Mittwoch, 22. November 2023

Memory Lane

Die Feldmark hinter Kuddewörde in Schleswig Holstein, 2022


Ich bin kein Zauberer, doch kenn einen Trick
Leih mir irgendwas, ich geb' dir einen Müllhaufen zurück
Ein'n Müllhaufen zurück, ein'n Müllhaufen zurück
Ich verwandele dein Lächeln in ein'n bestürzten Blick 

(Antilopen Gang: Hokus Pokus)

Irgendjemand hat mich für den Newsletter des 3Pagen Versands angemeldet. Ich hab keine Ahnung wer und warum, aber ich bekam die Aufforderung, meine Registrierung zu bestätigen - mit dem Hinweis:  "Sollten Sie diese Mail nicht angefordert haben, dann können Sie die E-Mail ignorieren." Ich aber habe die fremde Registrierung bestätigt, weil ich durch diese kleine Merkwürdigkeit in einem kuriosen Wägelchen auf die Straße der Erinnerung geschoben wurde. Der Katalog des 3Pagen Versands (1954 gegründet) mit seinen kitschigen Dekoartikeln und den betulichen, bunten Haushaltsartikeln war ein Teil meiner frühen Kindheit in den Siebzigern. Er lag regelmäßig frisch auf dem Wohnzimmertisch und ich hatte einen riesigen Spaß, all die wunderbaren, sinnlosen Dinge anzusehen., die damals wie heute vorgaben, absolut essentiell zu sein. 

Vor ein paar Jahren erinnerte ich mich durch puren Zufall daran und forderte aus schierer nostalgischer Neugier den Papierkatalog an, den das Unternehmen noch immer verschickt. Ich war überrascht, wie wenig sich scheinbar verändert hatte und war fasziniert von den kunstvoll und komplett unironisch gezwirbelt formulierten Texten, die die Produkte anpriesen. Von innen erleuchtete, winkende Pinguine, solarbetriebene Libellen, Teetassen mit Veilchen bedruckt...ich kam aus der Freude gar nicht mehr raus. An meinem Esstisch wurde dann für einige Zeit wieder eine Tradition daraus, jeden neuen Katalog genau zu studieren, und es war hervorragendes Entertainment, denn mein Ex-Freund las mir die Texte in angemessen grandios-theatralischer und begeisterter Rede vor. Ich habe regelmäßig geweint vor lachen. Es war großartig. Zum Dank an den Versand habe ich ein paar kleine Bestellungen aufgegeben. Aber nicht genug - irgendwann wurde die Zustellung des Katalogs wieder eingestellt. Und nun poppte plötzlich diese Mail auf.

Seit ich noch tiefer im Jammertal stecke, als vor dem Verlassenwerden ohnehin schon, fordern alle möglichen Leute, die in therapeutischen Berufsfeldern arbeiten, dass ich mich bitte darauf konzentriere, was im Leben alles gut war/ist. Frau wird pausenlos dazu ermahnt, sich auf das Positive zu konzentrieren und sich ins Bewusstsein zu rufen, dass niemals alles nur schlecht ist. Es ist unmöglich, dass alles nur schlecht ist - das soll ich bitte jetzt endlich begreifen! 

Nun, solange mein Gegenüber sich nicht dazu versteigt, mir einreden zu wollen, alles - auch jede persönliche Katastrophe - sei für etwas gut, bleibe ich zumeist noch halbwegs höflich. Wer insistiert, guckt allerdings leicht mal schnell betroffen aus der Wäsche, wenn ich fertig bin. 

Manchmal machen sie lenkende Vorschläge, um mir auf die Sprünge zu helfen. Das geht immer schief:

"Sie haben doch so eine schöne Wohnung." - "Ja, die ich mir vielleicht irgendwann nicht mehr leisten kann, und die Sorge lässt mich nachts nicht schlafen. Außerdem finde ich sie schon lange nicht mehr besonders schön. Aber es kauft sie mir auch keiner ab, wie es aussieht."

"Aber Sie haben doch zwei süße Katzen." - "Ja, die ich mir vielleichtt irgendwann nicht mehr leisten kann, und das erfüllt mich täglich mit Panik. Außerdem halten sie mich nachts wach und fallen mir immer öfter auf die Nerven. Dann fühle ich mich dafür schuldig, dass ich von ihnen genervt bin. Und dass ich nicht mehr mit ihnen spiele, weil mir die Energie fehlt."

"Sie waren in Ihrer Beziehung doch auch nicht komplett glücklich. Da ist es doch gut, dass Sie jetzt frei für etwas schönes Neues sind." - "Ich habe mich nicht getrennt, weil ich nicht den letzten Funken Hoffnung auf eine fröhlichere Zukunft aufgeben wollte. Und diese Hoffnung hing an der Beziehung und unseren Plänen. Ich wollte nicht zugeben, dass ich Jahre an ein augenscheinlich sinnloses Projekt verschwendet hatte, das mir trotzdem so sehr am Herzen lag. Ich wollte ein Zuhause und es war, verdammt nochmal, wirklich der schlechteste Moment für einen solchen Schlag, weil es mir eh schon so fürchterlich mies ging. Und Waren Sie in letzter Zeit mal auf einem Partnersuche-Portal? Schön ist es da wirklich nicht. Ach, und hatte ich schon erwähnt, dass der Ex neuerdings versucht, über gemeinsame Bekannte an Informationen über mich heranzukommen? Das ist ein ganz schön gruseliger Gipfel, das kann ich Ihnen sagen."

