Sonntag, 22. Dezember 2019

Adventsblog 5: Stille


Der Plan war ein anderer. Ich hatte vor, an jedem der Tage vom ersten bis zum zweiundzwanzigsten Dezember einen Blogpost zu verfassen. Das hat bekanntlich nicht geklappt. Der Stichtag war gestern (gerade ist Mitternacht), und das hier ist nur Blogpost Nummer fünf. 

Ich habe es indessen gerade noch hinbekommen, meine Küche von den Geschirrbergen der letzten Wochen (nein, kein Witz) und das Schlafzimmer vom Labyrinth aus Wäsche und Gedöns zu befreien, bevor das Christkind kommt und die Hände überm Kopf zusammenschlägt. Am Ende war das Ziel bis hierher nur noch, die Feiertage nicht in totaler häuslicher Verwahrlosung zu verbringen. Ein weiterer Plan war nämlich auch, dass am 22. Dezember mein letzter Arbeitstag ist - sei es in- oder außerhäusig. Und das bis zum 6. Januar. Das werde ich nicht ganz hinbekommen, aber ich habe beschlossen, mich, egal wie oder was, zumindest weitgehend an diesen Teil der Planung zu halten.

Und so ist nun hier auf dem Blog, aber auch sonst alles Mögliche aufgeschoben. Das Programm lautet essen, rumsitzen und zu schlafen, wenn einer danach ist. Und im Augenblick kann ich mir gar nicht vorstellen, dass mir jemals wieder nach etwas anderem sein könnte.

Aufgeschoben sind also auch die Kellervideos und Rezensionen, die hier halbfertig herumliegen. Ich habe Geschichten über Unsichtbarkeit, Aktivismusmüdigkeit, höllische Nachbarschaft und natürlich Entrümpelung - alle im Entwurfsstadium und nun alle verschoben ins nächste Jahr. Wenigstens ist der Keller fertig. Und nach quasi Jahrzehnten des Aussortierens habe ich 2019 noch einmal gut 750 Gegenstände aus meinem Haushalt geworfen. Darauf bin ich immerhin stolz. Abgesehen von einem Stapel überflüssiger aber mächtig bunter Kissen, über die (am besten in den kommenden Tagen) noch Entscheidungen gefällt werden müssen, habe ich den Kampf gegen die Dinge für beendet erklärt. Und übrigens auch für gewonnen. Das bedeutet nicht, dass meine Wohnung leer ist. Sie ist jetzt nur so organisiert, reduziert und handhabbar, dass ich nicht pausenlos an der Aufgabe meiner Selbstorganisation verzweifle - und das war sie vorher definitiv nicht. Bis vor ein paar Tagen noch nicht. 

2020 kommen nun andere Dinge dran. Ich kann es kaum erwarten zu sehen, WAS sie sind.

Habt alle einen guten Jahresausklang - wir sehen uns (hoffentlich) auf der anderen Seite wieder. Da soll es schließlich Kekse geben. ; )

HAPPY EVERYTHING!

NH

Freitag, 6. Dezember 2019

Adventsblog 4: Ich komme nicht ins Fernsehen


Weil ich zu dünn bin. Ungelogen. In der Redaktion, die verantwortlich zeichnet für "Dickes Deutschland - Unser Leben mit Übergewicht" (ein Sendeformat für RTL2), hatte man offenbar meinen BMI ausgerechnet, und um eine geeignete Kandidatin für die sogenannte "Sozialreportage" zu sein, hätte er bei 50 liegen müssen. War aber nur 39.

Ich hatte mithin nicht darum gebeten, überhaupt in die Auswahl zu kommen. Bevor ich eine Anfrage von der Redaktion bekam, hatte ich noch nie etwas von der Sendung gehört. Die Mail versprach: "Kein Drehbuch, kein Scripting - nur die wahre Geschichte." Und ich dachte, ihr habt doch schon wieder nicht die leiseste Vorstellung, mit wem ihr es zu tun bekämt, wenn ihr euch wirklich dafür entscheiden würdet, mit mir zusammenzuarbeiten. Denn das ist in der Regel so: Die meisten, die eine Kooperation vorschlagen, haben vorher sehr wahrscheinlich nicht viel mehr von mir gelesen und gesehen als den Titel des Blogs. Da steht etwas von "dicker Dame". Auf dem Foto daneben ist eine dicke Frau - das muss reichen. Die Dicke schreibt mit uns bestimmt gern ein Buch über "Gewichtsmanagement" oder rezensiert garantiert gern mein Buch über Esssucht. Und bestimmt lässt sie sich gern dabei filmen, wie sie sich morgens halbnackt aus dem Bett rollt, mitten in der Fußgängerzone in Mieder und BH für Fotos posiert oder sich ein Magenband einsetzen lässt. Oft sind Anfragende beleidigt, wenn ich Ihnen erkläre, dass sie sich vertan haben. Überrascht sind sie immer.

Im Falle von "Dickes Deutschland" rief ich allerdings zurück und sagte, ich würde mitmachen - unter der Voraussetzung, dass ich im Blog ganz genau über die Dreharbeiten berichten könne. Angeblich hätte ich das gedurft. Auch als ich anklingen ließ, dass ich gern dabei wäre, weil ihrem ausbeuterischen und voyeuristischen Format etwas Fettaktivismus und Medienkritik durchaus gut zu Gesicht stünden, war die Unterhaltung keinesfalls schlagartig beendet. Vielmehr folgte noch das lange Abarbeiten eines Fragebogens. Gehen Sie gern schwimmen?  Eher selten. Gehen Sie tanzen? Nie. Haben Sie gesundheitliche Probleme? Nein. Würde Ihr Partner mitmachen? Eher friert die Hölle ein. Was essen Sie gern? Gemüse. Würden Sie eine Magen-OP für sich in Betracht ziehen? Nein. Erstaunt war ich über die Frage, ob ich finanzielle Probleme hätte...dick und arm? Ernsthaft? Ist das wirklich noch immer die Erwartung der Zielgruppe?

Na schön, im Rückblick lässt sich leicht erkennen, dass mein Plan der halboffenen Unterwanderung nicht erst an meinem BMI scheiterte. So offen und menschenfreundlich-progressiv die nette Frau aus der Redaktion vielleicht auch sein wollte (sie war neu in dem Team und fürchterlich nett sind die Anfang immer alle) - natürlich war ich für ihre Zwecke kein Material für störungsfreie Drehtage. Vielleicht lag es aber auch schlicht daran, dass ich mich im Bewerbungsvideo, das ich dann doch zusätzlich noch einreichen sollte, nicht mehr an den Titel der Serie erinnern konnte...wer weiß. ; )

NH


Donnerstag, 5. Dezember 2019

Adventsblog 3: Der Fragebogen



1. Auf einer Skala von 1 bis 10, wie war Dein Jahr? 3-4. 

2. Zugenommen oder abgenommen? Abgenommen. Und zwar so, dass mir de Unterhosen rutschen. Kann man ja keinen Gürtel drum binden. Nun brauche ich lauter neue Unterhosen. 

3. Was war das beste Buch? "Hunger" von Roxane Gay. Und "Fat - The Owner's Manual" von Ragen Chastain. Rezensionen folgen.

4. Mehr Geld oder weniger? Etwas mehr. Der Göttin sei Dank.

5. Was war der beste Film, den du 2019 gesehen hast? Halloween mit einer grauhaarigen und sehr wehrhaften Scream Queen - der tollen Jamie Lee Curtis. Ich liebe ja Horror, und abgesehen vom allerersten Film der Reihe, fand ich diesen am besten. Dicht und dabei für das Genre fast unaufgeregt durchinszeniert - und voller Frauen, die überleben.

6. Dieses Jahr etwas gewonnen und wenn, was? Nichts. Wie jedes Jahr.

7. Mehr bewegt oder weniger? Vermutlich noch weniger. Wenn das überhaupt geht. Noch weniger Zeit, noch mehr Schmerzen.

8. Die teuerste Anschaffung: Vermutlich ein Kleid im Leomuster und mit passender Jacke. Mal nicht im Ausverkauf erworben. Ein dreistelliger Betrag für zwei Kleidungsstücke - das ist für mich heutzutage eine absolute Ausnahme. Ich erinnere mich auch noch, dass ich regelrecht ein wenig erschrocken aus dem Geschäft gekommen bin.

