Freitag, 31. August 2012

Zahlenspiele


Gestern wurde ich angesprochen, ob ich abgenommen hätte: „Ihr Gesicht wirkt irgendwie dünner.“ Und ich sagte: „Ja, nicht viel, aber ein paar Kilos, durch diesen Hartz-IV-Selbstversuch, den ich da mache. Ich lebe den ganzen August schon von Kartoffeln und Nudeln, Nudeln und Kartoffeln.“ Mein Gegenüber sah mich entsetzt an: „Aber so kann man doch unmöglich abnehmen.“ Ich stutzte erst angesichts der eigenartigen Platzierung dieser Feststellung. Denn ich hatte doch eben gerade gesagt, dass das geht. Die Vorurteile gegenüber Kohlenhydraten sitzen offenbar genauso tief wie der Glaube der meisten Leute, es gäbe eine richtige und eine falsche Art, sich zu ernähren.
Um es kurz zu machen: knappe 4 kg sind weg – unbeabsichtigt.
Im August  habe ich € 188,44 für Nahrungsmittel ausgegeben. Das sind noch immer € 58,44 am Ziel vorbei (€ 130), aber immerhin € 95,05 weniger als im Juli. Zu guter Letzt reingerissen hat mich noch ein Nachmittagausflug ins Einkaufszentrum mit meiner Freundin Rena. Ohne diesen wäre ich um ca. € 12 näher an der Ziellinie.  Aber Kaffee und Kuchen waren sozusagen ein Notfall.
Die Ausgaben im August verteilen sich wie folgt:
Obst/Gemüse (zumeist tiefgefroren und in Dosen, und viiiele Möhren): 27, 31
Fertigprodukte (Tiefkühlpizzen, Pommes, Dosensuppen, Kartoffelsalat etc.): 21,30
Brot: 15,88
Getränke: 10,32
Kartoffeln/Nudeln: 17,11
Eier (bio): 11,96
Tofu/Sojaprodukte:  14,97
Fett (Butter, Margarine, Öl): 17,32
Süßigkeiten: 10,72
Milchprodukte: 23,08
Snacks/Fast Food:  18,47
Gesamt: € 188,44
Hatte ich zwischendurch Hunger? Ja. Hauptsächlich, weil ich das, was ich zu essen hatte, irgendwann nicht mehr sehen konnte. Zwar bekommt man für € 1,69 einen Eimer Kartoffelsalat. Und am Anfang schmeckt der sogar ganz gut. Aber täglich ist er ehrlich nur schwer zu ertragen. Darum rät der BUND ja auch dazu, den Kauf von Großpackungen und damit die Verschwendung von Lebensmitteln zu vermeiden. ; ) Und so habe ich im August tatsächlich mehr Nahrung weggeworfen, als im Juli. Dröge Nudeln und Kartoffeln, Reste von Tiefkühlpizzen aus dem Dreierpack (für 83 Cent das Stück) und, ja, Kartoffelsalat.
Bei dem Versuch, die tägliche Basis aus Kohlenhydraten preiswert aufzupeppen, habe ich im August außerdem wieder Dinge auf meinen Speiseplan gesetzt, die dort vorher eigentlich kaum mehr vorkamen: Eier und Butter. Natürlich sind Kartoffeln mit Butter im Grunde etwas Feines. Und Rührei auch. Zwischendurch mal.
Kurios und verräterisch scheint in diesem Zusammenhang jedoch, dass Hartz-IV-Empfänger, die eine ärztlich verordnete Diät einhalten sollen, in Ausnahmefällen eine Aufstockung ihres Budgets für Nahrungsmittel beantragen können, offenbar, weil "gesunde", kalorienarme Kost dann doch mehr kostet.
Halten wir fest: Ich habe mich mit einer Ernährung, deren Schwerpunkt eindeutig auf preiswerten Kohlenhydraten und Fetten lag, NICHT noch dicker gefuttert. Insbesondere Fertiggerichte sind, unerwarteterweise, oftmals sensationell billig, aber wurden von mir mitunter nicht mehr aufgebraucht, weil die Eintönigkeit schlicht zu groß wurde. Mir persönlich ist dabei das Essen von Zeit zu Zeit buchstäblich vergangen. 
Am Ende ist das Budget also wieder, wenn auch weniger als im Juli, gesprengt worden. Und ich fühlte mich trotzdem erheblich eingeschränkt. Augenscheinlich fehlen mir wirklich Ideen, wie man innerhalb des Regelsatzes bleibt und dennoch für Schwung und Abwechslung sorgt.
