Sonntag, 13. September 2015

DER HIMMEL WAR SO BLAU...

...wie eine blaue Kaffeekanne.*

Diese großen Wendungen des Herzens, bei denen jemand plötzlich einem fahrenden Zug hinterher hetzt oder in letzter Sekunde auf den Flughafen stürmt - die gibt es nicht. Nur in Büchern und Filmen. Dort natürlich haufenweise, weil wir sie uns so sehr wünschen. Wir wünschen uns Wunder im Bewusstsein des anderen zu unseren Gunsten. Aber sie passieren einfach nicht. Oder so schleppend und zögerlich, dass man sich wirklich niemals sicher sein und die gefühlte Musik zum Ereignis auch unmöglich so lang anschwellen kann. Es ist zum Verzweifeln. Die Realität schweigt und beißt. Liebe beißt. 

Ich arbeite noch immer am Plan für die DICKE DAME DATING TOUR 2015. Speed Dating und Barhocken und so. So recht mag ich mich noch immer nicht aufraffen. Mit einer erfolglosen Tanzveranstaltung und einem weiteren grotesken Date aus der Hölle auf dem Konto der Fehlschläge, gab es in den letzten Wochen wirklich keine Zeichen, die dazu geeignet wären, eine zu ermutigen. Trotzdem weiß ich natürlich, dass mir kein Partner vor die Füße fallen wird. Ich kann mich nicht auf glückliche Zufälle verlassen - davon gab es in meinem Leben so gut wie keine. Ich muss immer was machen, damit was passiert. Und selbst dann ist kaum etwas jemals leicht. 


Hokuspokus

Ich habe hier bereits öfter erzählt, dass ich vor 20 Jahren eine große Anhängerin des "positiven Denkens" war. Als ich vor ein paar Wochen mal wieder im esoterischen Buchladen Wrage im Uni-Viertel war, habe ich, fast wie aus alter Gewohnheit, ein, zwei Bücher zum gleichen Thema mitgenommen. Tatsächlich sind Bestellungen beim Universum und das Gesetz der Anziehung offenbar auch nach Jahrzehnten noch immer Goldesel auf dem Esoterik-Markt. Allerdings natürlich nur für die AutorInnen und Gurus. 

Das Gesetzt der Anziehung besagt, dass Menschen die Dinge im Leben anziehen, bzw. "manifestieren", mit denen sie sich gedanklich am intensivsten beschäftigen, denn Gedanken sind angeblich eine Form von Energie, die Umstände und Gegenstände erschaffen kann. Wissenschaftlich ist das Konzept nicht. Und darüber hinaus ist es auch noch zutiefst bösartig und destruktiv, weil es Menschen auch für alles Schlechte, das ihnen im Leben geschieht, die Verantwortung zuschiebt. Wer krank ist, Opfer einer Straftat oder einer Naturkatastrophe, betrogen oder entlassen wird und keine Prada-Tasche hat, hat seine Gedanken einfach nicht unter Kontrolle, denn während positive Gedanken gute Dinge manifestieren, sind negative Gedanken genauso kreativ und führen zu Tod und Teufel. Und wenn es dazu kommt: Selbst Schuld!

