Sonntag, 19. April 2015

Follow me around 22: Wen die ständige Motzerei nervt, der liest besser nicht bis zum Ende




Der Griff ins Klo

Nachdem nun fast alles aufgeräumt ist, kommt der Dreck dran. Bei mir gibt es zugegebenermaßen ziemlich viel alten Dreck. Vor allem Staub und Kalk. Aber auch durstiges Holz (Parkett und Möbel). Fingerabdrücke an der Wand. Katzenhaare auf Kissen und Stühlen. Zutiefst mysteriöse Flecken im Teppich...

Mit dem Putzen verhält es sich nun neuerdings bei mir, wie mit dem Jäten von Unkraut. Wenn ich erst einmal damit anfange, höre ich mitunter so schnell nicht wieder auf, denn wenn man seine Aufmerksamkeit erst einmal bewusst auf den Schmutz lenkt, fällt einem alle paar Minuten wieder etwas vorher Unbekanntes ins Auge. Und ich interessiere mich zum ersten Mal in meinem Leben für Putzmethoden und Schmutzlösungen.

Ein besonders schwieriges Projekt war seit meinem Einzug vor fünf Jahren das Klo mit einem Kranz aus Urinstein, den mir mein Vorbesitzer vermacht hat, und den ich nie wirklich wegbekommen habe. Probiert hatte ich alles Mögliche: Ich habe die Ablagerungen eingeweicht in Scheuermilch, Baking Soda, Essig, Chlor, Zitronensäure, Orangenöl. Ich habe geschrubbt mit Scotch Brite und zuletzt mit Stahlwolle - mit dem Ergebnis, dass sich der gesamte Innenraum der Toilette grau verfärbte...

YouTube war mir bekanntlich bei der Ausdünnung und Neuorganisation meiner Wohnung eine hervorragende Informations- und Motivationsquelle. Und jetzt hat es mir geholfen, endlich mein Klo und mich von den Spuren den vergangenen Pipi zu befreien. Zwei unerschrockene, reizend verschrobene und unterhaltsame Putzexpertinnen aus England (How clean is your house?) haben mir die Lösung geliefert. Zitronensäure (damit lag ich also gar nicht so falsch) und - aufgepasst - Bimsstein!!! Aber nur der echte, graue! Nicht etwa der aus Plastik...

Jetzt gucke ich immer staunend ins Klo und wundere mich jedes Mal, wie einfach das war. Und ich frage mich, was im Leben wohl noch eigentlich ganz einfach wäre, wenn man nur wüsste, wie...


Die Heimatlosen

Das ist das neue "Obdachlosenheim" in meiner Wohnung. Auch Klöterkiste genannt. Alles, was zunächst kein Zuhause hat, alle, deren Zuhause gerade schlecht zu erreichen ist, und Dinge, bei denen unklar ist, ob sie überhaupt eins bekommen, landen erst einmal hier. Schrauben unbekannter Herkunft, Kieselsteine, Murmeln, alte Filmrollen, verwaiste Schlüssel, ausländisches Kleingeld, kaputte Schlüsselanhänger, Figuren aus Überraschungseiern, Osterdekoration, die beim Gang in den Keller vergessen wurde, etc.

So eine Kiste hilft, chronisch Clutter-Belasteten wie mir, Entscheidungen über Gegenstände unter Zeitdruck ohne schlechtes Gewissen verschieben zu können. Natürlich nur bis zu einem gewissen Punkt, denn irgendwann ist die Schachtel voll. Ein sehr kluge Einrichtung.


Kalte Küche

In meiner Küche kann es ja nun bekanntlich niemandem mehr zu heiß werden, weil dort (außer in der Mikrowelle) nicht mehr gekocht wird. Außerdem wird bewusst möglichst wenig Geschirr verwendet, um das Ausbrechen einer erneuten Auftürmung und Versiffung zu unterbinden. Und da der Kater sich ja weigert, von Papptellern zu essen, brauche ich den Vorrat nun auf. Ich bin da nicht so anspruchsvoll, wie er. ; )

Frühstück

Public Service Announcement:

Und dann habe ich noch ausgerechnet bei Lidl und Budnikowsky die (fast) ideale kochfreie Verpflegung gefunden: Vegetarische Schnellgerichte mit einem anständigen Eiweißanteil, die auch noch wirklich gut schmecken und preiswert sind.



