Sonntag, 5. April 2020

Corona-Lockdown Tag 21



Schön ist das nicht.


Ich bin ja keine, die das Leben liebt. Ich bin eine, die am Leben hängt, weil sie immer hofft, dass gleich noch was ganz Tolles passiert. 

Wohlgemerkt, es muss schon einfach so passieren, denn um Großartiges planvoll herbeizuführen - dazu fehlt mir seit jeher die nötige Energie, bzw. das anpackende oder verbissene Gemüt einer konventionell als erfolgreich wahrgenommenen Persönlichkeit. Natürlich wäre ich viel erfolgreicher, wenn ich trotz Krise und allgemein nicht so doller Verfassung früh morgens, sagen wir mal so um sechs, aufstehen und all das tun würde, was dafür notwendig ist, damit alles viel besser läuft. Der Versuch, alles zu tun, wenn frau für nur viel weniger Kraft hat, würde vermutlich wie immer direkt in die Selbstoptimierungsfalle führen. Frau denkt, das Unmögliche muss jetzt endlich doch gehen. Diesmal wird der inneren Antagonistin bestimmt beizukommen sein. Aber dann geht, so wie vormals, fast nichts und frau fühlt sich noch viel bescheuerter als vorher. Und die Verzweiflung über das erneute Versagen lähmt zusätzlich.

Jetzt hätte ich doch endlich mal Zeit für Rückengymnastik und Weiterbildung und Werbung und Social Media Networking und das Erstellen einer eigenen App. Ja, ist klar. Geschafft habe ich in drei Wochen weitgehend untätiger Corona-Krise meine Ablage (bis auf den Batzen von Dokumenten, die noch eingescannt werden sollen, versteht sich). Dafür habe ich mittlerweile alle Episoden der DDR-Kinderserie Spuk im Hochhaus gesehen. Stellenweise fast ein wenig wie Fellini...

Währenddessen geht Oliver in regelmäßigen Abständen mit dem Hund raus und kommt mit den merkwürdigsten Geschichten zurück. Der Sachsenwald steht voller Autos mit hamburger Kennzeichen, dabei ist Schleswig-Holstein für Touristen gesperrt. Am Bahnhof treffen sich Grüppchen von Fahrradfahrer*innen zur gemeinsamen Ausfahrt, die garantiert nicht alle im selben Haushalt wohnen. Ein paar Häuser weiter sitzen lauter junge Leute im Garten und scheinen tatsächlich noch immer so etwas wie eine Party zu feiern. Auf dem Gehweg vor dem Haus schieben Großeltern ihre Enkel vergnügt in einer Schubkarre hin und her - und just in diesem Augenblick sehe ich gerade eine alte Frau aus dem Nachbarbunker mit ihrem Enkel über den Parkplatz gehen. Die wohnen übrigens auch nicht zusammen... Millionen von Menschen zerbröselt die wirtschaftliche Existenz, während vor allem auch diejenigen, deretwegen wir das alles hier in der Hauptsache veranstalten, sich mitunter an gar nichts halten, um sich selbst und andere zu schützen. Das macht mich sauer. Verdammt noch viel saurer, als ich es naturgegeben ohnehin schon bin. Und die Sonne hilft ebenfalls überhaupt nicht. Was wir bräuchten, wären fortgesetzte Schneestürme bis Ende April.

Beim Sortieren von Papieren bin ich auf einen Ordner mit Themen für das Blog gestoßen. Zum Teil sind da sogar schon fast fertige Texte drin. Handschriftlich. Einiges werde ich nicht mehr verwenden, weil es sich inzwischen komplett überholt hat. Für andere Themen ist jetzt mitten in der Krise ihre Zeit definitiv gekommen, z.B.für das Folgende. Der Text stammt aus dem Winter 2018. Der Inhalt ist allerdings so aktuell wie damals.

Ich werde unsichtbar 


Unlängst haben sich zwei Frauen beinahe auf mich gesetzt. Am selben Ort. In einem zeitlichen Abstand von ca. 15 Minuten. Ich saß auf einer Bank an einem Tisch des Restaurants im Völkerkundemusem in Hamburg (heute heißt es Markk) und wartete auf Oliver, der dabei war, das Essen zu holen. Seit über einem Jahrzehnt esse ich einmal im Jahr im Herbst die Sieben Köstlichkeiten vom Büffet, wenn ich zum Markt der Völker gehe.