Aber das wird nun anders, denn ich habe ab jetzt Unterstützung – einen Sparcoach, wenn man so will. Michael, seines Zeichens Immobilienverwalter UND Koch, hat eine Passion für beides: straffe Kostenkontrolle UND gutes Essen. Als ich mich beschwerte, dass man mit einem Budget von 130 Euro für Nahrungsmittel  nicht auskommen kann, sagte er, doch das geht. Als Praktikant hätten er und seine Mitbewohnerin sich sogar zusammen von weniger über Wasser gehalten. Und manchmal seien sie vom restlichen Geld zur Belohnung noch essen gegangen. Dass das nur mit eiserner Disziplin funktioniert und einem genauen Überblick über die Ausgaben, ist klar. Außerdem räumt er ein, dass Fleisch, Obst und Gemüse bei solch einer Ernährung Luxus sind, andererseits muss sie auch nicht freudlos und phantasielos sein, wenn man ein Händchen dafür hat, aus wenig was zu machen. Und weil er zusätzliche „kleine“ Herausforderungen im Alltag schätzt, um Kreativität und Disziplin immer weiter zu trainieren, hat er auch gleich vorgeschlagen, das Vorhaben auf weitere Hartz-IV-Kategorien auszuweiten. Ich war erst erschrocken und habe mir dann gesagt, „Na gut, kann ja nur schiefgehen.“
Erschrocken war ich anschließend allerdings auch über die € 1,39, die einem Hartz-IV-Empfänger offenbar pro Monat in der Abteilung „Bildung“ zugestanden werden. Die bissige Bemerkung, dass man sich angesichts dieses  Betrages wohl kaum beschweren darf, wenn Menschen zu dumm bleiben, um sich vom Hartz-IV-Satz so zu ernähren, dass sie fit, straff und leistungsfähig werden, verkneife ich mir jetzt mal (fast).
Vermutlich könnte jeder frische Hartz-IV-Empfänger einen Coach gebrauchen. Michael und ich haben nun folgenden „Versuchsaufbau“ festgelegt: Dokumentiert und gespart (ab Oktober) wird in den Kategorien Nahrungsmittel (Regelsatz € 128,46)*, Bekleidung (Regelsatz €30,40), Innenausstattung und Haushaltsgeräte (Regelsatz € 27,41), Gesundheitspflege (Regelsatz € 15,55), Freizeit und Kultur (39,96), Bildung (Regelsatz € 1,39), Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen (Regelsatz € 7,16), andere Waten und Dienstleistungen (Regelsatz € 26,50). Im September werden die Kosten nur festgehalten, um einen Überblick über die Ausgaben im „normalen Leben“ zu erhalten. Die Zielsetzung im Oktober ist dann, innerhalb der Regelsätze zu bleiben, oder zumindest mit dem Gesamtbetrag (€ 276,83) für diese Bereiche auszukommen. Michael wird mich hierbei mit Tipps und Tricks, und dem einen oder anderen Menüvorschlag  versorgen – und hoffentlich mit Motivation.
Für mich ist das Ziel ja immer…das Ziel. Für Michael selbst ist der Weg das Ziel – aber auch Selbstpositionierung: „Unterm Strich ist es natürlich Fasten. Schaut man sich das christliche Fasten an, so geht es in der Fastenzeit ja auch nicht nur ums Essen, sondern auch um geistiges und materielles Fasten. Man setzt sich eine gewisse Zeit, um sich selbst, oder den anderen zu zeigen, dass es auch ohne geht (Essen, Internet, Rauchen, Shoppen etc.). Wichtig sind dabei jedoch der gesetzte Zeitrahmen (Christl. 40 Tage) und das Ziel (Ostern). Und wir haben im Oktober nun auch eine Art Fastenzeit. Ich glaube es ist einfach wichtig, sich gelegentlich selbst vor Augen zu halten, was ist der Status Quo, wo bin ich jetzt, wo will ich hin und was brauche ich in meinem Leben und was nicht. Geht es auch ohne? Ohne was geht es, ohne was nicht? Dafür ist die Einteilung in die Kategorien. Im November wissen wir dann vielleicht besser, worauf wir leicht verzichten können, worauf schwer. Unser Projekt ist es also eine Art "Inventur". Wie im Supermarkt. Es wird vor der Saison eine Inventur gemacht. Danach hat man einen Überblick (über sich) und kann die nächsten Ziele verfolgen/die nächste Saison planen.“
Es ist natürlich wichtig, nicht zu vergessen,  dass dieses für uns eine zeitlich begrenzte Angelegenheit ist. Für andere Menschen eben nicht. Da ich mich ja aber bekanntlich momentan in einer ziemlich dringenden Phase der Neuorientierung befinde, kann Beschränkung einerseits vielleicht Raum schaffen für raumgreifende Ideen andererseits. Und Ordnung im Haushaltsbuch verhilft möglicherweise auch zu mehr Ordnung im Kopf.
Es geht also weiter. Dranbleiben. ;  )

*Zahlen variieren leicht, je nach Quelle.

