Abseits der Frage, von was ich mich auf Grundsicherungsniveau ernähren soll, stellt sich in den letzten Tagen immer mehr und dringlicher eine ganz andere. Zwar habe ich inzwischen schon irgendwie begriffen, dass ich ab jetzt keine Diät mehr machen und nicht mehr dünn werden werde (und das ist etwas, womit sich mein Umfeld tatsächlich noch immer schwer tut), aber wie ich von „erst leben wenn dünn“ zu „leben jetzt gleich“ komme, ist mir noch nicht ganz klar. Hinzu kommt, dass die Entschlossenheit, aus dem Diät-Karussell auszusteigen, nicht automatisch auch noch dazu ausreicht, einen ins Abenteuerland zu tragen.
Was macht man nach vierzig Jahren mit einem aufgeschobenen
Leben? Und wie hört man auf, aufzuschieben?
Was erlebt ein Dicker in vierzig Jahren medialer,
gesellschaftlicher und gar politischer Diffamierung? Er paddelt täglich durch Fluten
von Bildern, die untergewichtige, vorgetäuschte und unerreichbare Schönheit zur
Bürgerinnenpflicht machen. Er lebt damit, den Beweis seines vermeintlichen Versagens
Tag ein Tag aus weithin sichtbar durch die Welt zu schleppen – und mit der
daraus resultierenden Scham. Er lebt damit, unzulänglich, minderwertig und
lächerlich zu sein. Und an allem, was ihm aufgrund seines Körperumfanges
widerfährt, ist er selbst schuld. Alles,
was die Hexenjagd auf Dicke ausmacht, unterscheidet sich in nichts von der Diskriminierung
und Diffamierung anderer Minderheiten. Der Nutzen ist immer gesellschaftliche
Abgrenzung und Selbsterhöhung.
Das ist es, was sie (Medien, Diätindustrie und Politik) tun:
Sie stehlen und zerstören Leben. Sie verändern Lebensläufe, indem sie eine
gesellschaftliche Realität formen, in der Toleranz im Hinblick auf Körperumfang
nur schwer eingefordert werden kann und in der gleichzeitig das
Selbstbewusstsein und die Kraft von betroffenen Individuen, sich dennoch im
Leben zu behaupten, verstümmelt werden. Ein Mensch, der durch Selbstzweifel und
fest eingepflanzte Selbstverachtung nur schlecht gewappnet ist, trifft auf eine
Welt, die ihn mehrheitlich sofort als „falsch“ erkennt und entsprechend
reagiert. Selbst wenn man, wie ich, eher selten ganz direkte und offene
Angriffe erlebt hat, ist eine quasi atmosphärisch erzeugte „Grundentmutigung“ ganz klar ein bestimmendes Thema. Man zieht sich zurück. Man neigt dazu,
sich zu ducken und zu verstecken und hofft inständig, eines Tages „normal“ zu
werden. Das „normale“ und damit gute Leben kann erst dann beginnen, wenn der
Körper gebändigt und halbwegs gesellschaftsfähig ist. Jahre gehen ins Land, und
man verbringt sie weitgehend damit, auf den berühmten „Klick“ zu warten.
Es ist schwer, auch im Kopf keine Diät mehr zu machen. Es
ist schwer, nicht mehr abzuwarten. Es ist als ob man ewig in die Sonne gestarrt
hat, und nun hofft, dass die grünen Punkte vor den Augen endlich aufhören zu
tanzen.
Die Verunsicherung, in einem prekären, weil immer mal wieder
übergewichtigen Körper zu leben, hat in meinem Leben bisher ALLES geprägt und beschnitten: berufliche
Ambitionen und Erfolge, soziale und romantische Beziehungen, sowie alles andere,
was das Leben fröhlich und spannend machen könnte.
Die Liste der Dinge, die ich zu einem bestimmt Zeitpunkt unterlassen und mir nicht gestattet habe, weil ich glaubte, dafür zu dick zu sein, ist endlos (und das Folgende ist nur eine kleine Auswahl):
- schwimmen gehen
- tanzen gehen
- auf eine Party gehen
- Geisterbahn fahren
- eine Rede halten
- eine Einladung zum Essen annehmen
- Sex
- Gesangsstunden nehmen
- Theater spielen
- Fliegen
- zum Arzt gehen
- am Strand spazieren gehen
- zum Frisör gehen
- für einen Auftrag bewerben
- zu einer Vernissage gehen
- berufliche Kontakte pflegen
- ein Fernsehinterview geben
Die Erkenntnis, dass man all das ab jetzt doch dick tun
muss, weil es dünn nicht mehr geben wird und man sonst den Rest seines Lebens
schlicht und ergreifend verpasst, sorgt bei mir neben großem Erstaunen in den
letzten Tagen auch für eine Heidenangst.
Allerdings ist sie auch der Sprung von einem sinkenden Dampfer ins Rettungsboot
– man hat auf jeden Fall bessere Chancen, doch noch ans Ufer zu kommen, als
wenn man geblieben wäre.
Es ist eine beliebte Theorie unter Therapeuten, dass ein
runder Körper als Schutzwall gegen persönliche Ansprüche dient, die zu erfüllen
man entweder nicht in der Lage oder eigentlich gar nicht bereit ist. Das Fett ist dieser Interpretation nach Alibi
und Wächter zugleich und bewahrt uns vor dem Stress, den es bedeuten würde, sich
z.B. tatsächlich in einer Produktion von
Agatha Christies Mausefalle im Gemeindezentrum auf die Bühne zu stellen. Es ist
nicht die Gesellschaft mit ihren Normen, die einen sabotiert, sondern der eigene Körper, der sich
so Anforderungen und Herausforderungen entziehen will. Und schwupp - ist man abermals selbst für den ganzen Mist verantwortlich. Ich bin keine Anhängerin dieses Erklärungsversuches mehr,
weil der unterstellte Mechanismus natürlich nur funktioniert, solange man sich
auf die Außenwelt und ihre offensichtliche Missbilligung des dicken Körpers verlassen
kann. In einer Welt, in der Dicke keinen besonderen Mut dazu bräuchten, im
Mittelpunkt zu stehen, wäre es ganz offenkundig eine völlig sinnlose Strategie.
Was war also zuerst da? Das Fett, oder das angeknackste Selbstbewusstsein? Fett
ist nur Fett. Bis man ein Drama daraus macht. Ich war nur ein großes, molliges
Kindergartenkind. Bis man mir sagte, dass ich ein dickes, fettes Sorgenkind sei.
Gegen Entmutigung hilft nur konsequente Ermutigung, und ich
persönlich finde ja, dass auch Wut dabei sehr hilfreich ist. Zumindest am Anfang. Wut
auf die vertane Zeit. Wut auf alle, die einen entmutigt haben – und es
weiterhin versuchen werden. Sie sollten sich besser warm anziehen. Freude hilft
natürlich auch. Freude, dass es vielleicht noch nicht zu spät ist. Freude, dass
das Leben endlich wirklich anfängt.
Und ich gehe dann jetzt erst mal schwimmen. Wer schwimmt,
sinkt ebenfalls nicht.