Freitag, 19. April 2019

Endometrium - Revisited


Krebs


Am 11. April wäre meine Mutter 76 Jahre alt geworden. Sie ist 2009 gestorben - an Eierstockkrebs. Mit dem Tod meiner Mutter wurde ich sterblich. Da war ich Ende dreißig.

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass der Tod meiner Mutter das Schlimmste sein würde, was mir passieren kann. Und das war er auch, glaube ich. Darum bin ich zwischendurch immer mal wieder erstaunt, dass ich den Tod meiner Mutter überlebt habe. Gleichwohl nicht ohne immer und ewig bleibende Blessuren.

Im Sommer 2009 habe ich quasi im Universitätsklinikum Eppendorf gewohnt. Meine Mutter wurde mit Nebenwirkungen ihrer zweiten Chemo eingeliefert und verstarb dort zweieinhalb Monate später. Streng genommen nicht am Krebs. Sondern an einer Lungenentzündung.

Ich schlief in den letzten Tagen bei ihr auf der Palliativstation, aber in den Wochen davor pendelte ich zwischen Eppendorf und Reinbek, einem Vorort, in dem ich damals wohnte, und wo der Kater darauf wartete, Futter und etwas Aufmerksamkeit zu bekommen. Manchmal fuhr ich mehrmals am Tag hin und her. Ich schleppte Obst und Blumen aus ihrem Garten und frische Kleidung und Kosmetika und Fotoalben ins Krankenhaus. Die Fotoalben wünschte sie sich, vermutlich, um Bilanz zu ziehen. Und ich rannte und fuhr wie betäubt immer über die gleichen, schweren Wege. Und hatte bald Angst, sie nicht mehr lebend vorzufinden, wenn ich zu lange wegblieb.

Ich habe ein paar Male eine Kamera laufen lassen, als ich das Krankenhaus verließ oder dort wieder ankam. Obwohl die Zeit fürchterlich war, wollte ich auf keinen Fall vergessen, wie es war. Die Clips kommen jetzt zum Einsatz, weil ich offenbar mit meiner Verarbeitung am richtigen Punkt angekommen bin. Und ja, das Video beschreibt in seiner Zähigkeit und Wackeligkeit die quälerischen Tage ziemlich gut.



Krebsvorstufe


2012 habe ich hier auf dem Blog ein Bild von einem blutigen Stückchen meines Endometriums ( meiner Gebärmutterschleimhaut) gepostet. Das gefiel einigen Leserinnen damals nicht besonders, aber ich war ja noch nie kleinlich, wenn es um die Preisgabe von Dingen geht, die aus meiner Sicht eben Beides sind: privat, aber auch politisch. Heute freue ich mich regelrecht, dass ich meiner Gebärmutterschleimhaut ein wenig Raum im Internet gegeben habe, denn mittlerweile habe ich keine mehr.

Die Beschäftigung mit den Organen meines Unterleibes kam nicht von ungefähr. Ich war offenkundig durch die Geschichte meiner Mutter traumatisiert und gleichzeitig froh, nicht von eben jenem Unterleib schon längst getötet worden zu sein. Da ich vor dem Ableben meiner Mutter unsterblich gewesen war, hatte ich konsequenterweise auch auf regelmäßige gynäkologische Sicherheitsüberprüfungen verzichtet. Überhaupt war ich nur in absoluten Notfällen in Wartezimmern anzutreffen. Ich hatte keine Zeit und keine Lust, und als ich dann aufgescheucht durch die Erkrankung meiner Mutter damit begann, regelmäßige Untersuchungen machen zu lassen, brach natürlich, wie hätte es auch anders sein können, die Hölle über mich herein.

Denn es stellte sich heraus, dass mein Unterleib, so wie mein ganzer Körper, aus medizinischer Sicht, nicht regelrecht war. Er hatte ständig Zysten an den Eierstöcken und immer wieder eine viel zu hoch aufgebaute Gebärmutterschleimhaut. Mein Wiedereinstieg in das Vorsorgekarussell war der Startschuss für ein Jahrzehnt voll ständiger Überwachung, Diagnostik und (vielleicht irrationaler aber dennoch unbezwingbarer) Todesangst. Ausschabungen, Bluttests und Bauchspiegelungen sowie die Entnahme eines Eierstockes, um ihn besser unters Mikroskop legen zu können - ich ließ nichts aus. All das und alles immer mit dem Aktenvermerk der familiären Vorbelastung.

Allerdings war nie was. 