NH

Dienstag, 21. August 2012

Das Kleid


Jaaa, also jetzt kommen wir doch langsam mal voran! Vor ungefähr anderthalb Jahren habe ich mich auf den Weg gemacht. Aus der Diät-Falle heraus. Irgendwie. Ich wusste, es lag etwas in der Luft.  Ich erkannte nur den Geruch nicht. Und ich fand DAS KLEID (rechts). In das wollte ich rein. Ich war mir nur nicht mehr ganz und gar sicher, in was für einer Größe. 36 oder 46?
Ich habe mich immer darüber beklagt, dass es für Dicke nichts Anständiges anzuziehen gibt. Und ich habe mich immer lustig gemacht über Bärchen auf T-Shirts und knisterndes Polyester, das die meisten Produzenten von Übergrößen ihren Kundinnen / Opfern weiterhin zumuten. Als ich DAS KLEID vor einem Jahr kaufen wollte, wusste ich nicht wo. Ich dachte daran, es für mich nähen zu lassen.  Aber das ist nun nicht mehr nötig, denn hier ist es (oder zumindest in sehr ähnlicher Ausführung). Und das gerade rechtzeitig zum Eintritt in eine weitere Entwicklungsphase als neue, ermutigte Dicke. Es gibt tatsächlich schöne Kleider jenseits der 46. Nicht so oft in deutschen Fußgängerzonen, aber im Internet. Das habe ich nur nie gewusst, weil mein Hauptinteresse als Dicke bisher immer gewesen ist, mich in meiner Kleidung unsichtbar zu machen. Nun ist die Situation wie folgt:

Ich habe das Kleid, aber nicht die verdammte Chuzpe, es anzuziehen.

Lesley Kinzel zitiert in „Two Whole Cakes“ eine Leserin, die sich als Dicke in Rock und hohen Schuhen vorkam, wie ein „elephant in drag“. Aber die Tatsache, dass eine große Menge Körperfett grundsätzlich gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit entgegensteht, kann auch befreiend sein. Wenn dicke Körper femininen Standards ohnehin nie entsprechen können und zumindest bis die Hölle zufriert keinen Blumentopf in dieser Disziplin gewinnen werden, warum sich dann nicht endlich aus dem Wettbewerb verabschieden und eigene Regeln aufstellen? Und wenn Dicken die Möglichkeit der modischen Selbstgestaltung und Selbstrepräsentation von Designern und der Modeindustrie weitgehen vorenthalten werden sollen, warum dann überhaupt noch den Versuch machen, sich anzupassen? Wenn Mode eine Sprache ist, warum nicht selbst eine eigene, laute und deutliche  erfinden?

Die Antwort war/ist: Fatshion (fat + fashion).

Man könnte nun denken, dass es bei Fatshion in der Hauptsache darum geht, als Dicke das Recht auf Mode als kreatives Ausdrucksmittel einzufordern. Aber laut Kinzel geht es um unendlich viel mehr, als nur „auch schick“ sein zu dürfen. Es geht im Wesentlichen um die oben bereits erwähnte eigene Sprache. Ein Körper, der  öffentlich in einem Kleid steckt, in dem er in den Augen des Publikums eigentlich nicht zu stecken verdient, weil er die Voraussetzungen nicht erfüllt, ist eine Botschaft an eben jenes Publikum – die Gesellschaft.
Fatshion ist oftmals bunter, schriller, kühner UND ENGER als bloße Mode. Da ihre Trägerinnen im Rennen um standardisierte Weiblichkeit ohnehin keine Chance haben, re-interpretieren und überspitzen viele Fatshionistas diese Standards auf spielerische und oft  ironische Art und gehen damit in der Tat ähnlich vor wie Drag Queens. „Femmeness“ (als Alternative zur  restriktiven, ausschließenden und diskriminierenden  Definition von Weiblichkeit) hat denn auch ihren Ursprung in der LGBTQ Community.
Damit kaschiert Fatshion den dicken Körper endgültig und definitiv nicht mehr, sondern macht ihn weithin sichtbar. In Blogs im Internet – und auf der Straße, wenn man sich auf eben jene traut. Diese Erhöhung der Sichtbarkeit von Dicken gegen den verächtlichen Widerstand und die ungnädigen Sehgewohnheiten der Umwelt macht Fatshion politisch und zu einer feministischen und fettaktivistischen Strategie. Fatshion hat als wahres Ziel nichts Geringeres als eine auf Sichtbarkeit und Abbildung basierende Revolution.
Fatshionistas brauchen Mut. Auf den Seiten vieler Fatshion-Bloggerinnen beschreiben diese, was für eine mühsame innere Reise sie hinter sich gebracht haben, um das Selbstbewusstsein zu entwickeln, das sie jetzt trägt.
Und ich frage mich nun: Wenn ich täglich ohnehin eine Extraportion Mut benötige, um aus dem Haus zu gehen, wie viel brauche ich dann wohl erst in einem engen, knielangen, knallgelben Kleid?Und was ist das eigentlich für eine abgefahrene Welt, in der IRGENDWER Mut braucht, um sich ein gelbes Kleid anzuziehen?

