauspielern, die so aussehen, wie sie selbst, auf ihren Fernsehbildschirmen dabei zuzuschauen, wie sie die Tücken eines normalen Paaralltags meistern. Offenbar sehen wir alle sehr viel lieber, wie Dicke im Format „The Biggest Loser“ als Strafe für ihre Fülle kaserniert, gedemütigt und vorgeführt werden. Wer Geschichten mit dicken Menschen erzählen will, in denen das Dicksein Tatsache aber weder vorrangig komisches Element noch zu bekämpfendes Übel ist, der stößt leicht an seine Grenzen. Und an die des Publikums, das sich oft selbst nicht leiden kann und darum für das eigene Fett und/oder das anderer in weiten Teilen nicht viel mehr als Abscheu übrig hat.

Aber „Mike & Molly“ enthielt unerwartet offenbar auch Zündstoff für eine handfeste Kontroverse in dessen Zentrum die magersüchtige Kolumnistin Maura Kelly stand und in dessen Verlauf die amerikanische Ausgabe der Marie Claire einen nicht unerheblichen Anteil ihrer Abonnentinnen verlor. Kelly wurde mit der eigentümlichen Aufgabe betraut, als Reaktion auf „Mike & Molly“ für die Website des Magazins eine Kolumne darüber zu verfassen, „ob es für Zuschauer wirklich unangenehm ist, dicken Leuten beim Knutschen zuzusehen“. Denn Mike und Molly küssen sich. Und sie haben Sex. Der wird natürlich nicht gezeigt, aber oft erwähnt. Maura Kelly verfasste daraufhin ein bösartiges kleines Traktat darüber, warum sie Dicke grundsätzlich ekelhaft findet („Yes, I think I’d be grossed out if I had to watch two characters with rolls and rolls of fat kissing each other…because I’d be grossed out if I had to watch them doing anything.”) und die Andeutung dicker Sexualität erst recht. Wer auch immer tatsächlich entschied, dass der Artikel auf der Seite veröffentlicht werden würde, mag vielleicht eine kleine, überschaubare Provokation beabsichtigt haben, hatte aber die Rechnung eindeutig ohne die Leserinnen gemacht, die sich in diesem Fall zu einem ungeahnten Shitstorm aufschwangen. Maura Kelly musste sich entschuldigen. Sie schob den Ausrutscher auf die durch die eigene Essstörung verzerrte Wahrnehmung. Liest man Kellys Text vor diesem Hintergrund noch einmal, wird offensichtlich, wie sehr ihre ungefilterten Angriffe auf die Körperlichkeit anderer in Wahrheit vor Selbsthass nur so triefen. Dennoch ist auch klar, dass sie mit ihrem Ekel in einer essgestörten Gesellschaft nicht allein ist. So hatte der Fernsehsender CBS einem CNN-Bericht zufolge durchaus auch von Zuschauern Beschwerden bezüglich der Küsse unter Dicken erhalten.

Fetish walking (Achtung: wandelnder Fetisch)

Ist der Sex, den dicke Leute haben, ekelhaft? Oder reflektiert der Ekel vor dickem Sex genauso auf den zurück, der ihn verspürt und äußert, wie der allgemeine Ekel vor Dicken? Ist es obendrein ein Problem mit der eigenen Sexualität, die Menschen wie Kelly daran hindert, leben und leben zu lassen?

Immerhin die Ansicht, dass es zumindest NICHT normal ist, eine spezifische sexuelle Vorliebe für dicke Körper zu haben, dürfte noch immer weitverbreiteter sein, als das Gegenteil. Aber es ist nicht nur das. Rebecca Jane Weinstein legt in ihrem Buch dar, es werde außerdem gemeinhin unterstellt, dass ein dicker Körper so unattraktiv ist, dass man über ihn auch dann nicht hinwegsehen kann, wenn andere Eigenschaften einer Person umso liebenswerter sind. Wenn also ein Nicht-Dicker eine Beziehung mit einem dicken Menschen eingeht, weil er primär seinen Humor oder seine Energie sexy findet, kann er genauso leicht in Erklärungsnot geraten, wie derjenige, der sich explizit zu runden Körpern hingezogen fühlt. Die Freunde können es nicht glauben. Die Familie versteht es nicht. Die Kollegen machen sich lustig. Was DARF einen anmachen?

