Ein neuer Versuch - 2018 |
Es ging um die Thematisierung der gängigsten Vorurteile gegen Dicke am eigenen Leib. Natürlich kann ich verstehen, wenn man die Konfrontation mit der Aufschrift zu anstregend und pessimistisch findet. Oder sie gar für albern, übertrieben oder unwahr hält. Aber es hilft ja nichts...
Dick: Unbestritten zutreffend. Aber im gängigen Gebrauch natürlich höchst negativ konnotiert.
Faul: Ich erzähle ja immer wieder gern die Geschichte von meinem ersten "Schulzeugnis", das eher ein Entwicklungsbericht war und in dem es hieß: "Nicola ist ein großes Mädchen, das sich (...) sparsam bewegt." Leute halten uns für faul. Weil wir dick sind. Das bedeutet automatisch, dass wir zu faul sind, abzunehmen. Und uns natürlich nicht genug bewegen. Denn wenn man sich genug bewegt, ist man eben nicht dick. Ist doch klar. Dass wir etwas anderes zu tun haben könnten, kommt unserer Umgebung nicht in den Sinn. Welche anderen Prioritäten könnte eine dicke Person haben. Herrje, Menschen in Studien würden lieber einen Arm oder ihr Augenlicht verlieren, als dick zu sein. Wie kann irgendein dicker Mensch auch nur an irgendetwas anderes denken, als daran, dünn zu werden?
Well, guess what*...viele von uns denken über beträchtlich lange Lebensphasen hinweg tatsächlich an kaum etwas anderes. Und werden trotzdem nicht (langfristig) dünn. Wir sind dick, weil wir zu oft abgenommen haben. Wir haben hart daran gearbeitet, endlich einen "richtigen" Körper zu haben und in der Zwischenzeit haben wir uns obendrein mit geächteten und verächtlich gemachten Körpern durch den Alltag und vermutlich eine Reihe von Lebensriten (Schule, Ausbildung, Beziehungen, etc.) geschleppt.
Wären unsere Körper nicht oft bereits in unserer Kindheit gegen uns verwendet und moralisch in Geiselhaft genommen worden - viele von uns hätten die so freigewordene Energie verwenden können, um spielend die Weltherrschaft an sich zu reißen. Wir sind nicht faul. Wir leisten all das, was andere auch leisten unter seelisch und gesellschaftlich erheblich erschwerten Bedingungen.
Dumm: Ach. Sie haben studiert? Diese Frage bin ich in meinem Leben nicht nur einmal mit gebührend demonstriertem Erstaunen gefragt worden. Auch gern mal von medizinischem Personal.
Ja, hab ich.
Und zwar höchstwahrscheinlich sehr viel länger als die meisten Menschen in den meisten Räumen, die ich je betreten habe. Von 46 Lebensjahren habe ich weit über die Hälfte in Schulen, Hochschulen und an Universitäten im In- und Auslad verbracht - nicht mit beruflicher Zielvorgabe, sondern nur aus purer Freude an der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem jeweiligen Fach und der Erfahrung des Studierens. Das ging alles so, weil ich die Eltern hatte, die ich hatte. Denen waren Bildung und Interesse wichtig, wirtschaftliche Verwertbarkeit eher kein Begriff. So landete ich unter anderem z.B. auch bei der Philosophie. Ich weiß außerdem, dass ich nicht dumm bin. Das ist irgendwann mal gemessen worden. Trotzdem stand in meinem ersten schulischen Entwicklungsbericht, dass "Nicola immer besonders genaue Anweisungen braucht, um eine Aufgabe erfüllen zu können." Heute weiß ich, dass das nicht daran lag, dass ich als Erstklässlerin keine Vorstellung davon hatte, wie man was macht, sondern dass ich im Gegenteil zu viele Ideen hatte, wie man etwas erledigen bzw. deuten könnte. Darum habe ich genau nachgefragt, um die exakte Vorstellung der Lehrkraft zu ermitteln. Schließlich sollte die ja das Ergebnis bewerten. Und davon, bewertet zu werden, verstand ich als "großes" Kind in der ersten Klasse bereits eine ganze Menge. Das Problem des Überhinterfragens habe ich heute bekanntlich noch immer. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass ich als kleines Kind mitunter so viel gefragt habe, dass sie mir oft gern entnervt eine geklebt hätte.
