Sonntag, 29. Mai 2011

Wie das Veilchen im Moose...

Bei den Themen Krankheitsrisiko Übergewicht sowie Fett-Akzeptanz laufen mir gleichermaßen regelmäßig die Abonnentinnen weg. Was soll mir das sagen? Beides ist offenbar nichts, womit man einen Blumentopf gewinnt. Ist ja klar. Sonst gäbe es davon ja auch mehr auf Hochglanz-Titelblättern zu sehen. Wäre ich also Redakteurin eines Frauenmagazins, dessen Kampf um die Auflage täglich gefochten wird – was würde ich tun? Riiichtig: Tun, was sie alle tun und noch einen schicken Diät-Plan und noch mehr Motivationstips posten…Oder noch mehr zum Thema Pro Ana, denn das scheint ein echter Renner zu sein. Es stellt sich die Frage, was die meisten neuen Leserinnen hofften zu finden, als sie über die Eingabe des Suchbegriffs Pro Ana via Google bei uns gelandet sind. Ich frage mich auch, wie es mit den Leserinnenzahlen aussehen würde, wenn ich es machen würde wie Kenneth Tong.

Im Jahr 2009 war der Herr Tong sage und schreibe 5 Tage im britischen Big Brother Camp. Der für die Sendung zuständige Psychologe bezeichnete ihn danach als einen „Soziopathen wie aus dem Lehrbuch“. Seine warholschen 15 Minuten im internationalen Scheinwerferlicht verschaffte er sich allerdings, als er Anfang des Jahres bei Twitter eine Kampagne startete, in der er angeblich den baldigen Vertrieb einer „Size Zero Pill“ ankündigte, im Vorfeld von „kontrollierter Anorexie“ schwafelte und fässerweise Häme und Bösartigkeiten über nicht-dünnen Menschen ausschüttete. Was folgte war – wie nicht anders zu erwarten – eine Welle von Empörung. Prominente, allen voran Rihanna, verlangten von Twitter, den gemeingefährlichen Herrn Tong zu stoppen und sein Konto zu sperren. Der hatte innerhalb weniger Tage mehr Presse generiert, als sich vermutlich selbst einer wie er je in seinen wildesten Träumen ausgemalt hätte: Von Grazia, über die Sunday Times bis zum Guardian sprangen sie alle auf den Zug des Soziopathen Tong. Und hätten letztendlich allesamt kostenfrei Werbung für ihn und seine Diät-Pille gemacht. Denn wo viel laute Missbilligung wütete, da war natürlich ebenso viel Neugier, Interesse und Zuspruch – u. a. direkt von der zukünftigen Zielgruppe auf Twitter. Doch Tong beendete das Ganze, bevor der Rummel noch größer wurde, indem er erklärte, es habe sich alles nur um ein „Medienexperiment“ gehandelt, das allerdings erschreckend glatt gelaufen sei. Er distanzierte sich von „Managed Anorexia“ und kündigte an, einer britischen Organisation zur Bekämpfung von Essstörungen einen substantiellen Betrag spenden zu wollen. Die Frage, ob Tong wirklich vorgehabt hatte, eine Size Zero Pill auf den Markt zu bringen, wird ungeklärt bleiben. Wenn das tatsächlich sein ursprünglicher Plan gewesen sein sollte, dann war er längst nicht so skrupellos, wie alle gedacht hatten. Denn er musste schließlich die Küche verlassen, weil es ihm dort zu heiß wurde. Offenbar ist es unter bestimmten Voraussetzungen unmoralisch, Menschen zu sagen, sie sollen dünn werden. Es sei denn, sie sind dick - dann ist es quasi eine Bürgerpflicht. Oder man nennt es „komplette Nahrungsumstellung“. Dann ist es auf so gut wie jeden anwendbar, aber scheinbar längst nicht so anstößig wie Tong’s „You deserve a skinny body“. Ich habe es schon einmal gesagt, aber ich sage es immer wieder gern: Die Küche, die Tong zu heiß wurde, ist die selbe, in der sich Fotoredakteurinnen, Modelagenten und Modeschöpfer Tag für Tag gemütlich einrichten.

Moral hin und/oder her. Das Schuld-Karussell in den Medien dreht sich für alle Körperformen. Zu dick, was immer das ist, ist in der Regel schlecht. Aber zu dünn, was immer das ist, ist es mitunter auch! Wobei hier bei der Bewertung oft schlicht und ergreifend die Platzierung der Kamera den Ausschlag gibt. Wird Angelina Jolie, um deren aderdurchzogene, magere Unterärmchen* sich alle Jahre wieder Journalisten in aller Welt so große Sorgen machen, tatsächlich nun schon seit Anbeginn der Zeit immer dünner und dünner UND kränker und kränker UND gestörter und gestörter? Und wenn ja, wie schafft sie es bloß, dabei am Leben zu bleiben und Filme zu drehen? Oder ist sie seit Jahren einfach nur…dünn? Und wieso können wir sie es nicht einfach sein lassen? Weil wir alle wissen, was gut für sie ist, aber sie einfach nicht hören will? Das kommt der dicken Dame irgendwie bekannt vor. Während die Maßregelung des übergewichtigen Körpers allerdings in der Hauptsache auf echter Abscheu basieren dürfte (sowie auf der Angst und Selbstverachtung des „normalgewichtigen“ Betrachters), ist es beim untergewichtigen Körper vielleicht doch eher Neid. Weil da jemand verdammt nah am medial vermittelten Ideal dran ist. Dass man den eigenen Körper nicht kurzerhand gestalten kann, wie man will, ohne dass man sich rechtfertigen bzw. erklären muss, dürfte auch fast jeder wissen, der jemals eine Schönheitsoperation hat machen lassen. Schönheitsoperationen sind wie Crash-Diäten: Das Ergebnis ist oftmals durchaus erstrebenswert. Der Weg dahin jedoch ist in den Augen des Publikums weiterhin eigentlich unzulässig. Unehrlich. Riskant.

