Are you just making this shit up as you go along?*
Nicole Jäger ist eine berühmte dicke Frau. Das verdankt sie maßgeblich der Tatsache, dass sie eine gute Dicke ist. Sie übernimmt nämlich höchstselbst die "Verantwortung für ihr Leben", und tritt in ihrer Eigenschaft als "Fettlöserin" sich selbst und ihren Leserinnen pausenlos in den Hintern, damit sie alle zusammen endlich abnehmen.
Bereits an diesem Punkt wird es ausgesprochen ärgerlich und man fragt sich alle paar Seiten, was um alles in der Welt sich nicht die Autorin, sondern die Lektorin am Ende bloß dabei gedacht hat, so eine Arbeit abzuliefern: Arschhochkriegen, Tod durch Arsch-nicht-Hochgekriegt, weil man seinen Arsch nicht hochbekommt, in den Hintern treten, den Hintern aufreißen, wenn man seinen hübschen Hintern hochbekommt, Arsch hoch, Baby!, meinen schweren Hintern zu bewegen, bekomm deinen schönen Arsch hoch, beweg deinen Hintern, ich ihm notfalls in den Hintern trete, deinen hübschen Hintern vom Sofa schwingst...
Andere Wiederholungen, die es am Ende fast unerträglich machen, sich durch die 286 Seiten, von denen meiner Auffassung nach mindestens die Hälfte hätte gestrichen werden müssen, zu wursteln, sind diese: eklig, scheiße, Selbstbetrug, seien wir doch mal ehrlich, Arschloch, faule Sau, Bullshit. Und das sind nur die, die ich angestrichen habe, weil sie den Ton des Buches maßgeblich prägen. Die Autorin versucht, sich zwischen rotzigem Pausenclown, Diva und Marine Corps General zu positionieren. Dabei macht sie sich als gute Dicke selbst runter, aber auch ihr Publikum gleich mit. Nebenbei jammert sie sehr wohl, während sie sich quasi im selben Atemzug jegliche Jämmerlichkeit verbeten hat.
Und dann auch noch das:
Nothing tastes as good as skinny feels. (Kate Moss)
(...) nichts auf der Welt schmeckt so gut, wie Lebensqualität sich anfühlt, (...). (Nicole Jäger)
Selbst das abgewandelte und gern auf Pro-Ana-Seiten verwendete Kate-Moss-Zitat kommt gleich zweimal in der "Fettlöserin" vor - auf Seite 176 und 265. Dadurch, dass man etwas pausenlos wiederholt, wird es aber nicht automatisch richtiger. Oder gar wahr. Oder überhaupt sinnvoll.
Die eigentlichen Alleinstellungsmerkmale, die Nicole Jäger im Diätgeschäft zur selbsternannten "faulen Sau" machen, die dieser Tage durch die Medien getrieben wird, sind natürlich zwei Dinge: Sie hat, so die Legende, mal 340 kg gewogen und sich auf die Hälfte runtergehungert. Sie hat sodann, wie so viele Großabnehmerinnen, ihre Diät zur Karriere gemacht und ist nun ein "fetter Abnehmcoach" mit schicker Praxis in Eppendorf und eigenem Bühnenprogramm ("Ich darf das, ich bin selber dick"). Das ist eine echt gute Geschichte, auf die unsere diätbesessene Öffentlichkeit nur gewartet hat. Und während wir von Abnahmerfolgen bis 100 kg mittlerweile schon so oft gehört haben, dass es eigentlich nicht mehr so richtig kribbelt, sind 170, respektive 340 kg doch noch ziemlich hohe Hausnummern, mit denen sich Schlagzeilen machen lassen.
Nicole Jäger ist übrigens strikt dagegen, dass Dicke eine Diät machen, um abzunehmen. Hat aber natürlich ein Diät-Buch geschrieben. Das absurde Phänomen, dass Diäten out sind, Abnehmen aber weiter in, führt ja auch vermehrt in Frauenmagazinen zu den absonderlichsten Gedankenverrenkungen und Definitionen dessen, was denn nun eine Diät eigentlich ist. Wenn es schön aussieht, ist es keine Diät. Wenn es noch halbwegs "gesund" ist, ist es keine Diät. Wenn man davon nicht stirbt, ist es keine Diät...Wenn man dabei hin und wieder Nudeln und Schokolade essen darf, ist es keine Diät. Wenn man lieber mehr Sport treibt, statt Kalorien einzusparen, ist es keine Diät.
In der Welt der "Fettlöserin" verläuft die Grenze zur Diät nicht da, wo Nahrung zum Zwecke des Abnehmens grundsätzlich reduziert wird, denn dann könnte sie ihre Ablehnung gegen Diäten nicht mehr rechtfertigen, sondern dort, wo die verabreichte Kalorienzahl unter den Anforderungen des Grundumsatzes eines Individuums liegt. Und das kann in der Tat verdammt niedrig werden. Nur dann macht man aber in ihren Augen eine Diät. Und nur dann gibt es hinterher einen Jojo-Effekt. Sagt sie. Aber das stimmt natürlich beides nicht. Der Körper wird selbstverständlich auch Defizite bei der Deckung des Gesamtumsatzes ausgleichen (darum nimmt er ja auch dabei ab) und wird versuchen, Verluste so gering wie möglich zu halten, bzw. wird sich bei mehr Zufuhr entsprechend für kommende Engpässe rüsten. Diät bleibt Diät. Egal, wie wir es nennen und was unsere Präferenzen sind. Und es ist halt nun einmal die Tragik des biestigen Paradoxons, mit der die meisten von uns eine lange Zeit unseres Lebens konfrontiert gewesen sind, dass das, was durch Diäten ensteht (ein sehr hohes Gewicht), sich nur durch eine Diät wieder rückgängig machen lässt.