Das "große" Kind war also aus Sicht der LehrerInnen, mit denen meine Schullaufbahn begann, ein wenig einfältig und obendrein körperlich behäbig. Also tatsächlich dumm und faul? Von Anfang an? Und selbst als Erwachsene noch immer zu dumm, um richtig zu essen und zu faul, um regelmäßig zu turnen? Nun, es scheint fast so. ; )
Hässlich: Damit fängt alles an. Der ganze Ärger. Genau genommen handelt es sich hier ja um kein Vorurteil. Wenn man etwas sieht - sagen wir mal z.B. das eigene Kind - und es gefällt einem nicht, was man sieht, dann ist das doch eher ein Urteil. Und eine Tatsache, zumindest im persönlichen Universum. Meiner Mutter gefiel ihr "großes" Kind nicht. Darum setzte sie es bereits im Kindergarten auf Diät, anstatt es einfach erst einmal in Ruhe weiterwachsen zu lassen. Beim Versuch, das Kind zu verringern, ging es nicht primär um dessen Gesundheit. Es ging um Angleichung an die Norm und die Sorge, das monströse Kind könnte es später als Monster-Teenager und Godzilla-Erwachsene ob seiner Optik gesellschaftlich schwer haben. Und so kam es dann ja auch.
Die Gesellschaft, in der meine Mutter operierte, war so fettphobisch wie die heutige. Und meine Mutter war es auch. Die Gleichung Fett = hässlich war damals bereits so gültig wie heute, und (Norm)Schönheit war für Frauen im Grunde das Wichtigste. Daran hat sich nicht nur nicht viel geändert - es gibt Stimmen, die warnen, dass sich dieses Prinzip im letzten Jahrzehnt womöglich noch verstärkt hat und dass der Druck zur optischen Selbstoptimierung eher größer als kleiner geworden ist. Da ändert erst recht keine Alibi-Fotostrecke mit großen Größen oder die Wahl eines "kurvigen Topmodels" etwas. Tatsächlich beweisen solche Vorstöße nur die Verhärtung eigentlich überkommener Frauenbilder.
Ich erinnere mich (etwas ungenau) an ein Fernsehinterview mit der Talk-Show-Moderatorin (und womöglichen Präsidentschaftskandidatin 2020) Oprah Winfrey, das ich vermutlich in den Neunzigern gesehen habe. Darin beschrieb sie, wie sie die Stufen auf die Bühne einer Preisverleihung erklomm, um sich auf dem damaligen Höhepunkt ihrer Karriere vor großem Publikum eine bedeutende Auszeichnung abzuholen, und wie sie bei diesem bis dato wichtigsten und eigentlich glücklichsten Ereignis ihres Lebens an nicht anderes denken konnte, als daran, wie dick sie in ihrem Abendkleid von hinten aussehen musste. Das, gab sie im Rückblick zu, verdarb ihr im Grunde die ganze Veranstaltung und raubte ihr den Stolz und die Freude. Die Konsequenz, die sie daraus zog, war, noch eine Diät zu machen. Die Jo-Jo-Diäten der Frau Winfrey (sie begann damit in den Siebzigern) haben naturgemäß immer öffentlich stattgefunden und sind mittlerweile legendär. Sie hatte Großes geleistet. Und es bedeutete am Ende nichts, weil sie dick und damit als Frau definitiv "hässlich" war. Damit hatte Sie in der Hauptdisziplin, dem Schönheitswettbewerb, ohnehin komplett verloren.
Was denken sie von uns?