9. Das Beste, was du 2019 gegessen hast: Ich war wirklich begeistert von all den veganen Hamburgern, die plötzlich erhältlich waren. Ich glaube, wir haben sie jetzt wirklich alle durchprobiert und mein Favorit ist der Next Level Burger von Lidl. 

10. Das schönste Geschenk: Kommt noch. Da bin ich mir sicher.

11. Lieblingslied 2019: Siehe Adventsblog 1.

12. Die meiste Zeit wo verbracht? Gefühlt im Keller. Aber vermutlich doch eher am Schreibtisch.

13. Die größte Enttäuschung: Einer ging nicht ans Telefon. Und das Sommerfestival auf Kampnagel. Selten habe ich mich im Theater so gelangweilt. Und hier waren es gleich vier Veranstaltungen.

14. Die beste Investition: Sechs Adventskalender. Einen mit kleinen Geschenken, einen mit Rätseln, zwei zum Vorlesen, einen mit Schokolade und einen mit Bildchen.

15. Die wichtigste Erkenntnis: Manchmal wird man doch mit etwas fertig. So wie ich - mit meinem Keller. Es ist alles eine Frage des längeren Atems. Keller-Vlogs folgen.

16. Was machst du zu Weihnachten? Niemals andersKartoffelsalat und "Michel in der Suppenschüssel". Und in diesem Jahr keine Familienbesuche am ersten oder zweiten Feiertag. War eine leichte Entscheidung. Und was für eine Erleichterung.

17. Was wünschst du dir für das kommende Jahr? Aufmerksamkeit. Und Gesundheit.

18. Was ist dein wichtigstes Ziel für 2020: Weiterbildung und Vlogging.


NH

Dienstag, 3. Dezember 2019

Adventsblog 2: Alte weiße Männer



Ich wohne in Aumühle. Das ist ein am Sachsenwald gelegener Villenvorort am Rand von Hamburg. Als solcher ist er der natürliche Lebensraum der ältesten und weißesten Männer, die es gibt. Mit Jagdschein, Porsche Cayenne und dem unerschütterlichen Wissen, dass Ihnen alles, was sie haben, seien es Dinge oder Privilegien, auch absolut zusteht. Das ist ja vermutlich genau das, was einen alten, weißen Mann ausmacht: Der Mangel an Selbstzweifeln und Reflektiertheit gepaart mit der Weigerung, endlich Verantwortung für die Konsequenzen der eigenen Lebensweise und Welthaltung zu übernehmen. 

Wenn ich übrigens einen Euro hätte für jeden Fall, in dem sich ein alter, weißer Mann in meinem Wohnort anschickt, mir in seiner panzerartigen Dreckschleuder die Vorfahrt zu nehmen und dann wutentbrannt mit den Händen fuchtelt und mir einen Vogel zeigt, weil ich nicht für ihn bremse, dann hätte ich mittlerweile ein ganz hübsch gemästetes Sparschwein. Möge diese Anekdote als Symbol dienen für die grundsätzliche Sicht der Dinge durch die Brille alter, weißer Männer: Im Unrecht sein, andere gefährden und dann um sich schlagen, wenn jene Anderen sich das nicht mehr gefallen lassen.

Sie sind das Problem. Und das hört natürlich niemand gern. Gleichzeitig ist es in der Tat so, dass sie ein Problem sind, dass sich wenigstens zum Teil auf natürliche Weise erledigen wird. Zumindest in den USA wird vom Census Bureau nämlich für 2044 damit gerechnet, dass die Bevölkerungsgruppe der weißen US-Amerikaner ab da zahlenmäßig zur Minderheit wird, bzw. dass ihr Anteil unter 50% fällt. Das wird höchstwahrscheinlich erhebliche Auswirkungen auf kommende politische Wahlergebnisse haben. Es soll Leute geben, die auch das nicht gern hören wollen. Darunter vermutlich haufenweise alte, weiße Männer. Dabei sollten die sich vermutlich besser mal Sorgen um die Auswirkungen des Klimawandels im Jahr 2044 machen. Aber das setzt natürlich voraus, dass man an den Klimawandel glaubt.

Meine Feststellung, dass der alte, weiße Mann das Problem ist, ist natürlich schon wieder schrecklich undiplomatisch und unausgewogen - und geradezu gemein. Das liegt daran, dass ich undiplomatisch und gemein bin. Nicht so Sophie Passmann, deren Buch "Alte weiße Männer" ja den Untertitel "Ein Schlichtungsversuch" trägt. Ich dachte, das sei ironisch gemeint und griff munter zu. Natürlich hätte ich mir die Lektüre auch gleich ganz ersparen können, hätte ich die Rückseite nur aufmerksamer gelesen, denn dort attestiert Anne Will der Autorin, "unbestechlichen Feminismus" gäbe "es auch in lustig". Lustiger Feminismus...der Traum aller Maskulisten.

Ob der Feminismus der Frau Passmann unbestechlich ist, würde ich auf jeden Fall für fraglich halten. Dass er nicht sehr entschlossen ist, liegt zumindest in diesem Werk klar auf der Hand. Besonders lustig fand ich das Ganze dann auch nicht mehr. Für ihr Buch hat sie Männer aus Medien und Politik getroffen und sich mit Ihnen über das Thema Feminismus unterhalten. Den Zugang zu diesen Männern ermöglichten ihr ein gewisser Bekanntheitsgrad (Neo Magazin Royale, Zeit Magazin, etc.) und (meine Vermutung) die zu erwartende Harmlosigkeit. 

Das Problem der Frau Passmann ist, dass sie Zugang nicht nur bekommen, sondern ganz offenkundig auch behalten wollte, nachdem das Buch veröffentlicht worden war. Nur einer der Kotzbrocken wird auch am Ende als solcher portraitiert werden - der unsägliche Rainer Langhans. Anderen Antifeministen wie Ulf Poschardt oder Kai Diekmann wird am Ende keine Rechnung serviert, nicht für Überheblich- noch für regelrechte Schlüpfrigkeiten, offenbar weder im Gespräch selbst noch hinterher im Buch. Die Frau Passmann findet (fast) alle ihre Gesprächspartner klug und wundert sich umso mehr, dass sie dumme Witze machen, die sie ihnen dann aber auch "entspannt durchgehen lässt" (S. 109) - und das immer und immer wieder. 

Ein wenig ist es so, als ob die Frau Passmann ein Buch über schräge Blind Dates geschrieben hat. Es gibt viel Weißwein und ständig wird gegessen. Meistens will sie das Gegenüber lieber nicht wieder treffen, aber lässt dennoch ein gerüttelt Maß von deplatzierten Flirtversuchen und Anbiederung über sich ergehen, weil alles andere vermutlich zu peinlich oder unhöflich wäre. 

Ein ums andere Mal weiß die lustige Feministin aber auch gar nichts mehr zu sagen: "Ich öffne den Mund, sage aber nichts." (S. 252); "Mein Mund steht offen." (S. 253); "Ich presse die Lippen zusammen." (S. 80). Bei dieser Art des feministischen Kampfes haben alte, weiße Männer nicht viel zu befürchten. Dabei sagt Passmann in ihrem Vorwort selbst: "Die Machtfrage wird nie höflich gestellt..." (S. 11). Dann tut sie das genaue Gegenteil und das wird dann gedruckt. Vorsatz für 2020: Keine schlechten Bücher mehr lesen.

Natürlich gibt es auch alte, weiße Frauen. Das erste Mal, als ich diese Bezeichnung öffentlich gehört habe, beschrieb sie Barbara Schöneberger als Reaktion auf deren grotesken Rant über Männer, die Make-up tragen. Erst beledigt sie dicke Menschen, jetzt mag sie auch keine geschminkten Männer...ich glaube ja die Frau Schöneberger ist gar keine Frau, sondern ein alter, weißer Troll.

