Freitag, 17. April 2020

Corona-Lockdown Tag 33


Das Ende des Ich-Museums


Wenn frau Glück hat, lernt sie ja immer noch etwas dazu. Ich dachte wirklich, ein Tagebuch für fünf Jahre wäre eine gute Idee. Jeden Tag ein oder zwei Sätze mit dem Ergebnis, dass frau die Einträge aus fünf Jahren hinterher direkt miteinander vergleichen kann. Ich nehme an, vergleichen ist hier das entscheidende Stichwort. Mit einem Tagebuch, in dem die Beiträge für das gleiche Datum über fünf Jahre hinweg übereinander gestapelt sind, kann frau sich vortrefflich mit sich selbst messen. Mit anderen Leuten sollen wir das ja nicht mehr, hüstel. Das ist nicht mehr in Mode. Neid und Fremdbestimmung und all das Zeug.

Unnötig zu sagen - ich habe es selbstverständlich nicht bis ins fünfte Jahr geschafft. Ich habe am ersten Januar 2019 mit den Aufzeichnungen begonnen und das Ganze bis zum sechsten knallhart durchgezogen. Dann folgten nur noch sporadische Einträge und ab dem siebzehnten März war dann komplett Schluss.

Ich kenne mich gut aus, mit angeblich persönlichkeits- und bewusstseinsbildenden gestalterischen Langzeitherausforderungen. Weil ich immer total an Persönlichkeits- und Bewusstseinsbildung geglaubt habe. Ich schlage vor, dass frau möglichst jung damit anfängt, denn dann hat sie noch genug Zeit und Hoffnung. Also, Lebenszeit. Und Hoffnung, dass alles gut bzw. besser wird, wenn sie sich nur genug anstrengt. Mit Anfang zwanzig habe ich zu diesem Zweck mal drei Monate lang jeden Tag ein Bild getuscht. Und das war nur eines von vielen Selbstfindungsprojekten, dass seine Grundlage in langfristiger Wiederholung der gleichen Rituale hat. Leider gab es da noch kein Instagram. : ) Denn in den sozialen Medien kommen solche Challenges ja heute noch immer besonders gut an.

Jetzt bin ich 48 Jahre alt. Und der letzte Eintrag in meinem Fünfjahrestagebuch lautet so:

16.04.2020

Es klappt eben einfach nicht. Die Zeit all dieser Projekte zur Selbstdokumentierung ist nun wirklich abgelaufen. Und offenbar bin ich sogar im Jahr verrutscht. (Anm.: Ich hatte meinen Text einfach im oberen Feld begonnen. Technisch war das ja aber 2019.) Wie schrecklich schnell die Zeit vergeht. Und wie schrecklich wenig sich verändert. Das Büchlein fand ich so hübsch und sinnvoll. Aber was mittlerweile längst überwiegt, ist die Klarheit, dass ich sterben werde. Bis dahin muss ich noch so viel erledigen. Das wäre ein verdammt guter Grund, entscheidend weniger für das Ich-Museum zu ramschen. 

Und wenn ich dann tot bin, liest das hier ohnehin keiner mehr. Das ist so. Das ist es. So, wie es jetzt aussieht, wird niemand je ein Buch über mich schreiben wollen und sich dann über den ganzen Gedankensalat freuen. Keine wird nach mir jemals all dieses Papier brauchen. Ich habe es gebraucht, um mich zu retten und um Klarheit und Trost zu finden. Ich habe zu bestimmten Zeiten um mein Leben geschrieben. Jetzt müsste ich ja eigentlich endlich mal leben. 

Es ist die Wahrheit. Lange schon erkannt, aber nicht wirklich umgesetzt - trotz all des Ausmistens. Das Buch jedoch kommt vom Regal. Es wird mich nicht länger daran erinnern, dass ich der Challenge nicht gewachsen war. Das nervt, selbst wenn die Challenge selbst komplett bedeutungslos ist.

Als ich jung war, habe ich eifrig und täglich Tagebuch geführt. Und, wie oben berichtet, mitunter um mein Leben geschrieben. Wenn frau die alten Bücher durchgeht, ist immer wieder am erschütterndsten, wie sich die Bilder gleichen. Nichts ändert sich wirklich. Ich vermute, in den meisten Leben nicht. Was ich herauslese, war und ist noch immer meine Realität. Ich strample heute auch noch erheblich, um nicht vor Gram unterzugehen. Und ich habe stapelweise schriftliche Souvenirs daran, dass es kaum jemals anders war.

