Samstag, 21. Juni 2014

Alles eine Frage der Perspektivität*

Irgendwie ist es einfach passiert. Ich sehe die Welt mit anderen Augen. Als jahrzehntelange Vogue-Anschauerin (denn wer liest denn bitte die Vogue?), fiel es mir jetzt nach ungefähr zwei Jahren Bemühungen um eine neue Sicht, wenn es um meine eigene und die Körperformen anderer geht, wie Schuppen von den Augen. Ich kann neu sehen! (Ja, ich weiß - Redewendungen-Overkill. Aber ich kann mir einfach nicht helfen. ; ))

Um genau zu sein - bestimmte Anblicke kommen mir gar nicht mehr neu/außergewöhnlich vor. Meine unmittelbare Bewertung hat sich komplett geändert. Ich denke nicht mehr: Das sieht ja auch ganz gut aus. (Also dafür, dass das Model keine Größe 34 trägt). Ich denke: Sieht toll aus, das Kleid will ich auch. Spätestens ab hier sollten alle Moderedakteurinnen mitschreiben - und zwar hinter ihren Ohren. Denn was ich kann, können wir selbstverständlich alle. Wir können unsere inneren Programme tatsächlich ändern. Und wenn wir es alle machen, dann wird die Erde rund. 

Die folgenden Bilder sind aus einem Persona-Katalog, den ich im Vorbeigehen aus einem Modegeschäft für "Übergrößen" mitgenommen habe. Ich würde sagen, die Models tragen ungefähr Größe 40/42. Da würde ich natürlich nicht reinpassen. Und im Prinzip ärgert es mich selbstverständlich, dass man Mode für Dicke noch immer nicht konsequent auch an dicken Frauen präsentiert. Aber zumindest passiert hier etwas, von dem die Modeindustrie mit ihrer unerträglichen Hochnäsigkeit und Dummheit noch immer in weiten Teilen behauptet, dass es eigentlich gar nicht geht: Es ist sehr wohl möglich, statistisch "normale" Frauenkörper im High-Fashion-Modus abzulichten. Und der Blick der Allgemeinheit auf sie kann sehr wohl "normal" werden. Und das vermutlich sogar seeehr viel schneller, als so manchem lieb wäre. 

Lassen wir uns also bloß keine Märchen mehr erzählen, dass es tatsächlich eine Frage von objektiven Attraktivitätsstandards sei, wie dick oder dünn jemand sein darf, um vor die Kamera und dann auf unseren Kaffeetisch zu kommen. Das ist es nicht. Dünn ist nicht schöner als dick. 34 ist nicht schöner als 42. 34 ist lediglich das, was wir kennen. Es ist eine Frage von (Seh-)Gewohnheit. Wer glaubt, er erträgt den Anblick des eigenen Fettes und das von anderen nicht, der muss nur lange genug hinsehen. Ist alles ein Frage der Übung und der Öffnung für neue Ausblicke. Wer immer auf den selben Punkt starrt, kriegt halt einen steifen Nacken. Und verpasst viel.

NH




*"Perspektivität und Perspektivismus bezeichnen philosophische Lehren, die besagen, dass die Wirklichkeit von Standpunkt und Eigenschaften des betrachtenden Individuums abhängig ist." (Wikipedia)