Samstag, 18. Juli 2015

Follow me around 29: Stimmengewirr



Freitagabend war doch erst gestern.

Meine Therapeutin, die auf Hochtouren gegen meine Vereinsamung anarbeitet, wenngleich auch ohne maßgebliche Unterstützung von mir, will, dass ich "den Plan, Liebe zu finden" nicht aufgebe, bzw. wiederaufnehme. Ich werde bei dem Gedanken nur unendlich müde und traurig. Trotzdem habe ich heute Nachmittag aus einem Stapel Flohmarktbücher, die im Flur liegen, einen angegilbten Dating-Ratgeber wieder herausgezogen: "Jeder Fisch ist schön, wenn er an der Angel hängt" von Susanne Fröhlich und Constanze Kleis. Von 2002. Ich habe es selbst im letzten Jahr in einem Antiquariat gekauft - eigentlich, weil ich, wie immer bei solchen Büchern, dachte, es wäre eine gute Quelle für Satire. Aber mir war heute nicht mehr so recht zum Lachen. Natürlich steht in diesen Büchern immer das gleiche: 1. Ansprüche zurückschrauben. Und zwar so weit wie möglich. 2. Positiv sein. Und offen, offen, offen. 3. Unter Menschen gehen. Und das so viel wie möglich. Das alles sagt meine Therapeutin auch. Aber das alles liegt natürlich ganz und gar nicht in meiner Natur. Und damit schließt sich der Kreis. Die Vorbesitzerin hat 2002 ihren Namen auf die Innenseite des Covers geschrieben. Ob sie wohl im letzten Jahrzehnt angeleitet von Susanne Fröhlich einen dicken Fang gemacht hat?

Die Autorinnen empfehlen außerdem, nicht nur deshalb Orte außerhalb der eigenen vier Wände aufzusuchen, weil sich dort womöglich viele Kerle herumtreiben (wie z.B. ein Fußballstadium oder einen Golfplatz), sondern weil man auch gern an diesen Orten ist. Wenn es dann nichts mit der Männerbekanntschaft wird (und das ist ziemlich wahrscheinlich), hat man wenigstens trotzdem ein wenig Spaß gehabt. Damit ist es erst recht besiegelt - ich bleibe für immer alleinstehend mit Katze. Denn wenn man in Museen, bei nächtlichen Kinovorstellungen und in Schuhgeschäften interessante Männer kennenlernen würde, dann wüsste ich das inzwischen.

Insgesamt habe ich Ratgeber-Burnout. Ich weiß ohnehin alles besser. Ich wurde alt geboren und bin mittlerweile naturgemäß steinalt. Ich kann selbst Ratgeber schreiben...ach stimmt ja, das habe ich bereits. Der gehört übrigens auch in den Flohmarktstapel.

Wobei,...

...seit ich blond bin, gehen mir Männer überall aus dem Weg...im Sinne von "Platz machen". Im Auto lassen Sie mich plötzlich vor ihnen abbiegen oder die Spur wechseln. Und im Supermarkt, wenn sich die Wege unserer Einkaufswagen kreuzen, weichen sie aus oder halten an. Sie nicken mir zu und lassen mich in den Fahrstuhl vorgehen. Offenbar macht mich die neue Haarfarbe sehr viel sichtbarer. So komme ich plötzlich wieder vermehrt in den Genuss allgemeiner Höflichkeiten, die ich eigentlich nicht mehr kannte. Und das macht mich wirklich, wirklich...verdammt sauer. Es gibt Klischees, die sind so absurd und ärgerlich - die dürften einfach nicht stimmen...Es könnte natürlich auch sein, dass ich mich selbst mit der neuen Haarfarbe so verändert habe, dass ich allein dadurch bei anderen Leuten entsprechend neuartige Reaktionen hervorrrufe. An sowas glaube ich ja bekanntlich nicht so recht. Aber neugierig wäre ich schon, zu erleben, was ich erst für Veränderungen in der Beziehung zwischen mir und meiner Umwelt beobachten könnte, wenn ich mit heutigem Blick und Wissen noch einmal mit einem normschlanken Körper (und blond) durch die Weltgeschichte laufen würde...Thin Privilege* noch einmal bewusst und vor dem Hintergrund der zur Genüge gemachten gegenteiligen Erfahrung wahrzunehmen, das wäre vermutlich ein ausgesprochen erhellendes und gleichzeitig zutiefst deprimierendes Experiment. Wenn man feststellt, dass alles, was man über die Oberflächlichkeit der anderen lieber nicht so recht glauben wollte, doch stimmt - das muss echt fürchterlich sein.