Während ich so in meiner Tasche herumkramte, näherten sich von linkes hinten eine junge und eine alte Frau. Die Junge hielt ein Baby im Arm. Die Alte verkündete, dass sie - ach ja - Glück gehat hätten, freie Plätze gefunden zu haben. Während der Platz mir gegenüber tatsächlich frei war, saß auf meinem Platz ja...ich. Die laute Oma schob sich mir nichts dir nichts in meine Reihe und zwang mich und Oliver, der gerade mit unseren Tellern angekommen war und sich gesetzt hatte, uns aneinanderzuquetschen. Ich sah ihn an und fragte laut: "Sag mal, kannst du mich sehen?" Er guckte mich verwirrt an, worauf ich ihm meine Befürchtung erklärte, nun endgültig unsichtbar geworden zu sein. Woraufhin die Idiotin sich munter und unerklärlich ahnungslos in unsere Unterhaltung einklinkte und bekundete, dass sie manchmal auch das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden. Insbesondere Ausländer seien ja oft so unhöflich. Aber ihre Lösung sei es nun, sich bewusst innerlich groß zu machen. Dabei lächelte sie mir aufmunternd zu. Offenbar war alles mal wieder nur eine Frage der inneren Einstellung, und ich hatte die falsche. Darum hatte sie ja jetzt auch meinen Platz.

Dann allerdings wurde neben ihrer Tochter ein Platz auf der gegenüberliegenden Bank frei, und so setzte sie sich um, um näher bei der Enkelin zu sein. Ich war gerade auf meinen alten Platz zurückgerückt, als abermals von links hinten eine Frau kam und sich fröhlich fast auf meinen Schoß setzte. Sie hatte einen Mann im Schlepptau, und weil Oliver und ich ja fast mit dem Essen fertig zu sein schienen, passte das ja richtig super. Oliver und ich starrten uns an, und ich schwöre, in diesem Augenblick hatte jeder am Tisch enormes Glück, dass ich es vor lauter Verblüffung wieder nicht so recht schaffte, mich innerlich ganz groß zu machen. Tatsächlich muss man zugeben, dass wir wohl eher die Flucht vor so viel Unverschämtheit und Blödheit nahmen. Wir rafften das Geschirr zusammen und stießen noch so etwas wie "Jetzt reicht's!" aus, woraufhin die Frau mit angeschlossenem Mann fröhlich rief: "Es war aber nicht unsere Absicht, Sie zu vertreiben!", während sie bereits unsere Plätze eingenommen hatten. Ich machte kehrt, ging auf sie zu und zischte: "Und WAS GENAU war dann Ihre Absicht?" Ich konnte Olivers Sorge um den Landfrieden hinter mir spüren und sah die gähnende Leere in den Augen der nun nicht mehr ganz so fröhlichen Frau. Und dann entschied ich mich, einfach zu gehen. 

Es war, so meine ich mich zu erinnen, in einem Interview mit Bascha Mika, in dem ich zum ersten Mal von der Unsichtbarkeit der mittelalten Frau gehört habe. Ich weiß nicht mehr, ob ich es schon erwähnt habe, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie dieses Phänomen sich tatsächlich als Lebenrealität manifestieren könnte. Kurz, ich hielt es für Quatsch, bis es anfing, mir zu passieren. Ich bin jetzt Ende vierzig, und Frauen, die deutlich älter sind, setzen sich auf mich drauf, wie auf ein Möbel. Ich kann mit 110 kg Lebendgewicht, von durchschnittlicher Körperhöhe und eingehüllt in pinkfarbene Wolle vorn in der Schlange beim Bäcker stehen und der Mann mit dem grauen Gesicht und der grauen Windjacke hinter mir kommt plötzlich vor mir dran. Neulich spazierte ein Herr bei Aldi in der Schlange kurzerhand an mir vorbei und stellte sich vor mir an. Er bemerkte seinen Fehler allerdings irgendwie doch noch und war ein wenig beleidigt, als ich ihm nahelegte, seinen Platz jetzt einfach zu behalten, denn sowas würde mir jetzt ohnehin andauernd passieren. Offenbar falle ich außerdem mittlerweile aus jeder Rangordnung heraus. Alte Frauen laufen grundsätzlich in mich hinein, wenn ich nicht Platz mache, genauso wie junge Männer. 

Als dicke Frau kannnte ich bisher das zermürbende Spannungsfeld aus der Unsichtbarkeit als weiblicher Mensch einer- und der Hypervisibilität als devianter Körper andererseits. Das ist übrigens auch ein verdammt unangenehmer Zustand. Ob komplette Unsichtbarkeit besser ist? Wenn ich demnächst ungehindert durchs Weißen Haus schlendern kann, dann ja.

Da ist noch mehr...
in dem Ordner mit Blogmaterial, das sich lohnen würde. Hoffentlich komme ich in den nächsten Tagen wieder in die Puschen - bis dahin #bleibtzuHause.

NH


Vielleicht braucht ihr ja Lesestoff - den gäbe es hier: