Sonntag, 22. Mai 2011

AUS DEM ARCHIV: Pro Ana - die Religion des Verhungerns


Der folgende Text wurde 2007 bereits bei candybeach.com veröffentlicht - damals (bezeichnenderweise) unter der Rubrik "Body Watch". Er beschäftigt sich mit der Subkultur Pro Ana, deren Ausgangspunkt und Grundlage Magersucht ist. Ich stelle den Artikel hier aus gegebenem Anlass nochmals zur Information für alle Interessierten ein, weil ich gerade an einem neuen Blogpost arbeite, der sich ebenfalls mit dem Thema "Essstörungskultur" beschäftigen wird.

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„Man kann nie zu reich oder zu dünn sein.“ Wallis Simpsons Zitat ist einfach so wunderbar zickig, ironisch und übertrieben, dass ich es gerahmt und auf meine Fensterbank gestellt habe. Ironie muss man allerdings als solche erkennen und verstehen. Fehlt dieses Verständnis, kann es verdammt unangenehm werden – sowohl für die direkt Betroffenen als auch für das erschrockene Publikum. Das Publikum wäre in diesem Fall ich – und wie es einem manchmal im Kabarett oder bei Zaubervorstellungen passieren kann, besonders dann wenn man in der ersten Reihe sitzt, gerät man leicht in Gefahr, unbeabsichtigter Weise ein Teil des Spektakels zu werden.

Pro Ana (Pro Anorexie) ist kein ganz frisches Phänomen. Die „Bewegung“, deren Anhängerinnen Anorexie nicht (nur) als gefährliche Essstörung verstanden wissen wollen, sondern vielmehr als ästhetisches Manifest und Lifestyle, entstand bereits vor Jahren in den USA und hat sich seitdem mit rasendem Tempo ausgebreitet – auch deshalb, weil nicht geringe Teile des Publikums im Verlauf der Entwicklung in die Show eingestiegen sind – schlicht weil sie ohnehin anfällig und damit leichte Beute waren. Weil sie sich zu dick und hässlich fühlten und davon träumten stattdessen schön und schlank zu sein und die Nahrungsaufnahme des eigenen Körpers endlich unter Kontrolle bringen wollten, um dieses Ziel zu erreichen. Pro Ana macht ihrem Namen alle Ehre und leistet ganze Arbeit im Dienste der Mitgliederrekrutierung und der Verbreitung einer lebensgefährlichen Krankheit – der Magersucht. Es gibt eine eigene Pro Ana Subkultur, die ihre eigenen Symbole hat (Libellen, Schmetterlinge, Feen sowie einen Farb-Code, der anzeigt, ob man Pro Ana (rot) oder Pro Mia (Bulimie, lila) ist) und ihre eigene spezifische Bilderwelt, in der Mode und Märchenromantik mit einer morbide-schicken Szenerie der stilisierten Selbstzerstörung und Verzweiflung kombiniert werden.

„Thinspirations“ – Sammlungen von Bildern von superdünnen Mädchen und Frauen sind ein zentrales Element der Subkultur. Manche Bilder sind zusätzlich bearbeitet, um die abgebildeten Frauen noch abgemagerter aussehen zu lassen. Hervorstehende Beckenknochen und deutlich hervortretende Rippen sind hierbei offenbar von besonderem Interesse. Die Bilder sollen dazu motivieren, „durchzuhalten“ und natürlich immer dünner zu werden. Gleichzeitig schaffen und stützen Sie den grundsätzlichen atmosphärischen Hintergrund für die Bewegung. Pro Ana ist eine weibliche Kultur, und sie romantisiert konsequent das Leiden des ewigen Mädchens in einer rauen, plumpen Welt. Außerdem gibt es da Anas zehn Gebote. Gebot 1 lautet: Wenn du nicht dünn bist, bist du nicht attraktiv. Gebot 2 besagt: Dünn zu sein ist wichtiger, als gesund zu sein. Und - als hätte man es nicht schon geahnt – lautet das 9. Gebot: Du kannst nie zu dünn sein. Die Bewegung hat sogar ihre eigene Ernährungspyramide, der zu entnehmen ist, dass das Hauptnahrungsmittel Wasser sein sollte, gefolgt von Diät-Pillen und Light-Getränken.

