Donnerstag, 3. April 2014

Idiotenfund

"Mein Name ist Thomas Grau. Ich bin Idiotenjäger und stets auf dem Weg zum nächsten Idiotenfund."*

 
Niemand - also, zumindest niemand, der noch alle Hühner auf dem Hof hat - käme wohl auf die absurde Idee, einer Person mit dunkler Hautfarbe den Rat zu geben, doch endlich aufzuhören, sich über die sowohl offene als auch unterschwellige Diskriminierung aufgrund besagter Hautfarbe zu beschweren, weil diese Abweichung von in dem jeweiligen Kulturkreis gefühlten Majoritätsnormen ja schließlich nicht die Schuld derer sei, die diskriminieren.

Niemand, der halbwegs bei Vernunft ist, würde einem Menschen mit dunkler Hautfarbe nahelegen, sich diese bleichen zu lassen, um "normal" und damit nicht mehr das Opfer von Diskriminierung zu werden. Obwohl das natürlich sehr wohl geht. Und im Klima eines globalen Schönheitsrassismus, der untrennbar mit der Vorherschaft westlicher Schönheitsideale verknüpft ist, natürlich auch überall geschieht. Um prominente Beispiele zu finden, muss man nicht lange suchen: Auch Beyoncé und Rihanna waren scheinbar nicht immer ganz so blass wie heutzutage. Zudem werden weltweit tausendfach Nasen schmaler operiert, Lippen verkleinert und Schlupflider verändert, damit die Gesichtszüge westlich-kaukasischen Vorbildern gleichen.

Auch würde man wohl kaum jemandem, der von rassistischer Diskriminierung betroffen ist, dazu raten, sich einfach nicht um die feindliche Welt da draußen zu kümmern, und sich stattdessen schlicht selbst zu lieben, weil es dann offenbar egal ist, ob man täglich die öffentliche, mediale Verächtlichmachung und Stigmatisierung der eigenen Person aushalten muss, geringere berufliche Aufstiegschancen hat, etc. Möglicherweise hilft ein dickes Fell, die individuelle Situation besser zu meistern - eine Lösung des Problems an sich ist sie keinesfalls.

JA, ABER FETT...

...ist etwas ganz anderes als Hautfarbe/Geschlecht/Behinderung/sexuelle Orientierung, oder? Am Fettsein ist man ja selber SCHULD. Das ist kein Schicksal, das ist das weithin sichtbare Ergebnis einer FALSCHEN Lebensführung. Wären Dicke nicht so faul, dumm, trotzig, deviant, etc., würden sie sich anpassen. Und abnehmen. Oder sie hätten es gar nicht erst so weit kommen bzw. sich so gehen lassen. Und müssten dann auch nicht rummaulen, dass sie Benachteiligung erfahren.

Sizeism, die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Körpermasse, gilt als die letzte gesellschaftlich noch immer hinreichend und weitgehend akzeptable Art der Selbsterhöhung auf Kosten anderer. Dicken gegenüber darf man sich noch immer klar überlegen fühlen und dieses auch unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Es handelt sich einerseits um ästhetische, aber natürlich vor allem um moralische Überlegenheit. Eben aus den oben dargelegten, wenn auch reichlich schattigen Gründen. Wer sich selbst durch sein "Fehlverhalten" über die Grenzen des "Normalen" und "Richtigen" katapultiert, lädt Schuld auf sich. Schädigt gar das Gemeinwesen. Und gehört ermahnt. Am besten pausenlos. Das bringt dann auch das eigene Selbstwertgefühl so richtig ordentlich voran.

Natürlich sind die Gründe für ein hohes Körpergewicht vielfältig. Natürlich sind Körper ohnehin verschieden. Natürlich kann nicht jeder schlank werden, wenn er nur diszipliniert genug ist. Natürlich ist ein besonders hohes Gewicht oftmals gerade das Resultat jahrelanger Diäten, also quasi des verbissenen Kampfes um "Normalität". Aber im Grunde ist das alles vollkommen unerheblich. Denn Dicke schulden niemandem Rechenschaft für ihr Dicksein. Was die Gesellschaft ihnen allerdings schuldet, ist das, was sie allen Menschen aufgrund ihres Menschseins schuldet - Gleichbehandlung und Respekt.