Dass in meinem Fall "dick und blond" allerdings noch immer in der Hauptsache "dick und mittelalt" ist, habe ich im Zuge des unerwarteten Vorgelassenwerdens auch mitbekommen. Ich glaube, ich habe noch nie die männliche Abscheu gegen die dicke Frau, die ich bin, so deutlich gespürt, wie bei dem Schnösel, der mir eine Tür aufhalten musste, weil sein Kollege mir zuvor woanders den Vortritt gelassen hatte. Da musste er mitziehen, um nicht wie ein unerzogener Arsch dazustehen - und fand mich so widerwärtig, dass ich es schier riechen konnte, als ich an ihm vorbeiging.

Aber wo ich gerade bei Thin Privilege bin...

Beim Surfen durch deutsche Fettakzeptanz-Blogs bin ich auf einen ein paar Tage alten Fernsehbeitrag über die Curvy Modemesse gestolpert (ZDF, Hallo Deutschland). Der Bericht war fünf Minuten lang und zeigte mehrere kurze Interviews mit dicken Modebloggerinnen, einer Designerin und einem Model für große Größen. Und diese Gespräche wiederum enthielten so viele fettphobische Spitzen, dass ich schon wieder mal meinen fleischigen Ohren (kein Witz übrigens, die habe ich von meinem Vater geerbt) kaum trauen konnte/wollte. Die Selbstverständlichkeit, mit in der in der Branche offenbar unablässig Publikumsbeschimpfungen stattfinden, ist mir absolut rätselhaft. Denn mich hat dieser Umstand bereits wiederholt dazu gebracht, lieber nichts zu kaufen. Wie gut für Anna Scholz und ihre Kollegen, dass die meisten anderen Kundinnen das scheinbar nicht annähernd so eng (ha!) sehen, wie ich alte Meckerziege. Denn die Anna hat nach eigener Aussage "ihre Schwäche" (eine große Kleidergröße) zu einer Stärke gemacht. Eine Bloggerin gibt zu bedenken, dass die Models, die die Mode auf der Messe präsentieren, zwar Plus-Size-Models sind, weil sie ja immerhin Größe 40 oder 42 tragen, aber eigentlich "keine übergroßen Models" sind, weil sie ja "wunderschöne Proportionen" und einfach eine "tolle Figur" haben. Bei Größe 40/42 ist also noch nicht alles "sooo schlimm". Von einer anderen Bloggerin will die Interviewerin wissen, wie sie nun eigentlich ihre "Pölsterchen versteckt", woraufhin diese prompt darauf hinweist, dass eine bestimmte Rockform sehr hilfreich ist, wenn es darum geht, zu "kaschieren". Das Model Caterina Pogorzelski findet allerdings generell: "Man sieht nicht oft irgendwie ne übergewichtige Frau, die gut gestylt ist, gut zurecht gemacht ist." Das im Kern zumeist zutiefst fettphobische Gebaren von Modefirmen, die sich zwar auf große Größen spezialisiert haben, aber ihre eigenen Kundinnen pausenlos ermuntern, sich wegzukaschieren und ihre große Mode verlogenenerweise noch immer mehrheitlich an vergleichsweise dünnen Models präsentieren, könnte mich, glaube ich, eines schönen Tages durchaus so wütend machen, dass ich womöglich abnehmen würde, nur um ihnen kein Geld mehr zu geben und mich nie mehr mit ihnen und ihren spießigen Katalogen auseinandersetzen zu müssen. 

So. Und nun ist schon wieder Samstag. Bevor ich gehe - wie wäre es mit einer schnellen Runde Plus-Size-Bullshit-Bingo: Curvy, kurvig, kaschieren, mollig, starke Frauen, Pölsterchen, Formen, Problemzonen, wegzaubern, verstecken, strecken, ablenken, betonen, mildern, Rundungen, weiblich, weich, schmeichelhaft, Vollweib, Rubensfrau, Lebensfreude, mogeln, schummeln, wegzaubern, ein paar Kilos zu viel, fließend...wer macht weiter? ; )



*Die Abwesenheit negativer Reaktionen, Bewertung und Diskriminierung durch die Umwelt, die zur grundsätzlichen und durchgängigen Lebenserfahrung Dicker gehören.


NH