Trotz periodischer öffentlicher Aufschreie, wenn das Thema mal wieder zum Thema gemacht wird, blüht Pro Ana weiter. Daran hat auch die Tatsache, dass z. B. Internet-Service-Provider und Suchmaschinen wie Google versucht haben, Pro Ana-Inhalte zu begrenzen bzw. zu entfernen, nicht viel ändern können. Viele der einschlägigen Webseiten schotten sich mittlerweile mit Passwörtern ab, und so manches Pro Ana Forum gleicht einem elitären Club, für dessen Aufnahme man sich bewerben und dann empfohlen werden muss. Die meisten der Pro Ana Internet-Angebote, fordern Besucher auf, sich zunächst eine Erklärung durchzulesen, in der einerseits erklärt wird, dass man nicht wirklich „Pro Ana“ sei, sondern sehr wohl wisse, dass man es hier mit einer Krankheit zu tun hat, die man nicht verherrlichen sollte. Andererseits werden Besucherinnen gewöhnlich aufgefordert, wieder zu gehen, wenn sie nicht schon anorektisch sind, weil der Besuch der Website eine Essstörung „triggern“, also erst hervorrufen könnte. Dass es auf den meisten dieser Seiten nicht um Romantisierung der Anorexie und des Verhungerns geht, sondern um das „Leben mit einer Krankheit“ geht, dürfte mehrheitlich ganz klar eine Schutzbehauptung und somit schlicht nicht wahr sein – ihre optische und auch inhaltliche Ausstattung sprechen zumeist eine andere Sprache. Dass diese Seiten „triggern“, also zu einem Ausbreiten der Magersucht erheblich beitragen, ist hingegen erwiesen.

Nun hatte ich ja eigentlich vor, mich an dieser Stelle auch mal mit Themen zu beschäftigen, die nicht Diät-bezogen sind, aber nun geht es heute doch nicht anders. Denn: Ich sitze in der ersten Reihe – das wurde mir bei der Recherche in der schaurigen Welt der „Pro Ana“ klar. Ich bin eigentlich AUCH immer wieder mit meiner Kleidergröße befasst. Ich würde AUCH gern weiterhin Gewicht verlieren. Ich will AUCH auf keinen Fall wieder zunehmen. Ich wünsche mir AUCH immer mal wieder, meine Selbstkontrolle in Bezug auf Essen wäre verlässlicher und besonders die im Internet zu findenden Pro Ana „Thinlines“, die helfen sollen, diese Kontrolle über den eigene Hunger auszuüben, kommen mir irgendwie bekannt vor: „Nichts schmeckt so gut, wie dünn zu sein sich anfühlt.“ Oder: „Der Unterschied zwischen Wollen und Brauchen ist Disziplin.“ So etwas hatte ich garantiert auch schon am Kühlschrank zu stehen – zumal ich ohnehin eine Freundin der positiven Selbstsuggestion bin. Vor diesem Hintergrund jedoch, muss man doch schlucken. Und ist ein bisschen entsetzt. Ich finde sehr schlanke Körper AUCH schön (schöner als meinen) – und vieles von dem, was den Pro Anas als „Thinspiration“ dient, sehe ich mir AUCH gern an. Jede Frau, die ein Abo für ein beliebiges Hochglanz-Modemagazin hat, tut das. Deshalb ist Pro Ana so erfolgreich und so gefährlich: Weil die meisten von uns ohnehin schon ein wenig Pro Ana sind. Wie gesagt, man muss verdammt gut auf sich aufpassen. Der Weg von der Überesserin zur Nichtesserin, von der einen Essstörung zur anderen ist weniger unwahrscheinlich, als man vielleicht denkt. Ich würde gern schließen mit einem Zitat aus meiner Lieblings-Fernsehsendung „Absolutely Fabulous“: Es muss ein wirklich besonderer Moment sein, wenn Frauen auf dem Friedhof endlich das Gewicht erreichen, das sie immer haben wollten.“ Wallis Simpson war keine Idiotin – sie hat es NICHT ernst gemeint. Wer zu dünn ist, wird sterben. Punkt.

NH

6 Kommentare:

  1. Wieso machen sich 120kg Frauen Gedanken über Magersucht?
    Muss man das Verstehen?
    Wäre es nicht besser sich Gedanken über die (eigene) Fettsucht zu machen?

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  2. Bei Essstörungen ist es halt so, dass es viele Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Übergänge gibt...auch wenn das auf der Waage dann zu einem anderen Ergebnis führt.

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  3. Zum obigen Post: dumme Menschen stellen dumme Fragen und posten diese auch noch Anonym.

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  4. Yep - passiert hier aber Göttin sei Dank nur sehr selten. ; )

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  5. Warum dürfen sich übergewichtige keine gedanken ueber Magersucht machen? Wenn du so denkst, dann dürfen wir westler uns auch keine Gedanken über die dritte welt machen.

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  6. Irgendwann fängt die Essstörung halt an. Und die Krankheiten der Essstörung unterscheiden nicht beim Gewicht.... denkst du die sind von anfang an so dünn? NEIN sind sie nicht. Manche wiegen auch um die hundert oder mehr und es passiert nicht selten das man von zum beispiel der binge eating störung wo man vllt um die 120 kilo wiegt oderso in eine Magersucht rutscht wo man später nurnoch die knappe 40 Kilo hat. Hört doch auf zu denken das nur weil man mehr wiegt keine Magersucht habenkann. Magersucht ist reine Kopfsache. Der Körper kommt da von ganz alleine.

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