Und nein, das war nicht alles nur in ihrem eigenen Kopf. Natürlich fanden die Zuschauer reihenweise, dass sie zu fett war und damit bedauerlicherweise hinter ihren äußerlichen Möglichkeiten erheblich zurückblieb und dass das auch die Bedeutung ihrer eigentlichen Leistung schmälerte. Die Lüge von der Selbstliebe, mit deren Hilfe frau sich die Welt macht, wie sie ihr gefällt, wird niemanden daran hindern, genau DAS über dicke Menschen zu denken, zu sagen, zu schreiben, zu publizieren und über die Straße zu rufen: Dumm, faul, hässlich. Die Gesellschaft macht schließlich noch immer kein Hehl aus ihrer Abneigung gegen Körperfett. Da helfen nur offene Gegenwehr und Diskussion.
Darum das T-shirt.
*Na, stell dir mal vor...
NH
Vielleicht braucht ihr ja frischen Lesestoff zum Thema :) - den gäbe es hier:
Hallo Nicola
AntwortenLöschendas macht mich total betroffen.
Manchmal denke ich, sich von der Gesellschaft, die mich halt nicht so will wie ich bin abzuwenden, sei der einzige Weg.
Ich hab nicht so viel Mut es hinaus zu schreien wie Du, und bewundere dich für dein Engagement.
Danke dass Du das machst.
Susanne
Hallo Susanne,
Löschenvielen Dank für deine liebe Nachricht. Ich freue mich sehr, dass du hier mitliest.
Meistens fühle ich mich allerdings gar nicht besonders mutig - es überwiegt nur einfach noch die Wut ein wenig. Ist auch nicht schön, mit so viel Wut im Bauch, manchmal. Ja, es wäre wirklich schön, hin und wieder einen ausgedehnten Urlaub von der Gesellschaft nehmen zu können...aber sie ist ja überall.
Viel Kraft und liebe Grüße!
Nicola
Das hätte fast meine Geschichte sein können... bis auf die Sache mit dem Studieren. Meine Mutter war nicht nur der Meinung dass ich mich körperlich optimieren sollte, sondern dass Bildung bei einem Mädchen auch verschwendet sei, da es ja sowieso irgendwann mal Kinder kriegt... deshalb hole ich das jetzt, wo die Kinder (die ich tatsächlich bekommen habe) groß sind. Ich arbeite seit 11 Jahren in der gleichen Agentur und fast so lange hat es auch gedauert bis die männlichen Vorgesetzten erkannt haben was ich tatsächlich so leiste und wie viel von dem, was einer (schlanken) Kollegin angerechnet wurde eigentlich durch mich kam. Erst nach ihrer Kündigung wurde man darauf aufmerksam und fing an das zu honorieren.
AntwortenLöschenMan macht ja immer augenzwinkernd Witze, dass es auch von Vorteil sein kann, unterschätzt zu werden. Aber das ist natürlich Quatsch - unterschätzt zu werden, heißt eben in Wirklichkeit, nur nicht die Wertschätzung zu bekommen, die einer zusteht. Gut, dass sich das bei dir dann doch noch aufgelöst hat. Und toll, dass du jetzt studierst - viel Spaß und Erfolg! : )
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Nicola
Ich (männlich) glaube, dass Schönheitsideale auf Frauen einen unfassbaren Druck ausüben. Denn gerade Frau hat nur eines auf diesem Planeten während ihrer Lebenszeit zu sein: Schön. Und ungeachtet dessen, woran Frau mit ihrem eigenen Leben sonst noch scheitern kann: Kollektiv beurteilt wird sie vor allem daran, ob sie in ihrem Leben schön war. Es ist genau so, wie du es anhand der Schilderung von Oprah Winfreys‘ Szene so ergreifend schreibst: Im bedeutendsten Augenblick des eigenen Lebens, ist Frau nur in der Lage an das Aussehen des eigenen Hinterns in der Kamera zu denken. Und das ist FAKT. So geht es Millionen Frauen. Du hast als Frau vielleicht das Rätsel der dunklen Materie gelöst, aber dein Hintern war eindeutig zu fett. Nicht entschuldbar!