Und dann noch...

Am Freitag war ich bei Gisela Enders in ihrer berliner Coaching-Praxis, wo sie vorab aus ihrem bald erscheinenden Buch "Wohl in meiner Haut" gelesen hat. Die Lesung war sehr erhellend, und ich freue mich schon auf das ganze Buch.

Die Unterhaltungen waren auch hochinteressant, aber im Rückblick und im Hinblick auf die Möglichkeiten in den Bereichen dicke Selbstakzeptanz und die Bekämpfung von Verunglimpfung und Diskriminierung Dicker fast ein wenig desillusionierend. Das kann ich eigentlich gar nicht brauchen, weil ich ohnehin schon unsicher bin, was die Chancen auf echten Wandel angeht. Und was die Sinnhaftigkeit von tatsächlich stattfindenden Veränderungen betrifft, bin ich momentan auch nicht besonders optimistisch.

Tatsächlich bin ich mit einem leicht flauen Gefühl im Magen wieder nach Hause gefahren.

Ein Thema war die Szene/Community dicker Modebloggerinnen und ihr politischer Beitrag zur gesellschaftlichen Akzeptanz dicker Menschen. Wobei es hier natürlich fast ausschließlich um Frauen und Kleidung für Frauen geht. Meine Frustration darüber, dass Mode in großen Größen augenscheinlich nicht nur das wichtigste, sondern gefühlt das fast einzige Scharnier ist, an dem sich deutscher "Fett-Aktivismus" im Internet (woanders findet er ja ohnehin noch weniger statt) aufhängt, äußere ich ja immer wieder mal.

Ja, natürlich ist mir der gesellschaftspolitische Zweck der öffentlichen Sichtbarmachung selbstbewusster dicker Körper und ihrer Besitzerinnen durchaus klar. Ich bin mir auch bewusst, dass Kleidung und die Frage, ob man welche kaufen kann, die einem passt, einem sehr nah ist und viel mit dem Gefühl gesellschaftlicher Dazugehörigkeit zu tun hat. Ich bin selbstverständlich sogar der Überzeugung, dass die Tatsache, dass Dicke nicht nur im Bereich Mode, sondern auch bei anderen Aspekten einer "zu kleinen Welt" (ich sage nur Flugzeugsitze) systematisch übergangen und damit pausenlos öffentlich gedemütigt und ins Abseits gestellt werden, ein riesiges und wichtiges Thema wäre. Allein, über Flugzeugsitze habe ich in einem deutschen Fett-Akzeptanz-Blog, soweit ich mich erinnere, noch nie etwas gelesen. Überhaupt geht es in Modeblogs sehr selten um das, was man als dicke Kleiderkäuferin und als Konsumentin im Allgemeinen alles nicht angeboten bekommt. Da wird nicht gern geklagt. Da wird das Beste draus gemacht. Und so geht es eigentlich immer nur um all das Tolle, das man heutzutage trotz seines dicken Körpers schon kaufen kann.

Ich bleibe dabei: Fatshion interessiert mich nur, wenn sie gängige Sehgewohnheiten (bewusst) herausfordert, ohne womöglich den Versuch zu unternehmen, diese Erfahrung für das Publikum gefällig abzumildern. Und nur dann ist sie aus meiner Sicht überhaupt Fatshion - und politisch.