Weinstein wirft einen näheren Blick auf die heimische (US-amerikanische) Pornoindustrie und stellt fest, dass es, gemessen an Verkaufszahlen und der Fülle pornographischer Darstellungen mit dicken – in der Hauptsache – Protagonistinnen, bei weitem nicht mehr als „unnormal“ bezeichnet werden kann, an runden Körpern sexuell interessiert zu sein. Dicke Pornographie ist kein Nischenmarkt, sondern Big Business, bei dem Milliarden mit sexuell aktivem, wogendem Fett verdient werden. Gibt man tatsächlich einfach nur einmal spaßeshalber „fat sex“ bei Google ein, bekommt man innerhalb von 0,15 Sekunden 395.000.000 Ergebnisse. Eine Bekannte, die sich mit der Materie ein bisschen auskennt, erzählte mir unlängst: „Die erfolgreichsten Prostituierten auf dem Kiez sind jedenfalls keine kleinen, dünnen Mädchen.“

Warum also sollte man als dicker Mensch und insbesondere als dicke Frau Sorge haben, nicht zu genügen? Und sexuell schlicht unattraktiv/inakzeptabel zu sein? Warum gibt kaum einer zu, dass er Dicke aufregend findet, wenn es doch offensichtlich so viele tun? Die Antwort wurde oben bereits gegeben. Die Gesellschaft befindet sich im Krieg gegen das Fett. Weinstein sieht Liebhaber von dicken Körpern momentan in der Situation, in der vormals Schwule und Lesben waren. Heute seien sie es, der die Gesellschaft es schwer mache, sich zu „outen“. Denn wer Fett sexy findet, kann, wie gesagt, schlicht nicht richtig ticken. Muss „pervers“ sein. Womit wir beim „wandelnden Fetisch“ wären. Sexuelles Begehren, das sich laut Definition auf bestimmte Gegenstände oder Konstellationen von Körpern und Gegenständen richtet – viele Dicke wollen DAS nicht sein. Sie wollen verständlicherweise nicht in einen Topf geworfen werden mit Damenbärten, Nylonstrümpfen, Gasmasken und halbnackten Frauen, die mit ihrem Geländewagen im Schlamm stecken bleiben. Nicht dass damit irgendetwas nicht in Ordnung wäre, aber eine dicke Person ist nun einmal zunächst weder ein Objekt noch eine Inszenierung. Mitunter sind sie deshalb misstrauisch. Gleichzeitig ist es oftmals schwer für sie, zu glauben, dass jemand, der sie (unerwarteterweise) sexuell will, dann auch an ihnen als Person interessiert ist. Oder dass er Körpermaße gar nicht so wichtig findet.

Was sich da außerdem leicht erschwerend ins Bild schiebt, ist die eher gruselige Variante von Feedern (Fütterern) und Gainern/Feedees (Gefütterten). Bei der Vorstellung, in eine Beziehung zu geraten, in der es das erklärte Ziel des Partners ist, den anderen zu mästen und so mehr und mehr Kontrolle über den immer unbeweglicher werdenden Körper zu erlangen, dürften den meisten Dicken die Haare zu Berge stehen. Natürlich kann jeder mit seinem Körper machen, was er will. Aber was muss insbesondere einer Frau vorher passiert sein, damit sie einwilligt, ihren gezielt zum Gefängnis auszubauen und sich so in letzter Konsequenz tatsächlich zum Fetisch, zum Objekt machen lässt? Und wie muss einer gestrickt sein, der diese Bereitschaft ausnutzt? (Ja, stimmt - ich habe wenig übrig für ungleiche Machtverhältnisse in sexuellen Zusammenhängen, verklagt mich ruhig! ; ))