Bis zum März dieses Jahres, als in meinem Endometrium atypische Zellen gefunden wurden. Also quasi eine Krebsvorstufe. Etwas, das vielleicht bösartig werden könnte. Die Ärztin, die die Abrasio im UKE vorgenommen hatte, hatte mir gesagt, alles sähe normal aus, und ich würde den histologischen Befund per Post bekommen, es sei denn, irgendetwas Ernstes liege vor. Dann würde sie mich anrufen. Aber davon ginge sie ja nun wirklich nicht aus...

Und dann rief sie an, und ich war nicht zu Hause. 

Es war, als sähe ich mich selbst in einem Film. Während ich ihre Nachricht abhörte und dann versuchte, sie zurückzurufen, warf ich mit zittrigen Händen Dinge um und fing an zu schluchzen, als ich sie nicht erreichte und stattdessen in der Warteschleife gefangen war. Ich war erledigt. Ich war mir absolut sicher, dass meine familiäre Vorbelastung mich jetzt nach all den Jahren der Panik tatsächlich eingeholt hatte. Und in meinem Testament stand noch immer meine Mutter als Erbin! Ich war nicht vorbereitet. Und ich hatte noch so viel auf meiner Bucket List. Ich redete laut und verheult auf das Personal der Gynäkologie ein, als ich endlich verbunden wurde und bekam so vermutlich die Sonderbehandlung einer Nachricht direkt aus dem OP, in dem meine Ärztin gerade stand und arbeitete: Alles nicht tragisch, aber muss gemacht werden.

Nun habe ich also keine Gebärmutter mehr. Ich habe sie in dem Krankenhaus gelassen, in dem ich meine Mutter verloren habe. Ich lag auf derselben Station, wie sie zunächst auch. Vielleicht sogar im selben Zimmer - daran erinnere ich mich nicht. Vielleicht war es auch das daneben. Der Weg auf die Station war wieder schwer. Als ich mit meinem Rollköfferchen an den Geschäften auf dem sogenannten "Boulevard" vorbeischepperte, musste ich ein wenig weinen. Außerdem wurde mir schwindlig und ich schlingerte so vor mich hin. Die Entscheidung für das Krankenhaus war übrigens dennoch eine Bewusste. Ich halte die Versorgung dort trotz allem noch immer für die sicherste, die man hier in Hamburg bekommen kann.

Ab jetzt wird es nach einem Jahrzehnt der Angst vermutlich ruhiger werden. Ich habe zwei Gründe zur Sorge weniger, denn der Eileiter zum verbleibenden Eierstock ist auch entfernt worden. Offenbar legt die aktuelle Forschung nahe, dass Eierstockkrebs im Eileiter beginnt und nicht im Eierstock selbst. Meine Mutter hatte auch mit Mitte vierzig eine Hysterektomie. Hätte man damals die Eileiter nicht stehenlassen, wäre sie womöglich noch hier. Es bringt nichts, sich mit solchen Überlegungen zu belasten - ich weiß. Ich habe eben Glück, dass ich erst heute 47 bin.

Oder schon 47. Über die Lebensmitte hinaus. Und mit einer Bucket List (Liste der Dinge, die frau vor ihrem Tod erleben und erledigen will) bis in den Himmel. Man könnte meinen, dass ich mich, nachdem das Theater mit meiner Gebärmutter nun ein gutes Ende gefunden hat, jetzt endlich mit frischem Mut sogleich an die Abarbeitung der Punkte auf eben jener Liste machen sollte. Aber ich fühle mich noch immer ein wenig betäubt. So, wie man nach dem Abschluss großer und anstrengender Projekte mitunter erst einmal ein wenig orientierungslos ist. Auch will ich mir nicht gleich schon wieder neue Sorgen machen - Sorgen, dass ich einfach nicht genug aus meinem Leben mache.

Und so schließe ich einfach mit Kylie Minogues "Dancing". Es ist vielleicht ein wenig kitschig, aber es scheint mir nicht unpassend. Das Wortspiel "I wanna go out dancing" (Ich will tanzen gehen oder Ich will tanzend sterben) hat es mir angetan - besonders auch vor dem Hintergrund, dass Kylie Minogue selbst Krebserfahrung hat.


Blick von meinem Bett im UKE - April 2019

Nachtwanderung durch die Station - UKE April 2019

UKE 2009

Das Zimmer meiner Mutter - UKE 2009

Auf dem Weg nach Hause vom UKE 2009

Meine Mutter nach ihrer Chemotherapie

NH