AntwortenLöschenLiebe Nicola, vieles erfasst mich total in deinem Blog. Das Erschreckende für mich ist, dass ich deine Schilderung als Mann nachvollziehen kann. Insgesamt hat mich sehr berührt, wie sehr du deine Prägung durch deine Mutter immer wieder reflektierst. Ich komme erst in letzter Zeit und durch eine ganz andere Baustelle dazu, zu reflektieren, was meine Prägung durch meine Mutter verursacht hat. Wie lange wir diese Prägung beibehalten und wie sehr wir diese Erzählungen übernehmen, die unsere Mütter für wichtig hielten, obwohl für einen Jungen vielleicht ganz andere Dinge relevant gewesen wären, als die weibliche Perspektive, schlank zu sein und gut auszusehen, um erfolgreich beim anderen Geschlecht zu sein.
Aber auch je mehr ich mich mit anderen darüber unterhalte: Schönheitsideale tun uns nicht gut: Den Misserfolg schreiben wir immer wieder schnell und gerne einem Schönheitsideal zu, obwohl es fast niemand erfüllt oder den anderen nicht stört. Der eine ist zu dick, der andere ist zu klein, hier ist zu viel von dem, dort zu wenig von dem….es gibt unendlich viele Gründe - von wenigen Ausnahmen hat fast nie jemand das ideale Gesicht, den idealen Körper. Wir müssen lockerer und aktiver werden, wie du es so oft schreibst. Die Entfernung zum Schönheitsideal fungiert als eine Art innerer Rotstift. Ach nein, ich habe eine zu große Nase, xy wird mich nicht akzeptieren, ich bin zu dick, ich bin zu dünn, ich bin zu klein, ich bin zu groß und entspreche nicht der erwarteten Norm. Und so geben wir uns selber die Absagen und treten gar nicht mehr in Interaktion.
Schönheitsideale schaden allen Menschen, weil sie uns vom Leben und vom Tun abhalten. Ich weiß, ich habe über mein eigenes Thema geschrieben. Aber ich finde viele deiner Blogs sehr tiefgründig, sehr fantastisch und essentiell hilfreich für alle. DANKE DIR!
Danke DIR für deinen Kommentar!
AntwortenLöschenVermutlich ist es mitunter unfair, dass ich mich hier in der Hauptsache oder manchmal gefühlt ausschließlich an Leserinnen wende und das männliche Publikum im besten Falle "mitgemeint" ist. Das liegt natürlich schon daran, dass das Thema Schönheitsnormen aus meiner Sicht Frauen ungleich häufiger und schwerwiegender betrifft - noch immer. Aber natürlich schaden Schönheitsstandards allen - so oder so. Umso mehr freue ich mich über deine Nachricht, und dass du hier mitliest!
Liebe Grüße
Nicola
Ich könnte immer wieder Kotzen, wenn ich Kommentarspalten zu Artikeln über Übergewicht lese - die meisten Leuten sind so uninformiert, faktenresistent und dabei stets bereit, zu be- un verurteilen und "gute" Ratschläge zu verteilen. Wenn ich einen Euro für jeden Leserkommentar hätte, in dem empfohlen wird, weniger zu essen und mehr Sport zu treiben, könnte ich mir schon lange eine Fettabsaugung an den Oberschenkeln leisten (wenn ich denn wollte).
AntwortenLöschenDie Informationen, dass Übergewicht ein komplexes Thema mit vielen auslösenden Faktoren ist, dass nur sehr wenige schaffen, Übergewicht dauerhaft zu reduzieren, dass es wenig zu tun hat mit der Persönlichkeitsstruktur (faule, undisziplinierte Loser usw.), das ist definitiv nicht in den Köpfen angekommen sein.
Es ist sehr, sehr traurig.