Dienstag, 21. August 2012

Das Kleid


Jaaa, also jetzt kommen wir doch langsam mal voran! Vor ungefähr anderthalb Jahren habe ich mich auf den Weg gemacht. Aus der Diät-Falle heraus. Irgendwie. Ich wusste, es lag etwas in der Luft.  Ich erkannte nur den Geruch nicht. Und ich fand DAS KLEID (rechts). In das wollte ich rein. Ich war mir nur nicht mehr ganz und gar sicher, in was für einer Größe. 36 oder 46?
Ich habe mich immer darüber beklagt, dass es für Dicke nichts Anständiges anzuziehen gibt. Und ich habe mich immer lustig gemacht über Bärchen auf T-Shirts und knisterndes Polyester, das die meisten Produzenten von Übergrößen ihren Kundinnen / Opfern weiterhin zumuten. Als ich DAS KLEID vor einem Jahr kaufen wollte, wusste ich nicht wo. Ich dachte daran, es für mich nähen zu lassen.  Aber das ist nun nicht mehr nötig, denn hier ist es (oder zumindest in sehr ähnlicher Ausführung). Und das gerade rechtzeitig zum Eintritt in eine weitere Entwicklungsphase als neue, ermutigte Dicke. Es gibt tatsächlich schöne Kleider jenseits der 46. Nicht so oft in deutschen Fußgängerzonen, aber im Internet. Das habe ich nur nie gewusst, weil mein Hauptinteresse als Dicke bisher immer gewesen ist, mich in meiner Kleidung unsichtbar zu machen. Nun ist die Situation wie folgt:

Ich habe das Kleid, aber nicht die verdammte Chuzpe, es anzuziehen.

Lesley Kinzel zitiert in „Two Whole Cakes“ eine Leserin, die sich als Dicke in Rock und hohen Schuhen vorkam, wie ein „elephant in drag“. Aber die Tatsache, dass eine große Menge Körperfett grundsätzlich gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit entgegensteht, kann auch befreiend sein. Wenn dicke Körper femininen Standards ohnehin nie entsprechen können und zumindest bis die Hölle zufriert keinen Blumentopf in dieser Disziplin gewinnen werden, warum sich dann nicht endlich aus dem Wettbewerb verabschieden und eigene Regeln aufstellen? Und wenn Dicken die Möglichkeit der modischen Selbstgestaltung und Selbstrepräsentation von Designern und der Modeindustrie weitgehen vorenthalten werden sollen, warum dann überhaupt noch den Versuch machen, sich anzupassen? Wenn Mode eine Sprache ist, warum nicht selbst eine eigene, laute und deutliche  erfinden?

Die Antwort war/ist: Fatshion (fat + fashion).

Man könnte nun denken, dass es bei Fatshion in der Hauptsache darum geht, als Dicke das Recht auf Mode als kreatives Ausdrucksmittel einzufordern. Aber laut Kinzel geht es um unendlich viel mehr, als nur „auch schick“ sein zu dürfen. Es geht im Wesentlichen um die oben bereits erwähnte eigene Sprache. Ein Körper, der  öffentlich in einem Kleid steckt, in dem er in den Augen des Publikums eigentlich nicht zu stecken verdient, weil er die Voraussetzungen nicht erfüllt, ist eine Botschaft an eben jenes Publikum – die Gesellschaft.
Fatshion ist oftmals bunter, schriller, kühner UND ENGER als bloße Mode. Da ihre Trägerinnen im Rennen um standardisierte Weiblichkeit ohnehin keine Chance haben, re-interpretieren und überspitzen viele Fatshionistas diese Standards auf spielerische und oft  ironische Art und gehen damit in der Tat ähnlich vor wie Drag Queens. „Femmeness“ (als Alternative zur  restriktiven, ausschließenden und diskriminierenden  Definition von Weiblichkeit) hat denn auch ihren Ursprung in der LGBTQ Community.
Damit kaschiert Fatshion den dicken Körper endgültig und definitiv nicht mehr, sondern macht ihn weithin sichtbar. In Blogs im Internet – und auf der Straße, wenn man sich auf eben jene traut. Diese Erhöhung der Sichtbarkeit von Dicken gegen den verächtlichen Widerstand und die ungnädigen Sehgewohnheiten der Umwelt macht Fatshion politisch und zu einer feministischen und fettaktivistischen Strategie. Fatshion hat als wahres Ziel nichts Geringeres als eine auf Sichtbarkeit und Abbildung basierende Revolution.
Fatshionistas brauchen Mut. Auf den Seiten vieler Fatshion-Bloggerinnen beschreiben diese, was für eine mühsame innere Reise sie hinter sich gebracht haben, um das Selbstbewusstsein zu entwickeln, das sie jetzt trägt.
Und ich frage mich nun: Wenn ich täglich ohnehin eine Extraportion Mut benötige, um aus dem Haus zu gehen, wie viel brauche ich dann wohl erst in einem engen, knielangen, knallgelben Kleid?Und was ist das eigentlich für eine abgefahrene Welt, in der IRGENDWER Mut braucht, um sich ein gelbes Kleid anzuziehen?

Hier noch einige Fatshion-Blogs:

NH