Dienstag, 18. August 2015

Ausgelesen: "Such a Pretty Face", 1980

Von meinem ersten bis zum zwölften Schuljahr hatte ich immer ganz besondere Pläne für die Sommerferien. Und im Prinzip sind sie bis heute in mir verankert, wie ein uralter, knorriger, verwurzelter Traum. Er handelt von Transformation und plötzlicher, alles überstrahlender und vor allem öffentlicher Großartigkeit. Kurz gesagt: Ich hatte immer den Plan, in den den sechs freien Wochen endlich dünn zu werden. Ich rechnete mir vorher aus, wie viel ich unter Umständen abnehmen könnte, wenn ich mich wirklich anstrengen, quälen und unablässig hungern und turnen würde. Und ich hatte die Absicht, es bei meiner Rückkehr in die Schule allen so richtig zu zeigen...

Das, was mich an "Such a Pretty Face - Being Fat in America" von Marcia Millman, das bereits 1980 erschienen ist, ganz besonders berührt und mitgenommen hat, sind zwei Dinge: 1. Das zehnte und letzte Kapitel (dazu komme ich gleich noch ausführlicher)*. 2. Die Tatsache, dass das Buch sowie die darin enthaltenen Schilderungen der Lebensumstände und Lebensgefühle dicker Frauen 35 Jahre alt sind. Und dass man das gleiche Buch heute noch einmal ganz genauso schreiben müsste. Die Ängste, die Scham, der Selbsthass, die Bevormundung, die erfahrenen Schuldzuweisungen und Herabsetzungen, die verlogene Drohung, dass Dicke ihre Gesundheit ruinieren, indem sie so sind, wie sie sind. Das Absprechen von Weiblichkeit und Attraktivität. Gesellschaftliches Außenseiterinnentum. Das war alles schon vor mir da, es war alles zutreffend in meinem Leben, und es prägt nachweislich weiterhin die Leben von (dicken) Frauen und Mädchen, die sehr, sehr viel jünger sind als ich. Es hat sich nichts verändert. Wenn überhaupt, hat sich das Klima noch verschäft. Tatsächlich ist mir eben aufgefallen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit das Gleiche über ein anderes Buch zu dem Thema festgestellt habe (Shadow on a Tighrope, 1983). Dass sich für Dicke und gegen ihre Diskriminierung in drei Jahrzehnten wenig getan hat, ist und bleibt halt zutiefst deprimierend. Und es wirft eine (mich) im Hinblick auf mein kleines Blog immer wieder umtreibende Frage auf: Bringt das hier eigentlich was? Aber auch das erzähle ich natürlich nicht zum ersten Mal.

Millmans Buch basiert auf Interviews mit dicken Frauen und spiegelt auf verstörend-faszinierende Weise die Muster, die sich vermutlich durch die Mehrzahl dicker, weiblicher Leben ziehen. Es ist mithin eins der besten Bücher, die ich zur Analyse der durch gesellschaftliche Herabwürdigung gebeutelten Innenwelten von dicken Frauen gelesen habe. Das Buch sei trotz seines Alters ausdrücklich jedem empfohlen, der sich mit dem Thema beschäftigt. Es liefert ein breites und gut ausgeleuchtetes Bild ihrer Selbstwahrnehmung, ihrer Strategien zur Unsichtbarwerdung, sowie ihrer ambivalenten Überlebenstechniken. Und es findet sich alles wieder, was wir so gut kennen: Die ersten Diäten werden bereits im Kindesalter gemacht und setzen eine aufsteigende Gewichtsspirale in Gang. Familienmitglieder sind die, die am grausamsten mit dicken Kindern umgehen. Aus Scham und zum Teil selbst gewählter Isolation werden Berufswünsche nicht erfüllt, Ärzte nicht aufgesucht, große und kleine Lebensziele nicht verwirklicht. Dicke Mädchen/Frauen haben aber auch objektiv weniger Chancen, bzw. müssen härter für Erfolge arbeiten, weil man sie für faul, langsam, dumm aber auch für rebellisch und deviant hält.

Bei der Partnersuche haben Dicke es schwerer als normgewichtige Frauen. Dicksein galt auch 1980 als hässlich und unweiblich. Dicke Frauen geraten und gerieten leicht in den Verdacht der "Vermannweiblichung", und das zog bereits vor 35 Jahren eine schnelle Einordnung als Feministin nach sich. Und, oh wie sich die Bilder gleichen, das war auch 1980 bei weiten Teilen der männlichen Bevölkerung kein weibliches Qualitätsmerkmal. Millmans Schlussfolgerung aus den geführten Gesprächen, dass dicke Frauen von weiten Teilen ihrer Umwelt in der Hauptsache als asexuell oder aber als sexuell besonders leicht zu haben, gierig, bedürftig, freakish, und belastbar betrachtet werden, erscheint mir einleuchtend und sicherlich auch noch immer zutreffend. Dicke Frauen attraktiv zu finden, finden noch immer nicht alle komplett "normal", bzw. halten es für einen Fetish / eine Perversion. Die Tatsache, dass sich dicke Frauen insbesondere nicht gern in letztere Rolle drängen lassen, ist einer der Gründe, die bei vielen zu einer gedanklichen und emotionalen Abkopplung vom Körper ("disembodiment") führen.