Dream big

Was ich mir ja noch immer wünsche, wäre ein komplettes Umdeuten von Körpernormen, bzw. eine komplette Abschaffung solcher Normen. Wenn ich dann aber dicke Modebloggerinnen im Fernsehen sehe, die eine andere Dicke modisch "umgestalten" dürfen, und ihr eine Kette umhängen, um zu strecken und vom runden Gesicht abzulenken, dann kann ich mir nicht helfen. Dann finde ich, da läuft etwas ganz fürchterlich schief. Das ist Verrat. Und zutiefst beunruhigend. Denn was im Bereich Mode durch die gelegentliche Einbeziehung Dicker vielleicht als positive Veränderung wahrgenommen wird, ist doch nur die halbherzige Aufnahme der Dicken in einen Club, der ohnehin abgeschafft gehört.

Es ist, wenn man tatsächlich mal die ganz große Bühne des Lebens in ihrer tatsächlichen Weite zum Maßstab nimmt, nicht wichtig, was einer anhat. Und es ist nicht wichtig, wie einer aussieht. Ich habe schon mal gesagt, dass die Dicken mit ihrem Kampf um Akzeptanz einen Prozess anstoßen könnten, von dem alle, und vor allem Frauen, wirklich mal etwas hätten: Das Auflösen der Schönheitsstandards überhaupt. Und womöglich die Abschaffung von Modediktaten und Uniformierungsregeln gleich mit. Das könnten sie, wenn sie in ihrer Mehrheit nicht doch so verdammt anpassungswillig wären. An gängige und geltende Körper- und Frauenbilder. Einge dicke Modebloggerinnen bloggen ja zusätzlich auch noch über ihre aktuellen und Diätbemühungen...kann man da eigentlich noch Teil einer Community sein, deren Ziel die Förderung dicker Selbstakzeptanz ist?

Aber ja, ich verstehe auch das (irgendwie zumindest): Es wäre halt doch so schön, "normal" zu sein. 

Ich gebe zu - ich bin nicht gut darin, "Menschen da abzuholen", wo sie gedanklich und emotional gerade stehen. Mir ist halt oft nicht einmal klar, wie sie überhaupt da hinkommen konnten, wo sie gerade stehen. ; ) Ich schnappe nach Luft und rufe dann aufgebracht: "Jetzt komm' endlich da weg! Was ist denn bloß los mit dir?!"

Und nach der Diskussion und dem Erfahrungsaustausch bei Gisela Enders' Lesung hat sich bei mir mal wieder sehr deutlich die Frage aufgetan, ob dicker Aktivismus überhaupt einen Sinn hat, bzw. zu gegebener Zeit endlich nennenswerten gesellschaftlichen und öffentlichen Einfluss entfalten kann. Meiner Ansicht nach hat er den nur, wenn er nicht in der Hauptsache daraus besteht, physische und mediale Schutzräume für Betroffene zu schaffen. Was jedoch vermutlich mehrheitlich gerade deren sehr persönliches Hauptanliegen ist.

Aktivismus wird, wenig überraschend, da richtig anstrengend, wo er aus seinem Schutzraum und dem Kreis der ohnehin Überzeugten heraustritt. Und ich müsste irgendwann wohl mal begreifen, dass nicht jede dicke Frau auch nur annähernd so wütend ist wie ich. Und viele wollen wirklich schlicht nur ein einfacheres Leben für sich selbst, bis sie doch endlich abnehmen. Und weil das bald sein wird, lohnt es sich eigentlich auch nicht, sich zwischendurch noch auf den steinigen Weg der Fett- und Selbstakzeptanz zu begeben.

Ich habe ja schon einmal beklagt, dass der Aktivismus offenkundig selbst für die einstigen Anführerinnen einer Bewegung oftmals so anstrengend wird, dass sie sich an einem bestimmten Punkt doch zurückziehen und die von ihnen angestoßene Entwicklung sowie die erfolgreich angestachelten Anhängerinnen sodann sich selbst überlassen.

Golda Poretzky, ehemals Coach für dicke Selbstakzeptanz mit Praxis in New York, hat eben diese faktisch stillgelegt. Ich verdanke ihr was, weil mich die eintägige Online-Vorlesungsreihe, die sie vor zwei Jahren organisiert hat, sehr beeindruckt und mir ziemlich viele neue Felder zum anschließenden, gründlichen Bedenken eröffnet hat.