Die Autorin beharrt darauf, dass der, der abnehmen will, "essen muss" (S.151) und hat obendrein ganz entschieden etwas gegen Low Carb und Formula-Diäten. Letzteren gibt sie die Schuld an eben jenem Jojo-Erlebnis, das sie angeblich vor ca. drei Jahren provozierte, als sie aus purer Dummheit und Verzweiflung in einer zweimonatigen Phase des Stillstandes auf der Waage zu eben jenen griff, und ihr Gewicht damit "binnen kürzester Zeit" von 180 auf 150 kg reduzierte (S. 201).
Weil ihr Stoffwechsel damit total aus der Spur geriet, nahm sie die dreißig Kilo (und mehr) wieder zu. Und wog zu ihrer Hochzeit im Jahr danach "deutlich über 200 Kilo" (S. 205). Im April 2014 twitterte Nicole Jäger allerdings ein Bild von sich, das laut ihrer Angabe von 2010 war und sie deutlich erschlankt mit 142 kg zeigte. Es liegt mir persönlich fern, hier weiter Internet-Detektivin zu spielen (das tun andere, oft nicht sehr sympathische Zeitgenossen schon genug), aber da das Buch von ihrer so außergewöhnlichen persönlichen Geschichte lebt, waren es nicht nur die Wiederholungen, sondern auch die vielen Widersprüche und Auslassungen im Buch selbst, die es so anstrengend machten zu folgen.
Irgendwann machte eine dicke aber augenscheinlich doch relativ lebensfrohe und "normale" achtzehnjährige Nicole Jäger, die zuvor als Teenager eine schwere Hüftverletzung hatte überstehen müssen, ihr Abitur und zog von zu Hause aus. Wonach sie offenkundig eines Morgens im Alter von 26 Jahren aufwachte und just 200 kg zugelegt hatte. Selbstverständlich schuldet uns die Autorin keinen Einblick in die Zeit zwischen diesen beiden Stationen oder gar eine Erklärung. Aber es ist natürlich auch die gähnende Lücke an genau dieser grundlegenden Stelle, die der Geschichte den Wind aus den Segeln und die Glaubwürdigkeit nimmt. Die Weigerung, hinzusehen, was alles wirklich passiert sein MUSS (auch der Seele), damit man am Ende 340 kg wiegt und die Wohnung nicht mehr verlassen kann, spiegelt sich dann natürlich auch in dem Versteifen darauf, dass sie eben einfach nur zu dämlich gewesen sei: "Ich hatte es versaut." So viel zur Verknüpfung von dumm/faul und dick, die sich folgerichtig durch das ganze Werk zieht.
Das Buch hätte unter anderen Umständen womöglich ein starker Selbsterfahrungsbericht werden können - das merkt man vereinzelt an gerade solchen Stellen, an denen es sich die Autorin entgegen ihrer eigenen Überzeugung erlaubt, zu "jammern" und Gefühle und Ängste im Hinblick auf ihr Dicksein beschreibt, die sie offenbar durchaus auch gelegentlich hat/hatte, wenn sie gerade mal vergisst, dagegen anzuschreien.
Statt dessen ergeht sich die Autorin in langatmigen ungefähren sowie beliebigen semi-wissenschaftlichen Darstellungen zu Ernährungsfragen, die schon lange keiner mehr stellt. Ein ganzes Kapitel darüber, warum die Ananas-Diät Quatsch ist? Echt jetzt? Und wie gut, dass das hier nun auch endlich mal einer gesagt hat: "Burger machen einen nicht fetter, als Knäckebrot es tun würde, es kommt auf die Menge an." (S.127) Jahaa, das ist sie offenbar - die gnadenlose Ehrlichkeit, die Dicke endlich aus ihrem Selbstmitleid reißt.
Nicole Jäger berichtet, dass sie sich mit ihrem Höchstgewicht von 340 kg gegen eine bariatrische Magen-OP entschieden hat, obwohl der Antrag bereits genehmigt worden war. Stattdessen beschloss sie, eine 2-Prozent-Frau zu werden, nachdem sie gehört hatte, dass nur zwei Prozent aller Menschen mit einem BMI über 45 es schaffen, ohne eben jene OP langfristig dünner zu werden. Die Herausforderung, allein auf weiter Flur das fast Unmögliche zu schaffen, weckte ihren "Kampfgeist" (S. 71). Heute lädt sie ihre Leserinnen alle dazu ein, 2-Prozent-Frauen zu werden. So wie Millionäre gern Nichtmillionären Bücher verkaufen, in denen sie erklären, wie das schier Unmögliche dann für nur 12,99 eben doch für alle möglich wird.
Wer es glaubt, wird - vermutlich - trotzdem nicht dünn.
NACHTRAG: Die Rezension zum zweiten Werk der Frau Jäger (Nicht direkt perfekt) gibt es hier.
NH
*Denkst du dir diesen ganzen Scheiß eigentlich nur aus, während du einfach immer weiter redest?