Fetisch oder kein Fetisch: In den Geschichten der von Weinstein Befragten stellt sich trotz allem eines eindrucksvoll heraus: Offene Fat Admirers (Fettliebhaber) können unter Umständen eine wertvolle Anlaufstelle sein – vor allem für dicke Frauen – wenn es um Selbstakzeptanz geht. Die Erfahrung, dass ein anderer in der Lage ist, wildes Begehren für den selben Körper zu empfinden, mit dem man sich selbst im Zweifel seit Ewigkeiten im Krieg befunden hat, könne eine absolute Befreiung sein. Und es scheint mir einleuchtend. Man stelle sich das mal vor: Keine sorgenvollen Gedanken daran, was sich alles wellt oder wackelt. Beim Date mit einem Fat Admirer ist man als dicke Person schließlich genau das, was der andere wollte. Vermutlich ist nichts, was man an nackten Untiefen und Geheimgängen zu bieten hat, eine Überraschung für ihn. Da muss man das Licht nicht dimmen, um unsichtbar zu werden. Scham ist kein Rezept für guten Sex, und einige von Weinsteins Interview-Partnerinnen haben sich durch die gezielte Suche nach Sexpartnern mit einer expliziten Vorliebe für dicke Körper tatsächlich die Möglichkeit verschafft, die Scham zum ersten Mal in ihrem Leben in der Handtasche zu lassen. Klingt eigentlich wie ein hervorragender Deal. Und verlangt in der konkreten Umsetzung vermutlich trotzdem verdammt viel Mut. Aber wenn man vorhat, sich diese Erfahrung zu holen, sollte man es tunlichst VOR der nächsten Diät tun, denn das ist eine Chance, die mit jedem Gramm in der Tat schwindet. ; )

Was Weinsteins Buch jedoch wie gesagt auch dokumentiert, ist, dass dick zu sein fast immer einen deutlichen Einfluss auf die sexuelle Evolution eines Menschen hat. Meistens verzögert es Erfahrungen und führt in der Summe letztendlich sehr wohl zu mehr Demütigung und Ablehnung. Aber fast alle Schilderungen enden mit einer Stärkung des Selbstwertgefühls und mehr Selbstakzeptanz, die sich die Protagonistinnen und Protagonisten auf die eine oder andere Art individuell erarbeitet haben.

Ich habe mich gefragt, wie die immer wiederkehrende Erfahrung, dick und damit in einem gesellschaftlich inakzeptablen Körper zu leben, meine Sexualität beeinflusst hat und dazu verglichen, welche Erfahrungen im schlanken und welche im dicken Körper überwogen haben (und so komisch es klingen mag - es gab kaum Phasen "dazwischen"). Die Erfahrungen, die zumindest gefühlt am häufigsten gemacht wurden, stehen oben auf der Liste. Allerdings ist hier alles nur ungefähr. Und ein wenig verschwommen.

Dick

-          Von der Umwelt GAR NICHT als sexuell wahrgenommen werden.
-          Nicht gewollt werden. (Sollte man sich doch einmal getraut haben, Signale zu senden.)
-          Verwirrung und Panik bei (sehr seltenen) unerwarteten aber nicht unerwünschten   Annäherungsversuchen – warum will der mich? Und dann mit ziemlicher Sicherheit: Flucht!
-          Ganz selten: Unerwünschte Anmache.

Dünn (zumeist jedoch trotzdem eingebildet dick)

-          Verwirrung und Panik bei unerwarteten aber nicht unerwünschten Annäherungsversuchen – warum will der mich? (Endete auch nicht selten mit Flucht.)
-          Unerwünschte und oft aufdringliche Anmache, Annäherungsversuche, Belästigung.
-          Etwas mehr Selbstbewusstsein beim Ergreifen von Initiative und in der Konsequenz gewollt werden.
-         Nicht gewollt werden.

Ja, es war schon so: Immer, wenn ich dünn war, ging deutlich mehr. Allerdings musste man in solchen Phasen auch immer sehr viel mehr abwehren, was ich regelmäßig als ziemlich anstrengend empfunden habe. Und wo mehr ging, war auch sehr viel mehr Gelegenheit für akute Scham. Denn ohne die ging ich auch schlank nie aus dem Haus.