Hier noch einige Fatshion-Blogs:

NH

Donnerstag, 16. August 2012

THE UGLY GIRL PROJECT: Cryptozoology / Kryptozoologie









© Nicola Hinz 2012


P.S.
Ich glaube ja an das Monster von Loch Ness. Das ist meine Religion. ; )

Und ich liebe die körnigen Unterwasseraufnahmen, die Mitglieder verschiedener wissenschaftlicher Expeditionen von Teilen des Monsters gemacht haben wollen. Was für Fantasie (!) man aufbringen muss, um das zu „erkennen“, was der, der das Foto für aussagekräftig befunden und veröffentlicht hat, möglicherweise überzeugt war, auf dem Bild zu sehen! Weil er es so dringend sehen wollte. Das hier ist übrigens ein Bild von Nessies Flosse aus dem Jahr 1972.

Das Monster posiert nicht. Es weicht aus. Und schlägt Haken. Es will nicht ins Bild. So wie ich im Badeanzug. Sich selbst zu finden, ist  manchmal so, wie der Versuch, sein Wundertier zu erwischen.

NH

Mittwoch, 8. August 2012

Am Beckenrand


Abseits der Frage, von was ich mich auf Grundsicherungsniveau ernähren soll, stellt sich in den letzten Tagen immer mehr und dringlicher eine ganz andere. Zwar habe ich inzwischen  schon irgendwie begriffen, dass ich ab jetzt  keine Diät mehr machen und nicht mehr dünn werden werde (und das ist etwas, womit sich mein Umfeld tatsächlich noch immer schwer tut), aber wie ich von „erst leben wenn dünn“ zu „leben jetzt gleich“ komme, ist mir noch nicht ganz klar. Hinzu kommt, dass die Entschlossenheit, aus dem Diät-Karussell auszusteigen, nicht automatisch auch noch dazu ausreicht, einen ins Abenteuerland zu tragen.

Was macht man nach vierzig Jahren mit einem aufgeschobenen Leben? Und wie hört man auf, aufzuschieben?

Was erlebt ein Dicker in vierzig Jahren medialer, gesellschaftlicher und gar politischer Diffamierung? Er paddelt täglich durch Fluten von Bildern, die untergewichtige, vorgetäuschte und unerreichbare Schönheit zur Bürgerinnenpflicht machen. Er lebt damit, den Beweis seines vermeintlichen Versagens Tag ein Tag aus weithin sichtbar durch die Welt zu schleppen – und mit der daraus resultierenden Scham. Er lebt damit, unzulänglich, minderwertig und lächerlich zu sein. Und an allem, was ihm aufgrund seines Körperumfanges widerfährt,  ist er selbst schuld. Alles, was die Hexenjagd auf Dicke ausmacht, unterscheidet sich in nichts von der Diskriminierung und Diffamierung anderer Minderheiten. Der Nutzen ist immer gesellschaftliche Abgrenzung und Selbsterhöhung.

Das ist es, was sie (Medien, Diätindustrie und Politik) tun: Sie stehlen und zerstören Leben. Sie verändern Lebensläufe, indem sie eine gesellschaftliche Realität formen, in der Toleranz im Hinblick auf Körperumfang nur schwer eingefordert werden kann und in der gleichzeitig das Selbstbewusstsein und die Kraft von betroffenen Individuen, sich dennoch im Leben zu behaupten, verstümmelt werden. Ein Mensch, der durch Selbstzweifel und fest eingepflanzte Selbstverachtung nur schlecht gewappnet ist, trifft auf eine Welt, die ihn mehrheitlich sofort als „falsch“ erkennt und entsprechend reagiert. Selbst wenn man, wie ich, eher selten ganz direkte und offene Angriffe erlebt hat, ist eine quasi atmosphärisch erzeugte „Grundentmutigung“  ganz klar ein bestimmendes  Thema. Man zieht sich zurück. Man neigt dazu, sich zu ducken und zu verstecken und hofft inständig, eines Tages „normal“ zu werden. Das „normale“ und damit gute Leben kann erst dann beginnen, wenn der Körper gebändigt und halbwegs gesellschaftsfähig ist. Jahre gehen ins Land, und man verbringt sie weitgehend damit, auf den berühmten „Klick“ zu warten. 
 
