Freitag, 29. Mai 2020

Na schön



Ich bezeichne mich ja gern als "Vogue-Leserin forever". Und ich erzähle immer wieder gern jeder, die es hören oder nicht hören will, dass ich als Teenager begann, das Magazin regelmäßig zu kaufen und es später dann für eine sehr lange Zeit in meinem Leben abonniert habe. Dieses vielleicht nebensächlich scheinende Detail meiner Sozialisierung biete ich stets gern aus zwei Gründen an:

1. In einer Zeit, in der wir naturgemäß am empfänglichsten sind für Kritik an unserem Äußeren bzw. für die Internalisierung von Attraktivitätsnormen saß ich mit eben jenem Organ allein in meinem Zimmer, das auch heute noch die rigidesten, einheitlichsten und selbstverständlich dünnsten Schönheitsstandards verschreibt, die frau sich (nicht selbst) ausdenken könnte.

2. Forever geht nicht mehr weg. So wie ich "Goth forever" (im Herzen), "Feminist forever" und "Vegetarian forever" (wenn auch mit Unterbrechungen) bin. Vorlieben, gepaart mit Überzeugungen und Haltungen, die uns in prägenden Phasen der Kindheit und Jugend gefunden und sich dann kräftig in uns entwickelt haben, werden wir nicht mehr los. Jedenfalls nicht einfach so. Das kann frau aktuell ja auch besonders beeindruckend an den Biographien von mittelalten Neonazis nachvollziehen.

Wenn frau dann noch die These hinzuzieht, dass wir im Laufe unseres Lebens schlicht sehr viel weniger persönliche Veränderungen durchmachen, als wir gerne denken, ist klar, warum mir meine internalisierten Vogue-Regeln auch heute noch zum Verhängnis werden, wenn es um mein eigenes Hauptthema der letzten Jahre geht: Fettakzeptanz. Ich bin streng. Mit mir selbst und mit anderen. Je nachdem, um welches eingeprägte Wertesystem es geht, kann das ok oder ziemlich verheerend sein. Meine Vorstellung von Schönheit und mein Blick auf mich und andere war bis vor Kurzem auf jeden Fall fast so etwas wie eine eigene Abteilung des Zynismus.

Dass Vogue und Feminismus sich in meiner Welt nicht ohnehin ständig gegenseitig auf die High Heels getrampelt sind, sondern über Jahrzehnte gut miteinander klar kamen, liegt daran, dass die Vogue keine Kochrezepte, Beziehungstipps, oder Glossen über Problemzonen enthält. Dass ihr Schönheitsdiktat nicht viel mit "Empowerment" und sehr viel mit der systematischen Schwächung von Frauen zu tun hat, ist mir schon lange irgendwie klar. Aber es war mir eben nicht BEWUSST. Bis heute entgleitet mir dieses Wissen. Als Kundin am Kosmetik-Counter im Kaufhaus. Aber eben auch als dicker Frau, die um Selbstakzeptanz kämpft - ja, noch immer kämpfen muss.

Bekanntlich war es dafür auch nötig, den Wunsch nach annähernder Normschönheit (denn die erlangt frau grundsätzlich niemals wirklich, so lange sie dick ist) erst einmal in einer langen Serie von Selbstportraits abzuarbeiten. (Motto: "Dicke können auch schön sein.")

Gestern habe ich noch einmal in klassischer YouTube-Tradition Make-up aussortiert und mich dabei gefilmt. Die meisten Produkte, die ich behalten habe, sind uralt. Sie stehen für vieles - auch für mein Bedürfnis, Dinge für den Ernstfall zu horten. Oder für das ideale Ich der Vergangenheit, das ebenfalls noch immer gelegentlich hier herumschabt, wie ein träger Hausgeist. Eine Anzahl von Produkten habe ich behalten, weil sie nun einmal Lebenssouvenirs und mit bestimmten Stationen verbunden sind. Gesichtspuder und Lippenstifte als Markierungspunkte in der eigenen Biographie...ich hatte doch bestimmt schon erwähnt, dass ich auch noch Lippenstifte meiner Mutter besitze...? : )




NH


Vielleicht braucht ihr ja frischen Lesestoff :) - den gäbe es hier: