Samstag, 18. Juni 2011

Vom anderen Planeten


Und wo wir gerade davon sprachen: Ein Püppchen / Fetisch aus Stein oder Ton, das das Körperideal des Künstlers und seiner Zeit wiederspiegelt?...Ich habe bei Ausgrabungen / beim Aufräumen in meinem Keller MEINE persönliche Venus von Willendorf wiedergefunden. Sie ein Relikt aus den späten 80ern. Und das war VOR Kate Moss und Heroin Chic. Von mir im Kunstunterricht erstellt. Das Thema war vermutlich: „Nehmt mal einen Klumpen Ton und macht was Schönes damit.“ Und das habe ich getan. Ich weiß, dass es eine weibliche Figur ist, auch wenn man es im Prinzip nicht sieht. Allerdings wäre es mir als Teenager nie in den Sinn gekommen, bei freier Aufgabenstellung ein Kunstwerk zu fabrizieren, das sich nicht mit MIR, MIR, MIR beschäftigt hätte. Dafür wird überdeutlich, dass ich etwas für lange, dünne Hälse und knochige Schultern übrig hatte. (Kann auch nicht sagen, dass es heute ganz und gar anders wäre.)




Erst war ich erschüttert, als ich sie auspackte. Garantiert war ich auch gerade wieder dabei, eine Diät zu machen, als die Figur entstanden ist, denn ich habe als junges Mädchen immer irgendwie Diät gemacht. Zumindest im Kopf. Und ich musste natürlich sofort an Pro Ana Ästhetik denken. Die Verherrlichung von sich dahinschleppendem, ausgemergeltem Weltschmerz. Und ich bin überzeugt, dass die Figur eine unbeabsichtigte, aber umso deutlichere Darstellung einer vorhandenen Essstörung sowie des ewigen Kampfes mit dem eigenen Körper und nicht erfüllten Idealen ist. Und sie ist bereits über 20 Jahre alt.


Aber: Obwohl die Figur wie die Venus von Willendorf kein Gesicht hat, scheint sie erstaunlicherweise trotzdem einen Ausdruck zu haben, vielleicht sogar mehrere. Und sie hat Arme, die ihren langen, dünnen Oberkörper nach außen hin definieren und abgrenzen. Dafür verfügt sie weder über einen Unterleib (genau genommen knickt sie gerade an der Stelle besonders weit ein), noch über echte Beine. Sie hat eine Art Sockel – auf dem sie jedoch erstens recht stabil steht, und in dem zweitens eine unbestreitbare Dynamik steckt. Sie scheint sich trotz allem vorwärts zu bewegen. Möglichweise schwebt oder wabert sie aber auch eher, als dass sie wirklich einen Fuß vor den anderen setzt. Glücklicherweise marschiert sie zumindest nicht. ; ) Sie hat Richtung, Ernsthaftigkeit, Haltung und irgendwie – Bestimmtheit. In der Hinsicht ist in der Tat das, was ich immer sein wollte. Und insofern erzählt sie die uralte Geschichte von dem Leben und dem Ich, für das das Dünnsein immer als symbolischer Platzhalter herhalten musste.


Nun steht sie also auch auf dem Schreibtisch, neben der kleinen, dicken Venus (die, wenn man ehrlich ist, allein auf ihren Füßchen ja gar nicht stehen kann). Ich finde, sie sind ein interessantes Paar. Aber wer bin ich?

NH