Die Autorin Pam Grout schlägt in ihrem Buch E² (Ullstein, 2013) neun "Experimente" vor, die die Leserin selbst durchführen kann und die Zweiflern beweisen sollen, dass das Gesetz der Anziehung doch funktioniert. Ich habe ganz offenbar viel zu viel Zeit - auf jeden Fall habe ich das 1., 2., 4., 5. und 8. Experiment gemacht. Tatsächlich habe ich auch zu jedem brav ein "Laborprotokoll" ausgefüllt. Zwar habe ich davon abgesehen, mir eine Wünschelrute aus Kleiderbügeln zu basteln. Und ich habe auch nicht über meinem Essen gebetet und so versucht, innerhalb von 72 Stunden ein Pfund abzunehmen. Aber ich habe mich darauf konzentriert, einen Tag lang so viele gelbe Autos wie möglich wahrzunehmen, und habe es tatsächlich auf 38 gebracht. Aber obwohl es so schön gewesen wäre, sich eines Besseren belehren zu lassen, so traf doch, wie früher, nichts ein, auf das ich mich für jeweils 48 Stunden konzentriert habe. Das Universum blieb stumm und selbst Antworten auf ganz einfache Fragen schuldig, gab keinen Laut von sich und verteilte ebenso wenig auch nur die kleinsten, wahrscheinlichsten Geschenke (eine Aufgabe war, sich zu wünschen, dass innerhalb von zwei Tagen IRGENDETWAS Bemerkenswertes oder Unerwartetes passieren würde). Selbst das, worauf die Autorin natürlich zählt und was den meisten LeserInnen des Buches zumindest bei einigen der absichtlich höchst allgemein gehaltenen Experimente entgegen kommen und zu einem ansatzweise positiven Ergebnis führen dürfte, half mir in keinem der Versuche weiter - der glückliche Zufall. Innerhalb einer Woche geschah nicht ein einziges Mal zufällig irgendetwas, das ich mit viel Wohlwollen als Lächeln der universellen Energie hätte deuten können.

Schöne Scheiße.

Was mich am meisten ärgerte und im Übrigen auch erschreckte, war das starke, mir sehr vertraute Gefühl der Frustration und des Versagens, dass das Scheitern der sinnlosen und natürlich komplett verrückten "Experimente" in mir hervorrief. Wider besseres Wissen. Wir sind nur begrenzt in der Lage, unsere Angelegenheiten zu steuern. Aber es ist so verdammt schwer, das zu akzeptieren.

What would you do today if you didn't despise yourself?**

Inzwischen lese ich mir nun selbst laut Bücher vor. Unworthy (Penguin, 2015) von Anneli Rufus liest sich stellenweise tatsächlich wie ein Selbstgespräch. Es geht um Selbsthass und um Strategien, ihn schrittweise zu überwinden und hinter sich zu lassen. Ich kann nun meine eigene Stimme an einigen Stellen vor Betroffenheit kippen hören. Rufus weiß, wovon sie redet.Und wir sind Mitglieder im gleichen Club. Obwohl ich nun schon so lange als dicke Frau an meiner Selbstakzeptanz arbeite, musste ich feststellen, dass ich auf die Frage auf dem Cover (s. o.) noch immer so gar keine rechte Antwort habe. 

Genauso wenig verspüre ich aber offenbar den Impuls, automatisch einzuwenden: "Aber ich hasse mich doch gar nicht!" Weil die Sache wirklich nicht so eindeutig ist. Man kommt von so weit her und kommt doch noch immer nicht an. Und Rückfälle sind auch heute noch keine Seltenheit. Anneli Rufus hat zehn Fallen für Selbsthasser identifiziert: Nicht zu wissen, was man will; Probleme, die eigene Identität zu finden; Bedauern; Angst vor der Welt; Schweigen; Probleme, wirklich erwachsen zu werden; zu leicht aufzugeben, übermäßige Loyalität mit denen, die uns schaden; Zweifel am eigenen Potential - und harsche Selbstkritik. 

Ich muss mich genauer im Blick behalten. Denn eine ambivalente und vorsichtige Einstellung zu mir selbst fühlt sich für mich noch immer sehr viel natürlicher und stimmiger an, als rosarote Selbstliebe. Und dabei geht es nicht nur um Fett. Ich habe mich in den letzten Jahren auf mein Fett und seinen Platz in der Welt konzentriert, aber dabei sind vermutlich weitere Gründe für ein geringes Selbstwertgefühl eher unbearbeitet geblieben. Dabei wüsste ich wirklich gern, was ich in kompletter Abwesenheit von Selbstablehnung tun würde.


NH

* Frau Entes großer Tag (Pixi Buch 64)

** Was würdest du heute tun, wenn du dich nicht verachten würdest? (Unworthy, Anneli Rufus)