Ein GUTER Körper wäre einer, in dem sein-e Besitzer-in Frieden und Selbstbestimmtheit leben kann, egal was für eine Form er hat. Wer hat so einen Körper? Ich nicht. Nicht weil er dick ist. Weil mir Mut und Kraft dazu fehlen. Noch.

Hilf‘ mir, dünn zu werden, damit ich endlich einmal das Gefühl habe, verdammtnochmal irgendetwas wert zu sein.** Wer hat sich je wertlos gefühlt, weil irgendetwas an seinem Körper zu dick war? Wem kommen solch tiefe Verzweiflung und Verletztheit bekannt vor? Einfach mal die Hand heben…na also. Muss man eine 16-jährige Drama-Königin, um die Dringlichkeit und tiefe Traurigkeit dieses Wunsches zu begreifen? Ich denke nicht.

In den letzten Tagen ist mir gleich zweimal das passiert, was ich vorher eigentlich nur aus den Berichten anderer dicker Menschen kannte – spontane Beschimpfung und Beleidigung durch wildfremde Leute. In Geschäften. Das eine war in der Tat eine Verkäuferin, die sich bei ihrer Kollegin über mich und meine Kleiderwahl ausließ (genau genommen echauffierte sie sich über die Größe des Kleides, das ich kaufen wollte), während ich im Prinzip neben ihr stand. Sie wusste, dass ich sie genau hören konnte. Aber es war ihr egal. Erst begreift man es nicht so recht. Und dann weiß man echt nicht, was man machen soll. Ärgert mich immer noch, aber so war es. Und ich habe nichts gesagt. Nur erstaunt geguckt...Allerdings halte ich mir noch immer die Option offen, ihrem Arbeitgeber mitzuteilen, dass es vermutlich langfristig besser fürs Geschäft ist, wenn das Personal erst dann lautstark über die Kundschaft herzieht, wenn diese die Ware bereits bezahlt hat…Und dann ging ich gestern in ein Möbelgeschäft, weil ich dachte, da sei man sicher vor den Verkäufern – zumindest solange man sich mit seinem Elefantenhintern nicht auf Kinderstühlchen quetscht. Dummerweise hatte ich nicht mit den anderen Kunden gerechnet. Ich ging an einem Tisch vorbei, an dem eine andere Frau auch vorbeigehen wollte. Sie wich dann zwar aus, aber nicht ohne mir etwas entgegen zu zischen, von dem ich nur das letzte Wort verstand: FETT! Erstaunlich wie weh das tut, wenn man ehrlich ist. Und dann ertappt man sich dabei, wie man darüber nachdenkt, dass man doch schon viel fetter war als heutzutage - warum geschieht einem das denn ausgerechnet jetzt? Als ob man es früher eher verdient hätte, so behandelt zu werden. Man sucht doch tatsächlich nach Gründen, oder gibt sich gar selbst die Schuld. Wie ein dickes, fettes Veilchen zieht man beschämt den Kopf ein und versucht, sich im moosigen Schatten unsichtbar zu machen. Nach all der Zeit und der Erfahrung, die man hat. Dabei gibt es nur einen Grund, warum einem so etwas passiert: Die, die da pöbeln, sind Idioten. So einfach ist das. Das nächste Mal, wenn jemand dir als dicker Dame auf welche Art und Weise auch immer nahelegt, dich zu verstecken, dich zurückzunehmen, den Mund zu halten, oder es endlich gut sein zu lassen, verpass‘ ihnen eins – ein Veilchen.

Aber wo wir gerade über Kleider sprechen: Ich bin ja immer noch auf der Suche nach MEINEM Kleid, nach dem Kleid, das wirklich sagt, wer ich bin und das ich TROTZ MEINER GRÖSSE GERN IN MEINER GRÖSSE HÄTTE, aber im Laden nie bekommen werde, so dass ich es werde nähe lassen müssen. Und ich glaube, ich habe es u. U. doch schon gefunden. Vielleicht sogar in Gelb. Aber vielleicht auch eher in Mauve. Da bin ich noch unentschieden. Na, was meint ihr - wie würde das hier wohl in einer Größe 46 aussehen? Die Vorstellung muss man auch erst einmal aushalten, nicht wahr? ; )


Grundsätzlich habe ich ja gesagt, dass ich weiterhin plane, Gewicht zu verlieren. Was allerdings das Rohkostprogramm betrifft...da werde ich nun doch lieber auf Entwarnung warten. Ich hasse eigentlich Panikmache und habe trotzdem schweren Herzens Gurken entsorgt. Aber über den nächsten Salat werde ich dann auch aus gegebenem Anlass den wunderbaren Veilchenessig gießen, von dem ich durch Shushans Blog erfahren habe.

*Ist ganz interessant! Einfach mal googeln: Angelina Jolie veins – der letzte Eintrag auf der ersten Ergebnisseite ist bereits von 2006.

**helpmegetthin.tumblr.com ist ein Pro Ana Motivationsblog

NH