Es ist schwer, auch im Kopf keine Diät mehr zu machen. Es ist schwer, nicht mehr abzuwarten. Es ist als ob man ewig in die Sonne gestarrt hat, und nun hofft, dass die grünen Punkte vor den Augen endlich aufhören zu tanzen.

Die Verunsicherung, in einem prekären, weil immer mal wieder übergewichtigen Körper zu leben, hat in meinem Leben bisher ALLES geprägt und beschnitten: berufliche Ambitionen und Erfolge, soziale und romantische Beziehungen, sowie alles andere, was das Leben fröhlich und spannend machen könnte.

Die Liste der Dinge, die ich zu einem bestimmt Zeitpunkt unterlassen und mir nicht gestattet habe, weil ich glaubte, dafür zu dick zu sein, ist endlos (und das Folgende ist nur eine kleine Auswahl):

-  schwimmen gehen
- tanzen gehen
- auf eine Party gehen
- Geisterbahn fahren
- eine Rede halten
- eine Einladung zum Essen annehmen
- Sex
- Gesangsstunden nehmen
- Theater spielen
- Fliegen
- zum Arzt gehen
- am Strand spazieren gehen
- zum Frisör gehen
- für einen Auftrag bewerben
- zu einer Vernissage gehen
- berufliche Kontakte pflegen
- ein Fernsehinterview geben

Die Erkenntnis, dass man all das ab jetzt doch dick tun muss, weil es dünn nicht mehr geben wird und man sonst den Rest seines Lebens schlicht und ergreifend verpasst, sorgt bei mir neben großem Erstaunen in den letzten Tagen auch für  eine Heidenangst. Allerdings ist sie auch der Sprung von einem sinkenden Dampfer ins Rettungsboot – man hat auf jeden Fall bessere Chancen, doch noch ans Ufer zu kommen, als wenn man geblieben wäre.

Es ist eine beliebte Theorie unter Therapeuten, dass ein runder Körper als Schutzwall gegen persönliche Ansprüche dient, die zu erfüllen man entweder nicht in der Lage oder eigentlich gar nicht bereit ist. Das Fett ist dieser Interpretation nach Alibi und Wächter zugleich und bewahrt uns vor dem Stress, den es bedeuten würde, sich z.B. tatsächlich in einer Produktion von Agatha Christies Mausefalle im Gemeindezentrum auf die Bühne zu stellen. Es ist nicht die Gesellschaft mit ihren Normen, die einen  sabotiert, sondern der eigene Körper, der sich so  Anforderungen und Herausforderungen entziehen will. Und schwupp - ist man abermals selbst für den ganzen Mist verantwortlich. Ich bin keine Anhängerin dieses Erklärungsversuches mehr, weil der unterstellte Mechanismus natürlich nur funktioniert, solange man sich auf die Außenwelt und ihre offensichtliche Missbilligung des dicken Körpers verlassen kann. In einer Welt, in der Dicke keinen besonderen Mut dazu bräuchten, im Mittelpunkt zu stehen, wäre es ganz offenkundig eine völlig sinnlose Strategie. Was war also zuerst da? Das Fett, oder das angeknackste Selbstbewusstsein? Fett ist nur Fett. Bis man ein Drama daraus macht. Ich war nur ein großes, molliges Kindergartenkind. Bis man mir sagte, dass ich ein dickes, fettes Sorgenkind sei.

Gegen Entmutigung hilft nur konsequente Ermutigung, und ich persönlich finde ja, dass auch Wut dabei  sehr hilfreich ist. Zumindest am Anfang. Wut auf die vertane Zeit. Wut auf alle, die einen entmutigt haben – und es weiterhin versuchen werden. Sie sollten sich besser warm anziehen. Freude hilft natürlich auch. Freude, dass es vielleicht noch nicht zu spät ist. Freude, dass das Leben endlich wirklich anfängt.

Und ich gehe dann jetzt erst mal schwimmen. Wer schwimmt, sinkt ebenfalls nicht.