NH



Sonntag, 1. Dezember 2019

Adventsblog 1: Nach Hause



Trigger Warning: Lustig wird es hier nicht.

Da haben wir es wieder fast geschafft - das Jahr ist vorbei. Zeit für den Fragebogen, der hier mittlerweile zur Tradition geworden ist. Eine der Fragen ist für gewöhnlich, was das "Lieblingslied" des vergangenen Jahres war.

Vor ein paar Tagen habe ich durch Zufall Catie Turners "Home" auf YouTube entdeckt. Und aus heiterem Himmel Rotz und Wasser geheult.

Wenn man mich fragt, wie es mir geht, antworte ich bereits seit Jahren: "Danke, man tut immer sein Bestes." Dabei lächle ich und vermutlich denken die Meisten, ich mache einen drolligen Witz. Dabei ist es mein voller Ernst und die absolute Wahrheit. Aus Unterhaltungen mit meinen Leserinnen weiß ich aber auch, dass viele ganz genau verstehen dürften, was ich meine.

Catie Turners Lied beginnt mit "I miss you when I least expect it" (Ich vermisse dich dann, wenn ich es am wenigsten erwarte) Mittendrin heißt es "I just wanna go home" (Ich will einfach nur nach Hause). Es waren wohl diese beiden Stellen im Text, die mich besonders erwischt und aufgemischt haben.

Es war wieder kein leichtes Jahr. Wenn ich mich durch den Alltag boxe und in der Tat immer mein Bestes versuche, rede ich oft mit mir selbst (natürlich nur, wenn ich mit mir allein bin : )), besonders morgens. Mein reflexartiges Grundeingestellungsmantra ist: "Ich will nach Hause. Ich will nur noch nach Hause. Bitte lasst mich doch endlich nach Hause." Offenbar bricht sich in dieser Ansprache das kulturell tief verwurzelte Konzept einer unsichtbaren aber zuständigen Instanz Bahn. Es überrascht mich immer wieder, denn natürlich bin ich nicht religiös. Manchmal wünschte ich, ich könnte es sein. So, wie ich mir manchmal wünsche, ich könnte mich einfach mal sinnlos betrinken. Aber ich kann weder das Eine noch das Andere, denn wenn ich etwas mehr hasse als alles andere, dann ist es, Kontrolle abzugeben.

Meiner Mutter habe ich kurz vor ihrem Tod verordnet, dass sie nicht sterben dürfe, denn ohne sie würde ich kein Zuhause mehr haben. Auch das war die Wahrheit.

Jetzt bin ich fast 48 Jahre alt und statt sich von der Zeit heilen zu lassen, wird meine Haut immer dünner. Mir sind bis heute zu viele weggestorben und mir war nicht klar, wie nah unter der Oberfläche die Trauer sich, vermischt mit panischer Verlustangst, abgelagert hat. Mir graut es vor noch mehr Gräbern. Und wenn es nur eine weitere kleine Katzenurne im Regal ist. Die Verluste bis hierher stapeln sich wie die Kisten im Keller. Und die dazugehörenden Schmerzen brechen unerwartet aus dem Unterholz.

Wenn mir irgendetwas Erzählenswürdiges passiert, ist der erste Impuls auch nach 10 Jahren noch zumeist, es meiner Mutter erzählen zu wollen. Das verschiebt sich nun ein wenig, und Oliver rückt langsam an die Stelle des wichtigsten Empfängers für Neuigkeiten.

Wie dem auch sei, es ist ein schönes und tieftrauriges Lied. Der Rest des Fragebogens kommt später.

NH



Mittwoch, 2. Oktober 2019

Decluttering: Handtaschenreport

Anders als früher, habe ich diesmal unter dieser Rubrik nicht nur meine Handtasche gelehrt und aufgeräumt (obwohl ich das auch mal wieder tun könnte), sondern mich mit meinem gesamten Taschenbestand beschäftigt. Das war langwierig - das entstandene Video ist fast eine Stunde lang. Aber es war auch für mich interessant, den "Trennungkampf" noch einmal von außen beobachten zu können. Das schwierige, innere Verhandeln für und wider einen Gegenstand, den ich oftmals seit Jahen nicht gesehen, geschweige denn benutzt habe. Es hängt noch immer so viel an den Dingen. Insbesondere die Handtaschen meiner Mutter waren eine Herausforderung. Denn hier ging es insgesamt um die letzten Überlebenden - ich weiß, ich werde nicht müde, es zu betonen, aber ALLES, was ich besitze ist bereits viele Male bearbeitet worden im Kampf gegen die Dinge.

Eigentlich sollte 2019 dieser Kampf ja beendet werden. Ein für alle Mal. Dummerweise wird das Jahr langsam kurz und der Angriff auf den Keller ist noch nicht einmal gedanklich groß begonnen worden. Das Ziel aber bleibt. Ich gebe mich erst zu Silvester geschlagen und verspreche, das nächste Vlog kommt aus eben jenem Keller.

Bis dahin - hier ist mein Taschenfilmchen:




NH



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Dienstag, 27. August 2019

Decluttering: Eine Dose für 99 Cent



Ich mag Behälter. Es ist von wirklich großer Wichtigkeit für mich, dass alles in meiner Wohnung seine eigene Wohnung hat. Wenn etwas ins Haus kommt, das keinen festen Platz hat, wird es leicht stressig. Bei mir hat nicht nur alles ein Zuhause - in den meisten Fällen hat es auch ein Türschild. Ein Label Maker ist seit vielen Jahren eine meiner Lieblingsmaschinen.

Ich habe auch einen Karton - auf dem steht "Dosen". In eben jenem Karton wohnen Dosen, die gerade keine eigene Aufgabe bzw. Inhalt haben. Der Karton ist voll, und ich brauche absolut keine leeren Dosen mehr.

Vor der Preis-Oase in Altona stand sie mit vielen anderen ihrer Art, aufgetürmt in einer großen Pappkiste. Ich nahm sie mit ins Geschäft und trug sie schuldbewusst mit mir durch die Gänge. Ich wollte sie natürlich am Ende der Reise zurücklegen, wusste, dass ich es wahrscheinlich nicht tun würde und überlegte angestrengt, warum nicht.

Früher waren die Dinge, die angeschafft wurden, zumeist für eine bessere Zukunft.

Oder das, was man sich halt so darunter vorstellte. Kleider für den dünnen Körper - der Klassiker. Kunstbedarf für das zukünftige Atelier. Keksausstecher für zukünftige Bäckerei. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und erklärt, warum das Aussortieren der Dinge immer und immer wieder so anstrengend ist. Das Ausmisten einer besseren Zukunft, die nicht stattgefunden hat, bzw. in der die ganzen hoffnungsfrohen Accessoires gar nicht gebraucht worden sind, ist und bleibt eine emotional hochaufgeladene Arbeit.

Was triggern Dinge heute?

Mit der unverschämten Buntheit und dem kitschig-freundlichen Mischdesign der Dose assoziierte ich offenbar eine Zeit die in meine Kindheit ragt und die Erwartungen an die Zukunft, die damals in der Luft lagen. Die Dose erinnerte mich urplötzlich wenn auch undeutlich an das, was war und gleichzeitig an das, was damals noch kommen sollte. Außerdem mag ich die putzige Spießigkeit und das damit einhergehende verschwommene Gefühl von Sicherheit.

Neue Dinge...sie triggern immer öfter etwas Altes: alte Erwartungen, alte Überzeugungen. Oder die Sehnsucht nach einer anderen alten Realität, die es jedoch so nie gab. Sie triggern die Rückversetzung in eine Zeit und Situation, in der noch bestimmte Hoffnungen bestanden und in der es sich vermeintlich noch lohnte, sich auf die bessere Zukunft vorzubereiten. Kein Wunder, dass ich die Dose schwermütig durch die Preis-Oase vor mir her getragen habe wie bei einer Prozession.