Vor ein paar Wochen habe ich im Zuge eines kleinen Fotoprojekts mal Bestandsaufnahme gemacht und meinen Körper nackt und aus purem Forscherinnendrang von allen Seiten und aus so ziemlich jeder möglichen Perspektive abgelichtet. Von nah und von fern. Man hat ja so viele Teile, die man naturgemäß nie wirklich zu Gesicht bekommt. Und ich war vorbereitet auf eine wahre Landkarte des Grauens. Aber dann kam es anders, und nicht alles, was ich sah, stürzte mich mehr in schiere Verzweiflung. Erstens gab es mir Sicherheit, jetzt genau zu wissen, was ich dem anderen wirklich „zumuten“ würde, wenn ich das Licht anließe. Und zweitens fand ich einige Bilder sogar richtig schön. Und dann dachte ich mir, wenn ich mich selbst, so wie jetzt nun einmal bin, zumindest aus bestimmten Blickwinkeln irgendwie sexy finden kann, dann kann das jemand anders auch…….Also wirklich, jetzt.

Weinsteins Fazit aus den von ihr gesammelten Schilderungen dicker Menschen ist ohnehin: Es sind Haltung und Selbstbewusstsein, die sexy machen. Ich hoffe, das ist eine gute Nachricht. Denn was für scheue Viecher gerade diese zwei ironischerweise sind, davon kann ich bekanntlich ein Lied singen.


*Gängiger englischer Ausspruch, wenn Leute in der Öffentlichkeit ihre Zuneigung zu deutlich zeigen – zumindest im Auge des Betrachters: Get a room you two, nobody wants to see that. (Nehmt euch gefälligst ein Hotelzimmer, das will doch keiner sehen.)

NH

Mittwoch, 21. November 2012

Abgesang: Erkenntnisse aus dem Hartz-IV-Selbstversuch


Nachdem unser Hartz-IV-Projekt nun schon seit Ende Oktober beendet ist, wird es Zeit, ein Resümee zu ziehen. Das Ziel war bekanntlich, im Oktober in den Hatz-IV-Kategorien Nahrungsmittel, Innenausstattung, Bekleidung, Gesundheitspflege, Freizeit, Bildung, Gaststättendienstleistungen und Sonstiges mit dem Regelsatz von insgesamt €276,83 auszukommen und möglichst auch innerhalb der Abteilungen im Budget zu bleiben. Im September, unserem Vergleichsmonat mit „regulären“ Ausgaben, lagen meine Gesamtausgaben für die o.g. Kategorien bei € 1368,82. Bei Michael waren es € 1070,42. Allerdings hatte bei uns beiden jeweils eine kurze Reise den Betrag ein wenig in die Höhe getrieben.
 
 
Es ist also zu schaffen.

Zumindest für einen Monat. Aber Spaß macht es nicht, mit dem Hartz-IV-Regelsatz auskommen zu müssen. Und leicht war es nach wie vor auch nicht. Im Oktober habe ich für die Kategorien insgesamt € 274,35 ausgegeben, Michael € 277,24. Michael ist in allen Bereichen weit innerhalb des Budgets geblieben – bis auf Freizeit und Gaststättendienstleistungen. Ich lag bei den Nahrungsmitteln wieder um € 20,38 über dem Budget, bei der Innenausstattung um € 11,06 (durch die eigentlich ungeplante Anschaffung eines Woks bei IKEA), bei der Gesundheitspflege um € 1,08 und bei der Bildung um € 1,11 (durch den Kauf der Hamburger Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt).

Was haben wir denn nun gelernt?

Am Ende waren wir nicht einmal mehr stolz, mit dem zugeteilten Geld ausgekommen zu sein. Die Befriedigung, die sich unter Umständen nach einer erfolgreichen Fastenübung einzustellen vermag, blieb schlicht aus. Michaels Erklärung hierfür leuchtet ein: Wir haben ja auf nichts verzichtet, was potentiell einen „negativen“ Einfluss auf unsere Lebensführung hat: Zigaretten, Computerspiele, Süßigkeiten. Wir haben hauptsächlich auf Dinge verzichtet, die niemand ernsthaft für schlecht halten kann  – z.B. auf Gemüse. Und Bücher. Und Opernkarten.