Wie dem auch sei - Golda Poretzky lebt nicht mehr das Leben einer Aktivistin. Und sie ist heilfroh darüber. Das ist ihrem letzten Blog-Post vom Dezember des letzten Jahres deutlich zu entnehmen. Ich unterstelle nun, es ist nicht nur die Tatsache, dass sie als Anwältin in Festanstellung ein besseres Einkommen hat. Ich unterstelle, es ist auch einfach die Erleichterung, in einem "normalen" und irgendwie regelrecht "dünnen" Leben angekommen zu sein, d.h. in einem Leben, in dem man sich nicht dauernd auch und vor allem in eigener Sache empören, solidarisieren und rüsten muss. Und in dem man nicht pausenlos durch die Kundinnen auch mit dem eigenen Lebenshindernis konfrontiert ist. Und welches sie für sich als Dicke, Coach hin oder her, selbst vielleicht gar nicht für erreichbar gehalten hat. Sie sagt, man darf seine Lebensträume ändern. Das darf man natürlich. Ich aber unterstelle: Die Lebensberatung für Dicke war von Anfang an nicht der große Traum. Es war der Versuch, die eigenen Hürden zum Sprungbrett zu machen. Auch daran ist nichts Verwerfliches. Es ist halt nur blöd für das interessierte und betroffene Publikum, wenn die Bemühungen eingestellt werden, weil es am Ende für die Anführerin eben doch besser ist, "normal" zu werden. Wenigstens Golda ist nun erleichtert, auch nicht mehr so viel twittern zu müssen.

Besser scheitern

Soll man schwierige Ziele besser irgendwann aufgeben, um das Leben zu vereinfachen? Um es im Zuge des faktischen Scheiterns dann zu verbessern? Schließlich ist zumindest die Vereinfachung des persönlichen Alltags seit geraumer Zeit eines meiner Hauptprojekte...Und wenn es um Diäten geht, würde ich die Frage selbstverständlich mit einem lauten "Ja!" beantworten. Wenn es aber um das Durchsetzen gesellschaftlicher Fettakzeptanz geht, wäre eine Antwort noch immer "Nein!".

Ich bin ja mitunter so viel zu viel und so vergnatzt, dass ich selbst meine Therapeutinnen dazu bringe, zu entgleisen und alle Professionaltät über Bord zu kippen. Meine vorletzte schleuderte mir in einer der letzten Sitzungen entgegen, dass das mit mir und meiner psychischen Genesung ohnehin nichts werden könne, "weil Sie sich selbst abgrundtief hassen!". Sie war überwältigt und ratlos angesichts der offenbar in ihrer Praxis noch nie dagewesenen Härte und dem hochfrustrierten Perfektionismus einer dicken Dame, die damals seit über drei Jahrzehnten nicht einen Tag in friedvoller Übereinstimmung mit ihrem aktuellen Selbst verbracht hatte, weil es ihr die Welt seit früher Kindheit unmöglich gemacht hatte. Ich behaupte: Die Ärmste kannte schlicht nicht allzu viele dicke Damen. Denn gerade das, was sie so erschreckt hat, ist etwas, was viele von uns vermutlich gemeinsam haben.

In einer meiner aktuellen Therapiesitzungen vor zwei Wochen schrieb ich dann spontan folgende, eigentlich sehr einfache Erkenntnis auf: "Die heute (noch) gefühlte Selbstverachtung speist sich maßgeblich aus nicht erfüllten Erwartungen an das eigene, ideale Ich. Und das (ist so) seit ich ein Kind bin."

Wobei sich die Vorstellungen, wie der eigene Körper eigentlich sein sollte, in den letzten zwei Jahren tatsächlich komplett verändert hat. Ich kam aus dem Bad, huschte am Spiegel vorbei, stutzte, kam noch einmal zurück - und fand mich tatsächlich schön. Nicht nur akzeptabel. Schön.

It can be done. ; )



NH

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