Nicht nur die Umwelt redet vom sprichwörtlichen "hübschen Gesicht" der Dicken, welches als Ausgleich zum hässlichen Körper herhalten muss, sondern dicke Frauen nehmen sich selbst auch oft nur noch vom Hals aufwärts (Gesicht und Verstand) bewusst wahr, bzw. definieren sich ausschließlich über ihren Kopf: "The alienated body may not only be viewed as a serious handicap that spoils the accomplishments of the face and head or that defies control by the person. It may be experienced as an enemy that is capable of destroying the self."** (S. 199/200)

Der Körper als Feind, der das "hübsche Gesicht" und den hellen Verstand zurückhält - welche Dicke kennt diese Assoziation nicht? Ich bitte um Handzeichen. Sie wurde Generationen von Dicken von außen angetragen, verinnerlicht und so vermutlich den meisten von ihnen zum Lebensprogramm. Und dieses Programm ist gekennzeichnet durch eine handvoll widerstreitender Elemente: Selbsthass und Aufschieben, aber gleichzeitig ebenfalls die Hoffnung auf und Vermutung von persönlicher Großartigkeit, die nur auf ihre Freisetzung wartet. Diese Freisetzung erfolgt durch die Beseitigung des Fettes. Wenn das Fett geht, beginnt das wahre und obendrein großartige Leben. Die Beseitigung des Fettes hat man selbst in der Hand. Die dicke Frau ist quasi ihre eigene gute Fee. Das haben ihr die Welt und am Ende sie sich selbst in Endlosschleife eingeredet. Sie entscheidet höchstpersönlich, wann das große Wunder passiert. Und was für ein Wunder es werden wird...

Denn das Gesicht ist schließlich so hübsch und der Kopf so clever, weil man immer wenig auf Parties war und dafür mehr gelesen hat. Und das Wesen wurde durch die erlebte Härte des Lebens so freundlich und sozial... Man selbst hält es als Dicke am Ende mitunter nur für fair, dass die dünne Zukunft von all diesen hervorragenden Qualitäten extra hell angestrahlt wird. Nicht nur die Erwartungen an die Reaktionen der Umwelt, sondern auch die, die an ein dünnes Ich, das sich aus seinem Fett "hervorkämpfen" muss (in jeder dicken Person steckt bekanntlich eine dünne, die versucht, zum Vorschein zu kommen) gestellt werden, sind oftmals so überhöht, dass Diäten laut Millman auch deshalb zumeist abgebrochen werden, bevor das Zielgewicht erreicht ist, weil sich eine derartige Großartigkeit gar nicht einstellen kann. Wer abnimmt, findet oft heraus, dass die formidable Vorher-Nachher-Wiedergeburtsphantasie eine regelrechte Lüge war. Wer dünn wird, wird nicht automatisch wunderbar. Er wird halt wie viele andere Dünne auch. Und bei denen ist schließlich häufig gar nicht alles supertoll. Und die sind auch nicht alle brilliant. Und bloß weil man als dicke Frau viele Verletzungen und Enttäuschungen hinnehmen musste, wird man vom Leben nicht mit extra viel Glanz und Glück entschädigt, wenn man es schafft abzunehmen. Diese Erkenntnis kann auch bei erfolgreichen Diätlerinnen zu erheblicher Ernüchterung führen. Einige finden sich in einem dünnen aber trotzdem noch immer unerwartet schwierigen Leben schlechter zurecht als vorher. Und wünschen sich die phantasieumnebelte Existenz, in der sie wenigstens was essen durften, zurück.

Als Schlussfolgerung rief Millman dann bereits 1980 dazu auf, das Leben im JETZT und im aktuellen Körper endlich in die Hand zu nehmen und nach besten Kräften zu gestalten - gegen alle Widerstände, mit denen Dicke regelmäßig zu kämpfen haben.

*Der Titel des zehnten Kapitels lautet: "Before and After: Living a Postponed Life"*** (S. 208), und die darin enthaltene Beschreibung des Konzeptes des "aufgeschobenen Lebens", das Dicke oft führen ("Wenn ich erst einmal dünn bin...") ist mir natürlich nicht neu, aber bei Millman besonders eindringlich. Der dicke Körper (Gegenwart), der fein säuberlich getrennt von Gesicht und Verstand (Zukunft) als Gegner eben jener Zukunft bekämpft wird, wird auch entsprechend schlecht behandelt. Schlucken musste ich persönlich bei der Beobachtung, dass viele dicke Frauen über keinen guten Wintermantel verfügten, weil sie erst Geld dafür investieren wollten, wenn sie abgenommen hätten.

Ich hatte auch jahrelang keine anständige Jacke für den Winter. Tatsächlich ist es noch gar nicht so lange her, dass ich über zweckmäßige, warme Winterkleidung verfüge. Weil ich es mir vorher nicht wert war. Und ich habe verdammt viel gefroren...

Erstaunliches Buch, wirklich.


**Der entfremdete Körper wird dabei möglicherweise nicht nur als schwerwiegendes Handicap betrachtet, das die Leistungen des Gesichts und des Kopfes untergräbt oder sich der Kontrolle der Person entzieht. Er kann sogar als Feind wahrgenommen werden, der in der Lage ist, das Selbst zu zerstören.

***Vorher und Nachher: Ein aufgeschobenes Leben leben


NH