Weil das Schreiben aber am Ende auch nicht zu großen Schritten verhilft, dient mein aktuelles Tagebuch (unten im Bild, Nr. 42 - jahaa, meine Tagebücher sind durchnummeriert), das ich im Dezember 2017 begonnen habe, hauptsächlich zum Einkleben von Eintrittskarten zu verschiedenen Veranstaltungen. Wenn ich vom verramschten Ich-Museum rede, meine ich auch das. Festhalten ist noch immer das Motto. Jeden Eindruck. Jedes Bild. Jede Erinnerung. Jede Idee. Und es ist so verdammt schwer, die persönliche Geschichte nicht mehr so erst zu nehmen. Been there, done that* - und dann weg mit all den Dingen, die zum Erlebnis gehört haben. Das wäre was. Aber das schaffe ich noch immer nur mit großer Mühe.

Wenn ich schon nichts vom Geschehen behalten darf, muss ich nämlich wenigsten eintausend Fotos machen. Die Zahl der Bilder auf meinen externen Festplatten liegt im oberen sechstelligen Bereich. Und ich fotografiere erst seit ca. 10 Jahren regelmäßig digital. Von der Anzahl der Fotokisten aus der Zeit davor wollen wir gar nicht erst reden. Bei zwei externen Festplatten gibt es von jedem Bild oder Video selbstverständlich zur Sicherheit zwei Kopien. Frau kann nie zu vorsichtig sein bei der Konservierung der eigenen Geschichte. Natürlich nimmt auch die Pflege und Ordnung digitaler Dinge Zeit und Konzentration, die woanders viel besser dazu dienen könnten, das Leben in der Spur zu halten. Und auch hier gilt: Niemand will das noch sehen, wenn ich nicht mehr da bin. Und ich sollte wirklich andere Dinge zu tun haben, als (buchstäblich) eine Million Bilder noch einmal durchzuarbeiten. Es ist lächerlich, so zu tun, als müsse man seine Erinnerungen für die Nachwelt ordnen, so als wolle sie noch etwas davon haben oder studieren. Es tut mir leid das sagen zu müssen, aber ich bin mir ziemlich sicher, das gilt selbst dann, wenn frau Kinder hat.

Das aktuelle Tagebuch
Überhaupt - Notizbücher. In Erwartung großer Dinge, dich ich natürlich im Laufe meines Leben noch handschriftlich zu Papier bringen werden, habe ich es bei mindestens drei Dutzend nicht über mich gebracht, sie im Zuge des großen Aussortierens aus dem Haus zu schaffen und zu spenden. Die Überschätzung der eigenen Großartigkeit und Produktivität ist auch bei Menschen mit vordergründig eher geringem Selbstbewusstsein oft ein heimlicher Anlass zum Hamstern. Von Baumaterial und Kunstbedarf zum Beispiel. Aber während ich Farben und Leinwände vor ein paar Jahren kistenweise weggegeben habe, blieben die leeren Bücher da. Die Kartons mit den Glasperlen übrigens auch - aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag. Natürlich finde ich sie auch einfach nur schön. Ich liebe Papier. Ich lieber Läden, in denen es Papier zu kaufen gibt. Aber ich lebe eben offenbar auch weiterhin mit der geheimen Resterwartung, vor meinem Ableben einen Jahrhundertroman mit einem Füller zu erschaffen. Würde mir das gelingen, wären womöglich Literaturwissenschaftler*innen auch wieder an meinen 42 Tagebüchern interessiert. Hurra! Wie gut, dass ich sie alle so übersichtlich archiviert habe.

Möglicherweise widerspricht es dem im Rest dieses Post geäußerten Ansatz, dass die Gegenwart wichtiger sein sollte, als (t65zzzrfttttttttttttttt - Nachricht vom Kater) alter, sentimetaler Kram, aber ich habe in den letzten Wochen gern Coco Peru dabei zugesehen und zugehört, wie sie auf YouTube die Geschichten von Gegenständen in Ihrem Haushalt erzählt. Das tut sie anlässlich der Corona-Ausgangssperre in Kalifornien, bei der sie nun allein zu Haus ihre Schätze wiederentdeckt. Dabei spricht sie zwar Englisch, aber sehr klar und deutlich. Ich kann die Reihe zur allgemeinen Aufmunterung empfehlen. Dinge stehen natürlich nicht nur zwischen uns und einem leichteren Leben. Es gibt ein paar Dinge, die muss frau behalten, weil in ihnen eben doch der Geist des Ereignisses wohnt. Allerdings dürfen sie dann nicht tief in Kisten und Schränken ohne angemessene Würdigung vergraben sein. ; )

*Hab' ich schon gesehen, hab' ich schon gemacht.


Vielleicht braucht ihr ja frischen Lesestoff :) - den gäbe es hier:


NH