Bei Blog-Posts, in denen es um Diäten oder Sex geht, verdreifacht sich hier regelmäßig die Klickzahl. Insbesondere die Kombination der Stichworte "Vorher" und "Diät" im vorangegangenen Beitrag war in dieser Hinsicht ausgesprochen erfolgreich. Wollte ich dieses Blog zu alter Blüte puschen, müsste ich vermutlich einfach nur wieder von meinem Diät-Alltag erzählen, meine Sit-ups filmen, pfiffige, kalorienarme Snacks erfinden und Graphiken über meinen Gewichtsverlauf erstellen.

Das alles werde ich selbstverständlich nicht tun.

Trotzdem - in einer essgestörten Gesellschaft gehen Diäten immer. Fünfundreißig Prozent aller Diätassistentinnen in Österreich sind ja schon geradewegs auf dem Weg in die Orthorexie**- wäre doch gelacht, wenn das für den Rest der Weltbevölkerung nicht auch zu schaffen ist. Und kaum eine Frau, in der das Thema Ernährung nicht zumindest gedanklich die Missionarin hervorbringt (ich nehme mich hier nicht aus). Denn über RICHTIGE Ernährung wissen wir alle Bescheid. Und unser Gott ist in der Regel größer als all die anderen - insbesondere dann, wenn wir gerade mit irgendeiner hinreichend komplexen Methode ein paar Kilos losgeworden sind.

In einer essgestörten Gesellschaft herumzuerzählen, dass Diäten langfristig dick machen und statistisch sogar die Lebenszeit verkürzen, und dass Ernährungsrichtlinien mitunter schneller veraltet und für die Tonne sind, als wir den Nährwert von Magerquark nachschlagen können***, ist, als ob man sich auf einer Tagung Wiedergeborener Christen dazu aufschwingt, seine Zweifel bezüglich der Wahrscheinlichkeit einer unbefleckten Empfängnis durch ein Megaphon zu brüllen. Die Chancen auf einen Rausschmiss stehen gut. Das ändert jedoch nichts daran: Starre Ernährungsvorschriften sind Religion. Kollektive Gewichtskontrolle ist Religion. Womit wir dann auch geradewegs wieder bei dem Konzept der Schuld wären.

Denn was ist schon Religion ohne Schuld? Was von Dicken gefordert wird, ist selbstverständlich keine Anpassung an eine statistische "Normalität". Die Realität in Deutschland ist, dass die meisten von uns (mehr als die Hälfte) schon längst als "übergewichtig" verbucht werden. Die "Normalität", die durch Missachtung, Anfeindung und Respektlosigkeit erzwungen werden soll, ist ein kulturelles, ideologisches Ideal****. Es ist, um genau zu sein, Fiktion. So wie die unbefleckte Empfängnis halt. Und dient zur moralischen Selbsterhöhung. So wie Scripted Reality im Nachmittagsfernsehen.

Körperfett hat nichts, aber auch nichts mit Moral zu tun.

Soviel dazu.

NH


*Google Werbespot. Herr Grau jagt eigentlich "Meteoriten", aber jeder versteht nur "Idioten".
**Orthorexie ist der krankhafte Zwang, sich "gesund" zu ernähren, wobei die selbstgesteckten Regeln immer strenger werden. Ich beziehe mich hier auf eine Studie von Wissenschaftlern der der Universität Innsbruck und der Medizinischen Universität Wien, veröffentlicht in der Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 11 S. 436-439
***z.B. Rajiv Chowdhury (Cambridge University) et. al. - Studie zum Einfluss von tierischen Fetten auf die Herzgesundheit (vor wenigen Tagen veröffentlicht)
****Joyce L. Huff "Access to the Sky" in The Fat Studies Reader (New York University Press, 2009)