Sonntag, 2. August 2015

Ausgelesen: Dicksein

"Dicksein" von Eva Barlösius (Campus, 2014) behandelt ein hochinteressantes Thema auf so langweilige Weise, dass ich tatsächlich Monate gebraucht habe, um es zu beenden. Es geht um die Frage, ob Dicksein sich auf das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft in etwa so auswirkt, wie die Zuordnung zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht. Das würde z.B. die Frage beinhalten, ob sich Dicksein auf berufliche Chancen ähnlich auswirkt wie soziale Herkunft.

Aber das vergleichsweise dünne Buch ist so saftlos verfasst, wie eine mittelmäßige, wissenschaftliche Hausarbeit, und sowas in der Art ist es halt auch. Tatsächlich habe ich es ab der Hälfte nur noch überflogen. Das ist eben genau das Problem - das Thema Fett und seine sozialen Implikationen werden teilweise sogar von denen stiefmütterlich behandelt, die es trotz allem behandeln.

Die Arbeit basiert auf einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt mit dem Titel "Verbesserung der Wirksamkeit der Adipositasprävention für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche (...blablabla)". Das an sich ermuntert nicht gerade zu großen Erwartungen. Auch verwirrt mich noch immer die Auswahl der Probanden und die Teilnahmevoraussetzung, einer bestimmten sozialen Schicht anzugehören, wenn doch untersucht werden soll/könnte, ob sich nicht gerade Dicksein selbst so auswirkt, wie ein Klassenunterschied. Da scheint mir etwas von vornherein vermischt worden zu sein, was nur zu gern zusammengewürfelt, aber vermeintlich ja auch statistisch in einen Topf  gehört: Dicksein und Zugehörigkeit zu einer bildungsfernen Gesellschaftschicht. Dass man als dicke Frau mancherorts automatisch für "ungebildet" gehalten wird, erfahre ich selbst übrigens auch immer wieder mal - vorzugsweise in Arztpraxen.

Empfehlen kann ich das Buch aus allen oben genannten Gründen eigentlich nicht, aber ich wollte hier wenigstens auf seine Existenz hinweisen.

Die Erkenntnisse, die die Autorin aus Gruppeninterviews mit dicken Jugendlichen aus schwachen sozialen Verhältnissen und deren Eltern gewonnen hat, umfassen u.a. die folgenden Aspekte:

Die Stigmatisierung Dicker hat in den vergangenen Jahrzehnten so zugenommen, dass ihr Ausmaß und ihre Ausbreitung mit denen von Rassismus gleichziehen. Gar "scheint die Diskriminierung und Herabsetzung von dicken Menschen eine der letzten Formen der Herabwürdigung zu sein, die auf gesellschaftliche Zustimmung und Anerkennung trifft". (S.23)

Körperlicher Eigenschaften sind für die Jugendlichen das allerwichtigste Kriterium, wenn es um die Einordnung und Bewertung anderer, aber auch der eigenen Person geht. "Die Typisierung in "dick" und "dünn" besitzt (...) die gleiche Allgegenwärtigkeit (...), wie (...) die (...) Unterscheidung der Geschlechter." (S.58)

Die dicken Jugendlich werteten sich im Gespräch selbst vorsorglich ab und rechtfertigten sich automatisch, weil sie sehr genau wissen, was "die Gesellschaft" über sie denkt. Sie kennen und unterstützen die Vorstellung, dass gewisse Lebensmittel und Körperformen "moralischer" sind, als andere.Tatsächlich reden sie auch nur mit dieser gesellschaftlich vorgegeben Sprache über sich und ihren Körper, weil sie "keine eigene Sprache für ihre Erfahrung mit dem Dicksein" (S. 55) entwickelt haben.

Die Betroffenen, die dicken Jugendlichen, sowie ihre Eltern, stimmen der gesellschaftlichen Annahme, dass Dicksein eine Folge mangelnder Disziplin und Selbstkontrolle ist, und die Benachteiligung Dicker damit verdient ist, weitgehend zu.

Was die geführten Interviews offenbar auch zeigen, ist, dass besonders diese "bildungsfernen" Eltern sehr stark verinnerlicht haben, was "gute und richtige" Ernährung ist und ein ständiges Schuldgefühl mit sich herumschleppen, wenn sie diesen Ansprüchen im Hinblick auf ihre Kinder nicht nachkommen - aus welchen Gründen auch immer.