Dass mir die Zeit ausgeht, wird mir immer klarer. Alles begann bekannterweise mit dem Tod meiner Mutter. Ungefähr da war der Punkt der Wende. Die Nostalgie nahm zu - der Glaube an eine bessere Zukunft nahm ab. Das Verbittern über verpasste Ziele begann, sich so richtig hoch aufzubäumen. Ebenso ging das Suchen nach Antworten in der Vergangenheit so richtig los. Als ich nach dem Tod meiner Mutter nach Kettwig fuhr, um das Haus zu besuchen, in dem ich zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr gelebt hatte, konnte ich es (in mir) nicht wiederfinden. Ich hatte natürlich die Adresse. Aber ich konnte mich um nichts in der Welt mehr an das erinnern, von dem ich geschworen hätte, dass ich es immer wieder erkennen würde.

Dafür erkenne ich Lichtverhältnisse und Gerüche - und eben Farben und Muster - wieder. Milde bis geisterhafte Déjavus werden nach der ersten Hälfte meines Lebens mehr und mehr zu alltäglichen Vorkommnissen.

Tagebucheintrag 18.07.2011:

"Dass ich in der Hälfte meines Lebens bin, merke ich daran, dass ich bewusst und sofort jedes Licht wiedererkennen kann. Das Licht jeder Jahreszeit und jeder Tageszeit und jedes Wetters. Ich fahre durch die Landschaften meiner Kindheit und weiß, dass ich angefüllt mit unerzählten Geschichten und ungedrehten Filmen sterben werde. Voll bis an den Rand mit unerledigten Ideen, wenn nicht noch ein Wunder geschieht."

Tagebucheintrag 14.08.2016

"Ich habe die tiefe Sehnsucht, in die Vergangenheit zurückzukehren, und sie zu heilen. Und vielleicht zu verstehen. Darum auch noch immer das gelegentliche physische Zirkeln um das Haus am Rand der Feldmark, in dem ich aufgewachsen bin. Wie Simon und Desi Ruges "Katze mit Hut" würde ich es gern glücklich wohnen. Ich habe eine Million von alternativen Hausgeschichten im Kopf. Jede besser als die, die meine bisher war."

Statt in einem glücklichen Haus habe ich mich nach dem Tod meiner Mutter dann aber mit Ende Dreißig vorsorglich und ängstlich in einer seniorInnenengerechten Wohnung geparkt. Ohne Garten für den Pool, den ich immer wollte. Dafür ebenerdig und mit Supermarkt, Ärzten, Bahnanbindung und Pflegediensten um die Ecke.

Mein eigentlicher Plan im Leben war es ja bekanntlich, nach dem College in Los Angeles, wo ich immerhin bereits wohnte, auf die Filmschule zu gehen und dann die damals als klassisch geltende Laufbahn vom Personal Assistant über die Regieassistenz bis hin zur Oscar-gewinnenden Drehbchautorin hinzulegen. Und das alles auf hohen Absätzen. Mein zukünftiger Wunscharbeitgeber war übrigens die Firma Miramax. Hätte das wirklich geklappt, bzw. wäre ich nicht seelisch vorzeitig aus den Latschen gekippt, anstatt mit einem Clipboard und Mobiltelefon über Studiogelände zu klappern, hätte ich nicht nur für eine der innovativsten Produktionsfirmen in Hollywood gearbeitet, sondern auch für Harvey Weinstein. Der Harvey Weinstein, der seit den 80er Jahren Dutzende, wenn nicht Hunderte von Frauen sexuell genötig oder vergewaltigt hat.

Sollte ich also womöglich froh sein, dass es nicht so gekommen ist, wie ich es mir eigentlich fest vorgenommen hatte? Die Erkenntnis, dass der Preis für Vieles, was wir für erstrebenswert halten, hoch und oft viel zu hoch ist, ist mir trotz allem noch immer keine Beruhigung.

Wenn so viel an einem Muster, einer Farbe, einem Lichteinfall oder einem Geruch hängt, wie soll es auch leicht sein, sich zu trennen? Die Dose  ist nun zum Symbol geworden - für nicht weniger als die Endlichkeit und Unkontrollierbarkeit des Lebens. Das dürfte es auch unmöglich machen, sie in näherer Zukunft wieder auszusortieren. Das macht sie selbst also ebenfalls unkontrollierbar. Und das ist die Tyrannei der Dinge.



NH


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Mittwoch, 26. Juni 2019

Decluttering: Unter der Spüle

Ich arbeite weiter an meiner Wohnung und den Dingen darin. Ist ja nicht so, dass ich nur gegen Erbstücke, Schuhe und emotional aufgeladenen Nippes kämpfen würde. Ich bin auch im Bereich Haushalt aus unerklärlichen Gründen komplett über-ausgestattet mit Produkten, deren Kauf mir vermutlich das Gefühl geben sollten, dass ich in Sachen Dreck und Wohnungspflege gar nicht so nachlässig bin und schon irgendwie alles im Griff habe(n werde). Das ideale Ich lässt grüßen.

Allerdings: Mit Putzmitteln muss man etwas putzen, wenn sie nützlich sein sollen. Duuuh. Sonst werden sie alt und verstopfen die Umgebung. Von der Verschwendung, etwas doppelt und dreifach einzukaufen, weil man angesichts der Menge und der Unübersichtlichkeit gar nicht mehr auf dem Radar hat, wie viele Flaschen und Packungen man vom Gleichen schon besitzt, ganz zu schweigen.

Hier ist der filmische Beweis - für das Dilemma UND den Bearbeitungsversuch.

PS: Ich würde mich wirklich sehr über ein paar neue AbonnentInnen und Däumchen bei YouTube freuen. Denn ich mache jetzt doch eine Serie aus dem Kampf gegen die Dinge.




Mehr zum Thema: PLATZ DA!


NH

Mittwoch, 12. Juni 2019

Decluttering: Haben Sie auch so ein Problem mit Anthropomorphismus?



Seit Beginn des Jahres habe ich 639 Dinge aussortiert. Regelmäßige Leserinnen wissen, dass es über die letzten Jahre tausende und seit meiner Kindheit Zehntausende Dinge waren, mit denen ich mich auseinandersetzen und über die ich Entscheidungen fällen musste, weil die Dinge sich immer und immer wieder ausgebreitet haben, wie eine massige Hydra über deren schnarchende Köpfe man pausenlos stolpert und im eigenen Zuhause einfach nicht vorankommt. Mit dem Putzen nicht. Mit der Selbstorganisation nicht. Mit Entspannung und Freude nicht. Denn Dinge im Übermaß erzeugen Stress. Das ist wissenschaftlich untersucht worden und stimmt tatsächlich für Frauen mehr als für Männer.

Mir wurde bereits mein Kinderzimmer regelmäßig zu voll und zu unübersichtlich. Vor allem die Bücherregale quollen in Blitzgeschwindigkeit immer wieder über, nachdem ich eingeschult worden war und richtig lesen konnte. Erst packte ich den Überschuss in Kisten und lagerte diese im Keller. Später wurden regelmäßig Dinge gespendet. Oder auf dem Flohmarkt angeboten.

Oh, die Zahl der Flohmärkte, auf denen ich in meinem Leben herumgesessen habe. Oh, die Sonntage, an denen man um vier Uhr aufsteht, um sich am Zielort mit anderen VerkäuferInnen über die Platzvergabe zu streiten. Oh, die Hitze, der Regen, der Wind, die alles durcheinander bringen...und oh, die Erleichterung bei jedem Teil, das den Tapeziertisch im Austausch für einen Minimalbetrag verließ. Finanziell lohnte sich das Ganze selten. Unterhaltsam war es zumeist weniger als anstrengend und ärgerlich. Die letzten Male bin ich mit übereifrig und verbissen um Centbeträge handelnden KundInnen zunehmend regelrecht aneinandergeraten. Tatsächlich habe ich ihnen Gegenstände aus der Hand genommen und ihnen erklärt, ich würde das Ding lieber der nächsten, die es will schenken, als es ihnen zu überlassen. Ich sah ein, dass das ein sicheres Zeichen dafür war, diese Phase meines Lebens endgültig abzuschließen. Keine Flohmärkte mehr. Jedenfalls nicht hinter dem Verkaufstisch.