Und wie steht es nun mit der Ernährung? Zweifelsohne lag das Hauptaugenmerk wieder durchgängig auf dem Budget für Nahrungsmittel. Und das lag u. a. vermutlich daran, dass man einen Schuhkauf sehr wohl aufschieben kann – besonders, wenn man weiß, dass man im kommenden Monat schon wieder in sein „normales“ Leben zurückkehren wird. Essen kann man nicht aufschieben.

Ich habe in diesem Monat, wie berichtet, konsequent von preiswerten Kohlenhydraten und Fetten gelebt. Käse, Butter, Eier, Weißbrot, Kartoffeln, Pommes, Nudeln - und dann war da ja noch die Wiederentdeckung der Gewürzgurke. Und manchmal war es eine großartige Sache, all das essen zu dürfen, was man sonst im Hinterkopf immer unter „ungesund“ abgeheftet hatte. Wie ebenfalls bereits erwähnt, habe ich bei der ganzen Aktion geringfügig, aber anhaltend abgenommen. Seit Anfang Juli, als ich begann, mich zu wiegen, habe ich bis heute nach einigen Schwankungen 6 kg verloren.

Im Gegensatz zu mir, hatte Michael den Eindruck, sich während des Experiments sogar gesünder (wenn halt auch freudloser), bzw. bewusster zu ernähren, als wenn er nicht auf das Budget achten muss, weil er normalerweise sehr viel mehr auswärts isst – auch Fast Food. Allerdings war es schwieriger, sich einzuschränken, als er gedacht hatte. Eines seiner Fazits war, dass es einfacher ist, gemeinsam arm zu sein. Als er vor Jahren zusammen mit einer Mitbewohnerin auf sehr kleinem Fuß lebte, machte das erheblich mehr Spaß als im Single-Haushalt. Ein Fernsehabend und geteilte Nudeln mit Butter sind halb so schlimm, und man muss sie auch nicht für die kommenden fünf Tage immer wieder aufwärmen.

Weder Michael noch ich haben im Oktober negative körperliche Auswirkungen oder einen Mangel an Energie wahrgenommen. Was bleibt, ist milde Verwirrung. Was ist schon gesunde Ernährung? Und wie sich Hartz-IV-Empfänger bzw. Menschen, die am Existenzminimum leben, in Ermangelung besseren Wissens ungesund überernähren und dadurch maßgeblich zur Verfettung der Nation beitragen sollen, bleibt weiterhin ein Rätsel.

In einem vorangegangen Post haben wir auch schon die Gefahr sozialer Isolation angesprochen. Wer plötzlich mit sehr knappen Ressourcen über die Runden kommen muss, lernt seine wahren Freunde kennen – so wie in vermutlich jeder Krisensituation. Michael hatte ihre volle Unterstützung im Oktober. Sie luden ihn ein, oder blieben einfach alle zusammen zum Videoabend zu Hause, um das Budget nicht weiter zu strapazieren.

In meinem Bekanntenkreis hielt man das Experiment dann doch eher für eine exzentrische Privatsache, was nicht heißen soll, dass man nicht mit haufenweise guten Ratschlägen versorgt worden wäre. Es war bemerkenswert, wie viel alle Welt plötzlich über das Leben am Existenzminimum wusste. Und wenn man der Mehrzahl dieser wohlmeinenden Berater glauben darf, dann ist es auch gar nicht schwer, mit dem Hartz-IV-Regelsatz klarzukommen. Zwar waren die meisten zunächst überrascht, wie niedrig dieser ist, aber „Möhren sind doch billig“ und „Von so einer Tüte Äpfel hat man doch lange was“ – und „Man kann ja Pizza auch selber machen“. Wir haben uns gefragt, warum viele unserer Gesprächspartner darauf bestanden, es sei leicht, mit wenig auszukommen, wenn die meisten von ihnen eigentlich absolut keine persönliche Erfahrung damit haben. Würde man nachhaken, würde man hier und da möglicherweise auf erhebliche Vorurteile gegenüber Hartz-IV-Empfängern stoßen – übergewichtige, faule, asoziale, ungepflegte, einfach gestrickte Kreaturen, die den ganzen Tag und letztendlich ihr ganzes Leben auf Kosten der Steuerzahler auf dem Sofa sitzen. Wenn „solche Leute“ es „schaffen“, mit dem Regelsatz auszukommen, dann kann es gar nicht schwer sein. Würde man außerdem ernsthaft zu dem Schluss kommen, dass Menschen, die aus was für Gründen auch immer auf Hartz IV angewiesen sind, mehr oder weniger zwangsläufig den Anschluss an die Gesellschaft verlieren (zur Erinnerung: € 1,39 für Bildung im Monat), müsste man eigentlich auch dafür sein, dass sich daran etwas ändert. Vielleicht durch eine Erhöhung der Sätze. Aber vielleicht auch durch viel mehr und viel einfühlsamere Unterstützung bei Arbeitssuche, Weiterbildung und Kinderbetreuung. Eine Gesellschaft kann nicht bestimmte Mitglieder abschreiben und erwarten, dass diese am Ende nicht Gefahr laufen, es auch selbst zu tun.