Das bringt mich abschließend auch mal wieder zu dieser Frage: Könnte der Stress der ständigen Rechtfertigung und der permanenten Schuld/Ermahnung/Kritisierung der Kinder einen Effekt auf deren Körpergewicht haben - Stress, Rebellion und Jojo in Wirkungseinheit womöglich? Weil den gesellschaftlich pausenlos gescholtenen Eltern schlicht das Selbstbewusstsein fehlt, zu glauben, dass man schon das Richtige für die eigenen Kinder tut und weder sie noch man selbst der fettphobischen Gesellschaft etwas schuldet?

NH


Show Stopper.

4 Kommentare:

  1. irgendwo erst gestern habe ich dazu etwas gelesen .
    das es eben der stress um diesen ganzen körpernormierungsscheiss ist, der einen/eine dick macht. in Studien einwandfrei belegt...weiss aber nicht mehr wo das war...ärgerlich.
    und ärgerlich ist auch, das diese erkenntnis nirgends auftaucht, medial gesehen....

    Liebe Grüße
    Stella

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  2. Interessante Rezension und aber auch interessante Erkenntnisse aus dem Buch. Vielen Dank für die Zusammenfassung :-)
    Diese Erwähnung der "vorsorglichen Abwertung" hing mir jedenfalls noch etwas nach. Das stimmt!
    Mir fallen tausend Beispiele ein (auch aus meinem Alltag). Und die fehlende eigene Sprache... die Sprache bestimmt wiederum das Denken! Ein Kreislauf der Abwertung!

    Nachdem ich vor ein paar Tagen deine Rezension gelesen habe, stieß ich völlig unabhängig davon auf einen Bild Artikel über den "neuen Star" am Self-Publishing Himmel. Die deutsche E.L. James? Bethy Zimmermann alias Don Both wurde da großmundig als Aschenputtel Story von der Flaschensammlerin zur erfolgreichen Autorin angekündigt und war auf dem illustrierenden Bild dick. Meine Neugierde war geweckt. Da Bild Plus nicht in Frage kommt stieß ich via Google auf die ganze Story und die Amazon Leseprobe von "Immer wieder Samstags" auf Amazon. Langer Vorlauf, kurzer Sinn: ich las dann mal in die "Vorschau" hinein und war E-N-T-S-E-T-Z-T über die permanente Selbst-Abwertung der dicken "Heldin" gegenüber dem Objekt ihrer Begierde (der seinen "Ficker" eigentlich nie in den "Truthahn" stecken wollte, es dann aber besoffen doch tut und den "besten Sex seines Lebens" hat).

    Sowas scheint sich gut zu verkaufen... die Dicke die ihrer selbst zum Trotz auch mal einen abkriegt der sie liebt, obwohl sie sich selbst abgrundtief hasst. Verfasst von einer dicken Frau, die sicher selbst ausführlich erfahren hat was es in dieser Kultur bedeutet dick zu sein.

    Naja, du merkst schon... kurze Gedankenexkursion. Aber ich weiß ja, dass du manchmal auch ein Herz für Trash hast (Stichwort Youtube Hauls) und vielleicht willst du dich mit mir echauffieren ;-P

    Liebe Grüße,
    Vicky

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  3. @Stella

    Ja, ich glaube, der Effekt von Stress auf das Gewicht ist mittlerweile sogar ziemlich gut erforscht (Eins von mittlerweile unzähligen Beispielen: http://www.uh.edu/news-events/stories/2015/April/46HHPStressObesity.php).

    Dass diese Erkenntnisse bisher scheinbar so gut wie keinerlei weitreichendere öffentliche Wirkung entfalten, ist unbegreiflich und wirklich frustrierend.

    Liebe Grüße
    Nicola

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  4. @Vicky

    Awww...das ist aber wirklich ziiiemlich müllig. Und auf vielerlei Art zutiefst deprimierend. Von gruseligen Frauenbildern und dickem Selbsthass mal ganz abgesehen...ich war ja auf total selbstzentrierte Weise erst einmal erschrocken (und neidisch) über den Erfolg des grässlichen Geschreibsels. Diesen "Erfolg" hätten in der guten, alten Zeit Lektoren in Verlagshäusern verhindert, weil die halt so eine Art Grundqualitätssicherung betrieben haben. Sehr oft fand/finde ich das, was sie freigegeben haben auch ungenießbar, und bin andererseits natürlich eigentlich froh über die Entmachtung der Lektorate, weil die schließlich nicht nur Schrott blockiert haben, sondern regelmäßig auch unverkäufliche weil zu komplexe Kunst, Innovation und Originalität. Der Kindle-Spiegel zeigt uns nun noch schmerzhafter und genauer, wie wir wirklich sind. Und was ein Großteil des weiblichen Publikums offenbar wirklich will, wenn es die Wahl unter tausenden von Angeboten hat. Und, oh Göttin, das ist echt kein hübsches Bild...:0

    Liebe Grüße
    Nicola

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