Ohnehin war der Flohmarkt immer nur eine von einer Reihe mehr oder weniger erfolgreicher Strategien, Dinge, die man für wertvoll hielt, nicht kampflos und umsonst dem roten Kreuz zu überlassen. Dabei setzte sich der empfundene Wert in der Regel zu verschiedenen Anteilen aus emotionalen und echten monetären Erwartungen zusammen. Schließlich hatte man für den Pullover selbst 80 Euro bezahlt. Damals vor zwanzig Jahren. Weil er so schön orange und kuschelig war, und man sich damit im Winterurlaub in einer verschneiten Hütte visualisiert hatte. Nun war er ungetragen, der Traum dahin, der Kleiderschrank viel zu voll und der Pullover nichts mehr wert. Wenn man sowas tausendmal aushalten und dann einen Entscheidung über die Gegenstände fällen muss, kann das schon ganz schön schlauchen.

2009 war das Jahr der großen Flut der Dinge, denn da starb meine Mutter. Ich erbte den Inhalt eines mittelgroßen Hauses voll mit Dingen und verbrachte über zwei Monate vor Ort, um sie zu sichten und zu sortieren. Jeder Gegenstand in dem Haus ist durch meine Hände gegangen, bevor über sein Schicksal entschieden wurde. Und während das Haus meiner Mutter überhaupt nicht unordentlich oder vollgestopft gewirkt hatte, wurde sehr schnell klar, was für Geheimnisse Schränke und Abstellräume im Zaum gehalten hatten.

Eigentlich dachte ich am Ende, dass ich gar nicht so viel von ihr behalten hatte - bis die Umzugsleute weg waren und der Rest des Nachlasses meiner Mutter mein gesamtes Wohnzimmer von Wand zu Wand (und bis zur Decke) füllte und nur noch ein sehr schmaler Gang bis zu Fenster freigeblieben war. Am Abbau dieser Festung aus Sachen arbeite ich bis heute. Ich musste meinen eigenen Haushalt verkleinern, um ihren (und zum Teil den meines Vaters) zu integrieren. Trotzdem war der Kram noch immer zu viel für den Platz, den ich hatte und habe. Und der Kram, der alles verstopfte, war, selbstverständlich, hochemotional besetzt. Habe ich eigentlich schon einmal erwähnt, dass ich noch Tupperware aus den Sechzigern besitze?

Wie dem auch sei - 2019 wird das Jahr sein, in dem ich den Kampf gegen die Tyrannei der Dinge gewinne. Eine Niederlage kommt nicht in Frage. Ende 2019 werde ich in einer klar strukturierten, organisierten Wohnung wohnen, die leicht zu managen ist und in der keine Schublade klemmt, weil sie zu viel enthält. Ich werde in meinen Keller hineingehen können, und einfach so das finden, was ich brauche. Und ich werde Kleider auf ihren Stangen locker hin und her schieben können.

Dass das weiterhin eine schwierige Angelegenheit ist, die mit viel Seelensuche, Selbsterkenntnis und Verhaltenssteuerung einhergeht, ist klar. Ich habe noch einmal ein Video dazu gedreht - in dem rede ich auch über Anthropomorphismus und darüber, dass der nichts als Scherereien macht...




Mehr zum Thema: PLATZ DA!


NH


Freitag, 19. April 2019

Endometrium - Revisited


Krebs


Am 11. April wäre meine Mutter 76 Jahre alt geworden. Sie ist 2009 gestorben - an Eierstockkrebs. Mit dem Tod meiner Mutter wurde ich sterblich. Da war ich Ende dreißig.

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass der Tod meiner Mutter das Schlimmste sein würde, was mir passieren kann. Und das war er auch, glaube ich. Darum bin ich zwischendurch immer mal wieder erstaunt, dass ich den Tod meiner Mutter überlebt habe. Gleichwohl nicht ohne immer und ewig bleibende Blessuren.

Im Sommer 2009 habe ich quasi im Universitätsklinikum Eppendorf gewohnt. Meine Mutter wurde mit Nebenwirkungen ihrer zweiten Chemo eingeliefert und verstarb dort zweieinhalb Monate später. Streng genommen nicht am Krebs. Sondern an einer Lungenentzündung.

Ich schlief in den letzten Tagen bei ihr auf der Palliativstation, aber in den Wochen davor pendelte ich zwischen Eppendorf und Reinbek, einem Vorort, in dem ich damals wohnte, und wo der Kater darauf wartete, Futter und etwas Aufmerksamkeit zu bekommen. Manchmal fuhr ich mehrmals am Tag hin und her. Ich schleppte Obst und Blumen aus ihrem Garten und frische Kleidung und Kosmetika und Fotoalben ins Krankenhaus. Die Fotoalben wünschte sie sich, vermutlich, um Bilanz zu ziehen. Und ich rannte und fuhr wie betäubt immer über die gleichen, schweren Wege. Und hatte bald Angst, sie nicht mehr lebend vorzufinden, wenn ich zu lange wegblieb.

Ich habe ein paar Male eine Kamera laufen lassen, als ich das Krankenhaus verließ oder dort wieder ankam. Obwohl die Zeit fürchterlich war, wollte ich auf keinen Fall vergessen, wie es war. Die Clips kommen jetzt zum Einsatz, weil ich offenbar mit meiner Verarbeitung am richtigen Punkt angekommen bin. Und ja, das Video beschreibt in seiner Zähigkeit und Wackeligkeit die quälerischen Tage ziemlich gut.



Krebsvorstufe


2012 habe ich hier auf dem Blog ein Bild von einem blutigen Stückchen meines Endometriums ( meiner Gebärmutterschleimhaut) gepostet. Das gefiel einigen Leserinnen damals nicht besonders, aber ich war ja noch nie kleinlich, wenn es um die Preisgabe von Dingen geht, die aus meiner Sicht eben Beides sind: privat, aber auch politisch. Heute freue ich mich regelrecht, dass ich meiner Gebärmutterschleimhaut ein wenig Raum im Internet gegeben habe, denn mittlerweile habe ich keine mehr.

Die Beschäftigung mit den Organen meines Unterleibes kam nicht von ungefähr. Ich war offenkundig durch die Geschichte meiner Mutter traumatisiert und gleichzeitig froh, nicht von eben jenem Unterleib schon längst getötet worden zu sein. Da ich vor dem Ableben meiner Mutter unsterblich gewesen war, hatte ich konsequenterweise auch auf regelmäßige gynäkologische Sicherheitsüberprüfungen verzichtet. Überhaupt war ich nur in absoluten Notfällen in Wartezimmern anzutreffen. Ich hatte keine Zeit und keine Lust, und als ich dann aufgescheucht durch die Erkrankung meiner Mutter damit begann, regelmäßige Untersuchungen machen zu lassen, brach natürlich, wie hätte es auch anders sein können, die Hölle über mich herein.

Denn es stellte sich heraus, dass mein Unterleib, so wie mein ganzer Körper, aus medizinischer Sicht, nicht regelrecht war. Er hatte ständig Zysten an den Eierstöcken und immer wieder eine viel zu hoch aufgebaute Gebärmutterschleimhaut. Mein Wiedereinstieg in das Vorsorgekarussell war der Startschuss für ein Jahrzehnt voll ständiger Überwachung, Diagnostik und (vielleicht irrationaler aber dennoch unbezwingbarer) Todesangst. Ausschabungen, Bluttests und Bauchspiegelungen sowie die Entnahme eines Eierstockes, um ihn besser unters Mikroskop legen zu können - ich ließ nichts aus. All das und alles immer mit dem Aktenvermerk der familiären Vorbelastung.

Allerdings war nie was. 

Bis zum März dieses Jahres, als in meinem Endometrium atypische Zellen gefunden wurden. Also quasi eine Krebsvorstufe. Etwas, das vielleicht bösartig werden könnte. Die Ärztin, die die Abrasio im UKE vorgenommen hatte, hatte mir gesagt, alles sähe normal aus, und ich würde den histologischen Befund per Post bekommen, es sei denn, irgendetwas Ernstes liege vor. Dann würde sie mich anrufen. Aber davon ginge sie ja nun wirklich nicht aus...