Noch kurz einen Nachtrag zum „Containern“ – im Supermarkt um die Ecke teilte man mir auf Nachfrage, ob ich mal in den Containern stöbern dürfte, mit, dass in ihren Containern nichts Verwertbares mehr sei, weil sie ihre Reste an die Tafel abgeben. Das würden ohnehin immer mehr Supermärkte in der Gegend tun. Wenn das stimmt, und davon gehe ich aus, dann ist das natürlich toll. Ich sag’s jetzt einfach: Ich war zu dem Zeitpunkt einigermaßen erleichtert, denn auf das Experiment hatte ich wirklich wenig Lust. Gedanklich bleibe ich aber trotzdem mal dran.
 
Zum Thema passend hier noch ein sehens-/lesenswerter Beitrag.


PS: Hab' ich doch gleich noch was gelernt, bzw. heute Nachmittag beim Einkaufen entschieden: Ich werde in diesem Jahr die Weihnachtskauferei und -verschenkerei ganz erheblich einschränken und stattdessen lieber eine Spende an ein oder zwei etablierte, vertrauenwürdige Projekte/Organisationen überweisen, deren Arbeit ich für wichtig halte. Auch das dürfte im Hinblick auf die Frage, wie man das den verblüfften Nicht-Beschenkten nun wieder vermittelt, abermals nicht ohne Herausforderungen sein. Ich versuch's trotzdem. Außerdem können wir da auch gleich wieder zu vybzbilds Welt schalten, denn da gibt es einen entsprechenden Hinweis auf den Buy Nothing Day.

NH

Sonntag, 4. November 2012

When in London: Maison Bertaux



Rückblick September: Ach, und ich war ja in London. Und ich habe noch gar nichts darüber geschrieben. Nun, dieses hier ist auch eigentlich kein Reiseblog. Aber erstens: Ist ja mein Blog, kann ich hier schließlich machen, was ich will. Und zweitens reist man ja auch immer ein wenig zu sich selbst, wenn man unterwegs ist. Natürlich lernt man an einigen Orten mehr über sich als an anderen. Drittens geht es hier um Essen, das es eigentlich verdient, ohne wabernde Schuldgefühle gegessen zu werden. Ein englisches Sprichwort behauptet ja, man könne seinen Kuchen nicht behalten und ihn obendrein essen. Darum ist es natürlich clever, dahin zu gehen, wo der Nachschub an Kuchen nicht abreißt. Und überhaupt: Wo könnte die Revolution gegen den Diät-Terror* besser geübt werden, als in einem Haus voller kunstvoller Cupcakes, Tartes und Torten? Vive la revolution!

 
Michele Wade und eine ihrer Mitarbeiterinnen
Maison Bertaux wurde 1871 gegründet – das macht es zur ältesten Konditorei Londons. Ihre jetzige  Besitzerin, Michele Wade, begann mit 14 Jahren, dort als Girl Saturday (Wochenendaushilfe) zu arbeiten und kaufte den Betrieb 1988.
 
