Montag, 7. Mai 2012

Der Kampf ist vorbei

Wenn ich bisher noch nicht ganz und gar sicher war, dann bin ich es jetzt, nachdem ich todesmutig im verräterischen Licht einer Ulla-Popken-Umkleidekabine einen Badeanzug mit einem glitzernden Papagei auf der Vorderseite anprobiert habe. Über meinen Leib gespannt wurde dieser zu einem recht stattlichen Viech. Und eins muss man ihnen lassen – sie mögen sich auf die Verhüllung dicker Frauen spezialisiert haben, aber ihre Umkleiden machen der Käuferin nichts vor. Zuerst erkannte ich nur eine dicke Frau mit einem echt fetten Papagei am Busen, und krächzte ein paarmal "Lora" vor mich hin. Aber dann sah ich auch den Rest. Mit zwei Spiegeln, die garantiert nicht solche sind, die ein paar Kilos wegschummeln, hat man einen großartigen Panoramablick auf Wellen und Dellen und das ganze restliche Gedöns.

Ich weiß: Alle Jahre wieder. Aber zum ersten Mal nahm ich mir auch im hintersten Winkel meiner Seele NICHT mehr vor, das alles eines Tages zu ändern und schön und straff zu werden. Ich SAH die Verwüstung, die das Ergebnis jahrzehntelanger Diäten ist, die hängende, krisselige Haut an den Oberarmen, die silbrigen Dehnungsstreifen, die sich wie glänzende Schneckenspuren über meinen Bauch ziehen und das klumpige, wippende Fleisch an den Oberschenkeln, und BEGRIFF, dass dieser Kampf, selbst wenn ich es wollte, nicht einmal mehr mit operativen Maßnahmen zu gewinnen wäre. Und dass, im Gegenteil, die erneute, wenn auch nicht mehr drastische Gewichtsabnahme die nackten Tatsachen vermutlich aus rein ästhetischer Sicht eher noch verschlechtern wird. Erst da wurde mir klar, dass mich von jetzt an keine Diät der Welt mehr schöner machen wird. Und erretten schon gar nicht. Diäten aufzugeben, heißt für mich gar nicht, den Traum von „Attraktivität“ (was immer das ist) dranzugeben, denn der ist, vermutlich bereits seit Jahren und objektiv betrachtet, längst ausgeträumt. Dummerweise hat das Erwachen ohne mich stattgefunden. Mein Spiegelbild hätte mir das alles schon lange sagen können, wäre ich nicht so geübt darin gewesen wegzusehen und zu hoffen, dass man seine Realität und seinen Körper doch noch immer irgendwie photoshoppen kann, wenn man nur die richtige Zauberformel findet. Die Entscheidung gegen den Kampf um den Traumkörper und das Traumleben in ihm wurde mir vor langer Zeit schon abgenommen. Ich stand da und wusste: Das war’s. Die Spiegel von Ulla sagten: „Diesen Körper kriegst auf keinen Fall mehr hin. Jedenfalls nicht dahin, wo du ihn immer hinhaben wolltest. Und wo er vielleicht sogar vor ewigen Zeiten mal war, ohne dass du das erkennen konntest.“ Man kann es nicht oft genug wiederholen: Was ist das für eine Idiotie,  bei der einen die Idee von einem unechten Körper davon abhält, ein echtes Leben zu leben!

Meine Aufgabe ist es nun, endlich mit dem Körper umzugehen, den ich hier und heute tatsächlich habe und ihn gut zu behandeln, damit er möglichst gesund bleibt, weil ich ihn brauche – als zuverlässiges Transportmittel für mein Hirn, das auch noch ein bisschen was vorhat. Und was für eine gute Idee, dass bei Ulla Popken Erfrischungstücher in den Kabinen liegen – ich bin wahrscheinlich nicht die einzige, die beim eigenen Anblick im Papageienanzug in Schweiß ausbricht. Vermutlich aber fangen nicht ganz so viele an zu heulen. Es war eine eigenartige Mischung aus Erschrecken, Abschiedsschmerz und Erstaunen. Erschrecken über die Wahrheit. Abschied von einem Lebenszweck und –ziel. DEM EINEN ZIEL, dem, zumindest gedanklich, alles andere untergeordnet war, und das nie erreicht wurde. Und nun auch nicht mehr erreicht werden wird.  Erstaunen, weil ich plötzlich frei bin. Und nur durch etwas, das eigentlich nicht in meiner Natur liegt – sich abzufinden. Hätte ich ich nie eine Diät in meinem Leben gemacht, hätte ich heute einen Körper, der vermutlich hundertmal näher an gängigen Schönheitsidealen wäre, als der, in dem ich jetzt wohne. Aber es gibt keinen Weg zurück. Also muss man auch nicht zurückschauen. Ich käme ja auch nicht auf die Idee, jetzt noch Konzertpianistin werden zu wollen. Manche Züge fahren ohne einen ab, und das muss nicht einmal eine Tragödie sein.

Und wo wir gerade beim Ausmisten sind: Ja, ich habe es getan! Allerdings nicht nach meinem letzten Post, in dem ich es eigentlich angekündigt hatte, sondern erst heute unter dem Eindruck der Ereignisse hinter den Spiegeln: Alles, was kleiner ist, als eine Größe 44, wurde aus meinem Kleiderschrank ausgewiesen (mit einigen Ausnahmen). X und XL wurden jeweils zum Testen auf die Seite geschafft.

Ich hatte einen Schrank voller toter Träume. (Vom toten Kapital ganz zu schweigen.) Im Englischen hat man ja gern mal statt der Leiche im Keller "a skeleton in the closet" - wenn das nicht passend ist.

Geisterparade 1 (Größe 32 bis 40)

Eine Auswahl von der Pretty-in-Pink-Gedächtnisstange...

Das Kleine Schwarze meiner Großmutter bleibt natürlich.

Ebenso bleibt das Kostüm, in das ich zum Abi dann doch nicht gepasst habe (Größe 36) - als Memento Fuck Diets. Ja, ich weiß - ich hätte ausgesehen, wie eine Stewardess.

Die gelbe Hose (Größe 40) war das allerletzte Kleidungsstück, das ich gekauft habe, um "hineinzuschrumpfen".

Und das hier ergibt vielleicht noch eine schöne Kissenhülle.

Insgesamt wird das Projekt wahrscheinlich noch ein paar Tage dauern - und es wird noch eine lange Nacht. Ich hoffe, die Aussortierten fangen zur Geisterstunde nicht an zu tanzen ; ).

 NH