Und dann rief sie an, und ich war nicht zu Hause. 

Es war, als sähe ich mich selbst in einem Film. Während ich ihre Nachricht abhörte und dann versuchte, sie zurückzurufen, warf ich mit zittrigen Händen Dinge um und fing an zu schluchzen, als ich sie nicht erreichte und stattdessen in der Warteschleife gefangen war. Ich war erledigt. Ich war mir absolut sicher, dass meine familiäre Vorbelastung mich jetzt nach all den Jahren der Panik tatsächlich eingeholt hatte. Und in meinem Testament stand noch immer meine Mutter als Erbin! Ich war nicht vorbereitet. Und ich hatte noch so viel auf meiner Bucket List. Ich redete laut und verheult auf das Personal der Gynäkologie ein, als ich endlich verbunden wurde und bekam so vermutlich die Sonderbehandlung einer Nachricht direkt aus dem OP, in dem meine Ärztin gerade stand und arbeitete: Alles nicht tragisch, aber muss gemacht werden.

Nun habe ich also keine Gebärmutter mehr. Ich habe sie in dem Krankenhaus gelassen, in dem ich meine Mutter verloren habe. Ich lag auf derselben Station, wie sie zunächst auch. Vielleicht sogar im selben Zimmer - daran erinnere ich mich nicht. Vielleicht war es auch das daneben. Der Weg auf die Station war wieder schwer. Als ich mit meinem Rollköfferchen an den Geschäften auf dem sogenannten "Boulevard" vorbeischepperte, musste ich ein wenig weinen. Außerdem wurde mir schwindlig und ich schlingerte so vor mich hin. Die Entscheidung für das Krankenhaus war übrigens dennoch eine Bewusste. Ich halte die Versorgung dort trotz allem noch immer für die sicherste, die man hier in Hamburg bekommen kann.

Ab jetzt wird es nach einem Jahrzehnt der Angst vermutlich ruhiger werden. Ich habe zwei Gründe zur Sorge weniger, denn der Eileiter zum verbleibenden Eierstock ist auch entfernt worden. Offenbar legt die aktuelle Forschung nahe, dass Eierstockkrebs im Eileiter beginnt und nicht im Eierstock selbst. Meine Mutter hatte auch mit Mitte vierzig eine Hysterektomie. Hätte man damals die Eileiter nicht stehenlassen, wäre sie womöglich noch hier. Es bringt nichts, sich mit solchen Überlegungen zu belasten - ich weiß. Ich habe eben Glück, dass ich erst heute 47 bin.

Oder schon 47. Über die Lebensmitte hinaus. Und mit einer Bucket List (Liste der Dinge, die frau vor ihrem Tod erleben und erledigen will) bis in den Himmel. Man könnte meinen, dass ich mich, nachdem das Theater mit meiner Gebärmutter nun ein gutes Ende gefunden hat, jetzt endlich mit frischem Mut sogleich an die Abarbeitung der Punkte auf eben jener Liste machen sollte. Aber ich fühle mich noch immer ein wenig betäubt. So, wie man nach dem Abschluss großer und anstrengender Projekte mitunter erst einmal ein wenig orientierungslos ist. Auch will ich mir nicht gleich schon wieder neue Sorgen machen - Sorgen, dass ich einfach nicht genug aus meinem Leben mache.

Und so schließe ich einfach mit Kylie Minogues "Dancing". Es ist vielleicht ein wenig kitschig, aber es scheint mir nicht unpassend. Das Wortspiel "I wanna go out dancing" (Ich will tanzen gehen oder Ich will tanzend sterben) hat es mir angetan - besonders auch vor dem Hintergrund, dass Kylie Minogue selbst Krebserfahrung hat.


Blick von meinem Bett im UKE - April 2019

Nachtwanderung durch die Station - UKE April 2019

UKE 2009

Das Zimmer meiner Mutter - UKE 2009

Auf dem Weg nach Hause vom UKE 2009

Meine Mutter nach ihrer Chemotherapie

NH

Samstag, 9. Februar 2019

Die allerletzte Presseschau: Barbara Schöneberger und der Fatsuit

Dumm gelaufen...

Die Frau Schöneberger trägt auf dem aktuellen Cover der nach ihr benannten Frauenzeitschrift einen Fatsuit. Etwas lappig, in leicht glänzender Hautfarbe mit pinkfarbenen Brustwarzen auf den tief sitzenden Stoffbrüsten. Am Ende des Hefts gibt es dann ein Bild des leeren Fatsuits, also eines dicken, künstlichen Körpers ohne Kopf, Füße und Hände. Weil die Frau Schöneberger ja nicht wirklich dick ist, und das Publikum nur zur Sicherheit (und zum millionsten Mal) darauf hinweisen musste.

In einem von der Frau Schöneberger zusätzlich auf Instagram veröffentlichten Video ist sie zu sehen, wie sie sich mit dem Fatsuit bekleidet eine Servierschüssel schnappt und den Inhalt mit einem großen Löffel in sich hineinschaufelt. Und dann muss sie ganz doll kichern und versichert, sie habe nichts gegen Dicke.

Wie anstößig und daneben, aber auch, wie vielsagend das alles ist, muss nicht erklärt werden. Und wo es doch erklärt werden muss, da sollte frau sich nicht niederlassen.

Ich habe überhaupt nur etwas von der Sache mitbekommen, weil Magda Albrecht in der März-Ausgabe des Magazins Barbara einen Artikel über Selbstakzeptanz veröffentlicht hat, und hinterher bei der Mädchenmannschaft einräumen musste, dass sie offenbar ihre Hausaufgaben vorher nicht gemacht hatte.

Angeblich hatte sie das Desaster nicht vorhersehen können, obwohl sie "ehrlicherweise nichts anderes erwartet hat". Häh? Wie jetzt? Sie hatte also (k)eine Ahnung, mit wem sie sich da einließ? Alle waren "cool"schreibt sie in ihrer entsetzten Stellungnahme. Und viel bezahlt haben sie für den Artikel auch. Da kann doch keiner auf die Idee kommen (wollen), dass die womöglich überhaupt nichts Gutes im Schilde führen, oder?

Erkenne deine Feindin

Und mich hat natürlich mal wieder keine gefragt. Denn dass das Magazin der Moderatorin Barbara Schöneberger bereits seit den ersten Ausgaben im Wesentlichen ein Zeugnis ihrer eigenen Ess- und Körperbildstörung ist, lag auf der Hand. Vor genau einem Jahr, also für die Märzausgabe 2018, stand auf dem Cover das Wort "Mampf" und die Frau Schöneberger hatte Kuchen im Haar, in der Faust und überall um sich herum. Sie schwamm in Kuchen und die Titelgeschichte lautete: "Aber bitte mit Sahne - Gerade sind wieder alle auf Diät. Da machen wir nicht mit, oder? Ein Heft über sinnlosen Figurwahnsinn und heiß geliebte Fressorgien."

Wenn man sich am (gelegentlichen) "Fressen-dürfen" in regelmäßigen Abständen so abarbeitet, wie andere Frauenzeitschriften an Gewichtsverlust und Diäten und gleichzeitig immer Witze über "Hüftgold" machen muss, dann ist das nicht Body Positivity oder Fettakzeptanz. Dann stimmt da was nicht. Dann hat man ein gravierendes Problem, in das man andere aber nicht unter dem Deckmantel der "Alle-sind-irgendwie-auch-schön-Bewegung" mit hineinziehen sollte. Das ist nicht nur kein Dienst an der Leserinnenschaft, es ist schlicht und ergreifend schon wieder unredlich. Ohnehin ist die ständige Verknüpfung vom großen Fressgenuss mit Dicksein echt nur noch zum Kotzen.

Die Frau Schöneberger befindet sich im ständigen Krieg mit ihrem Aussehen, und weil sich der so gut verkauft, auch und neuerdings ja gerade in der halbherzigen Leugnungsversion, kann sie ihn nun bereits seit Jahren mit Hilfe einer ganzen Redaktion öffentlich und für Geld austragen. Und natürlich, wie sollte es auch anders sein, am Ende mal wieder auf Kosten ihrer Leserinnen, d.h. auf Kosten anderer Frauen.

Das betrügerische Getue, diätfrei zu sein, ohne es jemals gewesen zu sein, das ewige Herumreiten auf der unfairen Notwendigkeit, schön zu sein und das manische Oszillieren zwischen kuscheliger Selbstherabsetzung und unaufrichtigem, aufgescheuchtem, orientierungslosem Toleranzgebaren und Fressorgien hätten der nach eigener Aussage medienerfahrenen Fettaktivistin Magda Albrecht ja eigentlich schon als Wegweiser dienen können. Aber vielleicht sieht man etwas nicht, wenn es schlicht zu nah an einem dran ist.

Wie hätte z.B. das "super-professionelle und herzliche Team" (Magda Ablrecht) der Barbara denn eigentlich wissen sollen, dass Magda Albrecht und lustige Fatsuits auf dem Cover nicht so richtig zusammenpassen? Magda Albrecht tut doch in ihrem Buch (Fa(t)shionista) genau dieses: Sie kokettiert mit ihrem angeblich ewigen Hunger und macht ihren eigenen Körper immer wieder mit milder, lustig gemeinter Missbilligung und "Offenheit" über ihr schwieriges Verhältnis zu eben jenem Körper runter. Das soll vielleicht authentisch wirken, weil sie damit signalisiert, dass sie sich wie jede andere "normale" Frau, also Nicht-Aktivistin und Nicht-Autorin, nur sehr schwer von Schönheitsnormen abgrenzen kann.

Am Ende kommt es aber leider nur genauso larmoyant rüber, wie das Gejammer über ihren offenkundigen Aktivismus-Burnout, das der Erfahrung mit der Fatsuit-Barbara folgt: "Ich war zwar hochgradig genervt, stellte mir aber die Frage, die ich mir in den letzten Jahren immer öfter stelle: Was bringt es, wenn wir uns immer und immer und immer wieder über Dinge aufregen?" Dabei ist das, was ihr jetzt mit der Barbara passiert ist, ist genau das, was passieren muss, wenn man glaubt, es sei legitim, im Umgang mit der Öffentlichkeit immer wieder auf Witzeleien, Augenzwinkerei und Versöhnlichkeit zu setzen, wenn es aber eigentlich um den eigenen Körper und seine ständige Missachtung durch diese Öffentlichkeit geht. Selbst im Artikel in der Barbara schreibt sie noch von "übergewichtigen Moppeln" (S. 54) und spürt den glitschigen Boden unter sich scheinbar überhaupt nicht.

Und das hier ist dann auch noch passiert...

Wenn es dann um das Erheischen männlicher Validierung geht, steht die fröhlich-freie Fresserei übrigens plötzlich überhaupt nicht mehr an erster Stelle, denn, so instruiert uns die Frau Schöneberger im Editorial zur aktuellen Fatsuit-Ausgabe: "Wenn Sie also einen neuen Partner blenden wollen, dann ist beim ersten Date nicht so wichtig, was Sie zum Essen auftischen, sondern die perfekte Lichtsituation bringt den Abschuss! Merke: 20 Kerzen machen zehn Jahre jünger und zehn Kilogramm schlanker!" (Anm. d. Dicken Dame: Allein die Vorstellung, dass Frauen im Jahre 2019 Männer beim ersten Date bekochen...aber geschenkt.)

Ach, und hatte ich erwähnt, dass die Frau Huber von der Brigitte auch in der Chefredaktion der Barbara verantwortlich zeichnet? I know, right?

NH

MOST COMMENTS WELCOME! : )

Donnerstag, 10. Januar 2019

Wie wir wurden, was wir waren: Die letzte Brigitte-Diät

Helga Köster: Brigitte Diät, Bertelsmann, 1974

Die Brigitte-Diät ist jetzt 50 Jahre alt. Das kecke, ausklappbare Cover des Jubiläumshefts mit nackter, hausbacken-harmloser Frau darauf hat mithin passend auch die Ästhetik eines Siebzigerjahre-Softpornos. Angeblich hat sich die Brigitte-Diät neu erfunden. Soll heißen, sie kommt jetzt mit Meditation als allererster "Säule" daher. Und mit einer App, die sich als Lockangebot für ein Abo beim Unternehmen Balloon entpuppt, das mit Brigitte-Rabatt im ersten Jahr ab 5 Euro im Monat zu haben ist. Es ist ein wahrlich mehr als verzweifelter Versuch einer Neuerfindung.

Ansonsten, soweit ich das überblicken konnte, ist alles eigentlich wie 1974. Heute wie damals besteht die Diät aus idiotisch lebensfern aufwendigen Rezepten für Minimalzeiten, die höchstens 500 Kalorien haben dürfen. Für zwei Portionen des "Be-Fit-Snacks" (ja, so heißt das Rezept - Facepalm) braucht man: 3 Bio-Eier Größe M, 2 EL geriebenen Parmesan, 50 g körnigen Frischkäse, gemahlenen, bunten Pfeffer, Salz, 2 EL gehackte Lauchzwiebeln, 2TL Olivenöl, 1 EL Butter, 2 Scheiben Brigitte Balance Brot mit Urgetreidesprossen (und das hier ist noch immer keine Satire), 2 "geputzte" Salatblätter und 60 g Gemüse-Antipasti aus dem Glas. Ergibt 375 Kalorien pro Portion. Da lobe ich mir doch fast den "Gegrillten Hummer mit gebackener Kartoffel von 1974. Dafür benötigte man nur 250 g Hummer im Stück, Salz, Pfeffer, 1 EL Öl, 1/2 TL Senf, 2 EL Buttermilch, Petersilie, Zitronenscheiben, Salatblätter und eine große Kartoffel. Und der ganze Kram hatte dann nur 300 Kalorien.

Ach ja, was soll frau von der Frau Huber nun auch noch groß erwarten? Sie ist so bieder wie die Klopapierrolle auf der Hutablage, farblos, nur mäßig bei der Sache (der Frauen) und ganz offenkundig nicht die hellste Kerze auf der Torte. Diejenigen, die sie 2013 zur alleinigen Chefredakteurin des sinkenden Schiffes gemacht haben, hätten es eigentlich kommen sehen müssen. Seit 2009 ist sie Mitglied der Chefredaktion der Brigitte und hat in ihrem schicken Eckbüro mit Elbblick im Angesicht der Digitalisierung selbstverständlich nicht verhindern können, dass die verkaufte Auflage des Magazins von 687.456 Exemplaren im dritten Quartal des Jahres 2010 auf 372.101 im dritten Quartal 2018 gesunken ist. 2013 waren es im zweiten Quartal übrigens noch 563.000 Exemplare. Sie hat sich auf ihrem sinkenden Kahn aber auch zu keiner Zeit getraut, alle Bedenken in den Wind zu schlagen und jetzt auf den letzten Metern, auf denen es ohnehin nicht mehr groß darauf ankommt, wenigstens endlich mal für ihre lesenden Schwestern und nicht gegen sie zu arbeiten - egal, ob das für die Auflage gut ist, oder nicht. Dafür fehlen ihr natürlich gänzlich Überzeugung und das Bewusstsein. Und bei Sätzen, wie diesem, fragt man sich, ob sie überhaupt noch bei Bewusstsein ist: "(Die Brigitte-Diät) ermöglichte es der ersten Frauengeneration nach dem Krieg, ihre Figur und damit auch sich selbst zu verändern, um ein paar Pfund erleichtert mit neuem Selbstbewusstsein aus der festgelegten Rolle des Heimchens am Herd herauszutreten." (Brigitte, Nr. 2, 2.1.2019)

Wenn man ihr Editorial zu 50 Jahren Brigitte-Diät liest, weiß man nicht, ob man vor Zorn oder Entsetzen platzen soll. Es ist mir nicht klar, wie sehr man sich selbst und seine Leserinnen verachten muss, um beim letzten Aufbäumen auf so kleinem Raum so viel toxische Dummheit und unverschämte geschichtliche Umdeutung zu verspritzen. In der Einleitung der Frau Huber, sowie im hinteren Teil des Blattes wird die Expertise eines Herrn Prof. Dr. Christoph Klotter von der Hochschule Fulda mehrfach bemüht, um die Herleitung Diät = Gleichberechtigung zu unterfüttern. Der bezeichnet die Brigitte-Diät nicht nur brav und zitierfähig als "ein Zeichen von Aufbruch und Emanzipation" (S.5), sondern gar als "Neustart" nach dem Schock der Naziherrschaft und versteigt sich später dann noch zu der verblüffenden Formulierung, das "Umsetzen der Brigitte-Diät" sei "also mit einer Kriegserklärung an das männliche Geschlecht verbunden" gewesen (S. 103). Die Kühnheit, mit der hier grober Unfug behauptet wird, ist beeindruckend, aber natürlich auch ausgesprochen frustrierend. Eigentlich würde man denken, dass ein Hinweis auf all die Diäten, die vor der Brigitte-Diät auch schon vermarktet worden sind, nicht wirklich notwendig ist. Das Ringen meiner Mutter um den Taillenumfang einer Elizabeth Taylor in den Fünfzigern geschah auch mithilfe einer Diät - und nicht einmal der wackere Herr Klotter vom wissenschaftlichen Beirat der Brigitte würde vermutlich noch den Nerv haben, hier allen Ernstes zu vermuten, dass es sich bei diesem Projekt um die emanzipatorische Rückeroberung der Selbstbestimmung über den eigenen Körper nach dem Ende der Nazidiktatur gehandelt haben könnte. Vom Körperkult der Nazis wollen wir hier erst lieber gar nicht anfangen - dann erholen wir uns nie mehr. Zur Sicherheit sei aber noch einmal festgehalten: Der Austausch eines Körperformkontrollsystems gegen ein anderes befreit einen logischerweise nicht von der einschränkenden und schwächenden Kontrolle selbst. Die Brigitte-Diät hat Frauen selbstverständlich niemals die Kontrolle über ihre Körper "zurückgegeben", sondern sie im Gegenteil seit Jahrzehnten erfolgreich weiterhin davon überzeugt, dass ihre Körper kontrolliert werden müssen, und die Markteinführung der Brigitte-Diät vor 50 Jahren wäre damit eigentlich eher als ein Backlash-Symptom zu bewerten (was sie bis heute geblieben ist) in einer Zeit, in der einige Frauen in der Tat um Gleichstellung kämpften (Alice Schwarzer) und andere leider eher nicht (Brigitte).

Man muss schon aus ziemlich perfidem und billigem Holz gemacht sein, um der eigenen Leserinnenschaft erzählen zu wollen, Entstehung und Entwicklung der Frauenbewegung stünden in engem Bündnis mit der Anfang der Siebziger endlich durch die Brigitte-Diät erlangten "Erlaubnis", sich eigenständig dünn zu hungern. Vor allem dann, wenn man es doch wirklich besser zu wissen scheint: In einem Artikel des Tagesspiegels vom 11.01.2018 wird der Herr Klotter nämlich so zitiert: "Diäten sind der ideale Einstieg in eine Essstörung."

Ich bin sicher, ich habe bereits mehrmals erwähnt, dass ich mit der Brigitte und ihrer Diät buchstäblich aufgewachsen bin? In der Tat sind wir zusammen aufgewachsen. Ich bin Jahrgang 1971. Die Diät offenbar nur drei Jahre älter. Meine Mutter war eine Leserin der Zeitschrift, so lange ich denken kann. Und das konnte ich bereits sehr früh. Meine erste Diät machte ich auch früh - regelmäßige Leserinnen wissen es bereits: Ich wurde von meiner Brigitte-lesenden und selbst, wenn auch schlanken, immer mal wieder diätelnden Mutter mit drei Jahren zum ersten Mal dazu verdonnert, einen kalorienreduzierten Ernährungsplan einzuhalten. Meine Mutter war keine Feministin. Ihr Kind schon. Das gab bald eine Menge Streit und Unbehagen angesichts meiner vermeintlichen Radikalität, besonders am Anfang. Dann, irgendwann später, kam mehr und mehr Zustimmung. Man mag es für Kleinkram halten, aber ein symbolischer Schritt auf dem Weg zur eigenen Emanzipation war für meine Mutter die Kündigung des Brigitte-Abos. Da war sie schon über sechzig, und hatte nach eigenen Angaben "endgültig genug von den Weihnachtsplätzchen und dem ganzen Quatsch".

Die oben abgebildete Ausgabe der Brigitte-Diät von 1974 habe ich vor einiger Zeit auf dem Flohmarkt gefunden - es nicht das Original aus unserem Haushalt, mit der ich als Kind tyrannisiert worden bin. Das ist irgendwann irgendwo verschwunden. Als ich jetzt hineinsah und feststellte, wie biestig und fettphobisch das Büchlein tatsächlich ist, wurde mir umso klarer, dass ich in einer Atmosphäre und Umgebung, in der über mich als vermeintlich dickes Mädchen so gedacht wurde, nie eine echte Chance auf Normalität oder angemessenen Respekt hatte.

"Jeder fünfte ist viel zu fett. (...) Noch nie wurden so viele Selbstmorde mit Messer und Gabel begangen wie heute." (S. 7)

"Viele dicke Mütter nötigen ihre Kinder zum Essen. (...) Diese überfütterten Kinder werden dick und neigen auch als Erwachsene zu chronischer Freßlust." (S. 9)

"Kaufen Sie nichts Neues (keine neuen Kleider) - erst wenn Sie Ihre Traumfigur erreicht haben." (S. 24)

"Pflegen Sie Ihr Gesicht (...) während der Kur besonders sorgfältig. Damit Sie auch wirklich schön sind, wenn Sie Ihre Traumfigur erreicht haben." (S. 25)

"Lassen Sie sich nicht beirren, wenn Sie eine Abmagerungskur nötig haben." (S. 25)

"Kleben Sie das schlimmste Foto aus Ihrer "schwersten Zeit" sichtbar an den Kühlschrank. Bei diesem Anblick zuckt Ihre Hand - hoffentlich - sofort zurück!" (S. 26)

" (...) sündigen Sie trotz besseren Wissens (...), dann bestrafen Sie sich für diesen Fehltritt mit einer empfindlichen Spende in den Bauch Ihres Sparschweins," (S. 26)

"Heben Sie wenigstens ein Kleid (...) auf, in (das) Sie vor der Kur gepasst haben. (...) Am Ende der Kur, wenn Sie Ihr Ziel erreicht haben, sollten Sie sich in diesem Kleidungsstück im Familienkreis vorstellen. Das Gelächter dürfen Sie ruhig als neidlose Anerkennung werten." (S. 27)

"In Gesellschaft lässt es sich leichter hungern." (S. 29)

"Sahnetorten und Süßigkeiten sind auch in Zukunft Ihre ärgsten Feinde." (S. 34)

Was habe ich sonst noch zu 50 Jahren Brigitte-Diät zu sagen? Ach ja...

Nicht nur danke für nichts. Ich wünschte es wäre so. Aber ich verdanke der Brigitte und ihrer Diät in der Tat eine ganze Menge: Danke für vierzig Lebensjahre, die bestimmt waren von Selbsthass, Depressionen, Misshandlung des eigenen Körpers, durch Diäten und Selbstverachtung geraubte Energie, ein zerstörtes Selbstbild, ein aufgeschobenes Leben, Sommer ohne Besuche im Schwimmbad, den Wunsch, in der Öffentlichkeit unsichtbar zu sein, Schuldgefühle, Selbstbestrafung, verpasste Lebenschancen, weil der Mut und das Selbstbewusstsein schlicht fehlten, Ohnmachten in der S-Bahn vor Hunger, Erschöpfung, Freudlosigkeit, Einsamkeit und nicht zuletzt - eine in weiten Teilen komplett versaute Kindheit und Jugend. Danke, danke, danke ihr schlicht gestrickten Verräterinnen (die ihr immer wart und noch immer seid).

NH