2007 startete ihre Schwester, die Schauspielerin Tania Wade, ihre Karriere als Galleristin und Kunsthändlerin (hooliganartdealer.com) – u.a. mit der ersten und ausverkauften Ausstellung der Arbeiten des Künstlers und Comedians Noel Fielding, den sie bis heute exklusiv vertritt, und nutzt seitdem die Räume des Maison Bertaux als außergewöhnliche Ausstellungskulisse. Ich selbst bin von der Kunst zum Kuchen gekommen, als ich zu einer Ausstellungseröffnung  eingeladen wurde, und so die Konditorei zum ersten Mal sah.
 
Arbeiten von Maria Rosa Kramer

Lithographie und Wandtext von Noel Fielding
Zwei recht unterschiedliche Frauen betreiben zwei Unternehmen am selben Ort. Eigentlich ist die Kombination jedoch nur konsequent, denn sie ergibt in der Tat ein großes, erstaunliches Gesamtkunstwerk. Tradition sowie Mut zu Kitsch und zur Schönheit des gelassenen Verfalls sorgen in den Spiegeln für pastellige Wimmelbilder. Frische, hippe Kunst und frisches Gebäck kommen und gehen – doch manchmal wird die Kunst ein bleibender Teil des Ganzen, so wie Fieldings Texte – mit schwarzem Filzstift auf die Wände geschrieben. Maison Bertaux ist ein selbstbewusster Ort. Er macht mit schillernder Selbstverständlichkeit was er will und wird dafür bewundert.

 
 

 

 
 
Trotz der Schönheit der Kuchen esse ich hier übrigens am liebsten ein herzhaftes „Dijon Slice“. Und ich trinke immer Jasmintee. Immer. Aber nur hier. Denn nur hier schmeckt er mir. Und auf jedem Tisch stehen frische Blumen.
 
(Maison Bertaux, 28 Greek St., Soho, London, W1D 5DQ)
 

* Was ich aber auch noch gelernt habe: Ich bin noch immer zu schwer, um so weit zu laufen, wie ich gern ohne Pause gelaufen wäre. Und das gilt erst recht für die Schuhe, in denen ich zumindest gern einen sehr viel größeren Teil des Weges zurückgelegt hätte. Ich sage nur "leopardengemustert" und "pinkfarbene Sohlen".
 

Camden
 
Klar wurde mir das ausgerechnet, nachdem ich am Tresen von Eclipse Tattoos in Camden ca. 50x das Wort „Freiheit“ geschrieben hatte, um es mir dann in meiner Handschrift aufs Handgelenk tätowieren zu lassen. Thomas, mein Tätowierer, war schon gleich nicht sehr optimistisch – also, was die Realität eines Lebens in Freiheit betrifft. Er erklärte mir seufzend, da käme ohnehin immer etwas dazwischen: Hypotheken, familiäre Verpflichtungen…was mal wieder beweist, dass ein wildes Äußeres nicht automatisch eine wilde Seele beherbergt. Jedenfalls sagte ich ihm, dass man sie als Grundmotiv im Leben trotzdem immer im Gedächtnis behalten sollte.

Also hatte ich mir den Denkzettel am Arm verpassen lassen, um später im Hotelzimmer, das im dritten Stock lag und zu dem es keinen Fahrstuhl gab, zu begreifen, dass ich mich eben nicht nur von gedanklichem Ballast befreien muss. Ich will verdammt auch frei sein von den Einschränkungen geschwollener Füße, knarrender Knie und mangelnder Kondition. Dazu muss ich entweder noch immer Gewicht verlieren. Oder ich muss sehr viel fitter werden. Es ist eine Sache, sich nicht hübsch zu fühlen. Es ist (und das vergisst man gern mal, bis man daran erinnert wird) viel gravierender, wenn man den Gang durch das British Museum nicht mehr schafft, weil einen die National Gallery ehrlich geschafft hat. Reisen macht mich müder als früher. Und das macht nicht freier. So ein Mist.

British Museum
Trafalgar Square, die National Gallery im Rücken. Schwimmen ist nicht erlaubt. Sollte Thomas womöglich Recht behalten?
 
NH