"Sie können doch stolz sein, dass Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn so vielen Menschen Unterstützung und Hilfe haben zukommen lassen." - "Wissen Sie, was ich eigentlich beruflich vorhatte? Einen Oscar für das beste Drehbuch zu gewinnen."

"Was könnten Sie sich denn heute noch Gutes tun, um es sich ein bisschen schön zu machen?" - "Ich will lieber nicht auch noch im Knast landen. Gehe ich wohl besser schlafen."

"Es wird wieder besser. Es dauert eben nur seine Zeit." - "Was soll das heißen, wieder besser? Ich erinnere mich wirklich nicht daran, dass es nachhaltig gut war. Ich erinnere mich hauptsächlich an 52 Jahre Kampf. Und jetzt bin ich langsam zu müde für all das."

Mir ist nicht klar, was die Tatsache, dass nicht alles im Leben schlecht war oder ist, damit zu tun hat, dass ich dieser Tage dieses Leben immer öfter nicht mehr will. Ich soll doch eigentlich auch immer im Jetzt leben. Oder wie war das bitte noch? Und wäre vorher tatsächlich so ziemlich alles wunderbar gewesen, würde es mir jetzt wirklich besser gehen, wenn ich mich an das erinnere, was ich mit einem Fingerschnippen verloren habe? 

Ich erzähle ja immer wieder gern von einem Zitat, das ich vor Jahrzehnten in einer Traumschiff-Episode aufgeschnappt habe: Es ist besser, etwas gehabt und verloren zu haben, als es nie besessen zu haben. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob ich das so unterschreiben würde. Mir scheint, der Preis für vieles, was sich gelegentlich oder kurz gut anfühlt, ist hinterher oft unverhältnismäßig hoch.

Im Grunde ist das Herumgereite auf dem Hervorheben des Positiven genauso hilfereich, wie der Hinweis, dass es anderen Menschen in ihren Lebensgeschichten noch viel schlechter geht/ging. Der Vergleich ist wirkungslos, egal ob mit dem eigenen oder anderen Leben. Denn das individuelle Leiden im Innern ist immer unvergleichlich. Und ja, das eigene Hemd lässt sich nicht ausziehen.

Einkaufen hilft. Vielleicht bestelle ich irgendetwas Leuchtendes bei 3Pagen.

NH

10 Kommentare:

  1. "Es ist besser, etwas gehabt und verloren zu haben, als es nie besessen zu haben. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob ich das so unterschreiben würde. Mir scheint, der Preis für vieles, was sich gelegentlich oder kurz gut anfühlt, ist hinterher oft unverhältnismäßig hoch."

    Diesem Satz kann ich leider nur zustimmen.
    Fühl dich gedrückt.

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  2. Wenigstens hat mich Dein Post über die 3 Pagen-Episode zum Lachen gebracht. Denn mit vielen Katalogen ging es mir damals auch so ;-) Und ja, auch wenn ich Deinen Ex nicht kenne - und auch nicht einschätzen mag, so kann ich mir gut vorstellen, wie Du in dem Moment über die vorgetragenen Texte gelacht hast. Das würde mir in so einem Moment sicherlich auch so gehen ...

    Und ich kann Dich wirklich gut vestehen, dass im tiefen Tal der Tränen/Trauer eigentlich so gar nix richtig helfen/motivieren kann die Welt mit anderen Augen zu sehen.
    Allerdings würde mir in so einem Moment ein richtiger Kaufrausch auch nix mehr nützen. Er wäre viel zu schnell nur unnötiger Ballast - wenn die Umstände sich nicht geändert haben.
    Trotzdem hoffe ich, dass Dir der bunte Kugelkranz noch immer etwas Freude bereitet. Und die besorgten Weihnachtskarten doch auch noch wie geplant an die verschiedenen Personen gehen.
    Ich kämpfe da nämlich gerade wieder mit mir, da über mir immer mehr Termine zusammenkrachen - und ich es jetzt dann eher nur als Pflicht empfinde, da ich es doch schon vom letzten Jahr auf diese Vorweihnachtszeit verschoben habe :-(

    Wenn ich da so an die vergangen Sommerlöcher bei mir denke, hätte ich all' diese aufmunternden und motivierenden Sprüche auch nur entnervt hingenommen und mich noch tiefer verkrümelt. Mir scheint, frau muß da zeitweilig anders durch, und ein Coaching hilft da dann nur begrenzt. Und wenn kann man sich nach all' den Jahren das sicherlich auch schon selbst gut runterbeten ;-)

    Ich wünsche Dir so sehr, dass von irgendwo ein Lichtlein kommt, dass Dich irgendwie etwas motivieren kann, so dass Du neue Ziele findest, die für Dich passen ...
    Nachdenkliche Grüße schickt Silke, die hofft, dass Dich Deine beiden Katzenmädels nicht zu sehr stressen, so dass Ihr Euch das Leben zusammen netter macht ...

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    1. Ich habe in letzter Zeit öfter mal etwas gekauft, was ich schon lange wollte. Hinzukommt, dass mir plötzlich Kleider passen, die ich vorher in meiner Größe nicht bekam. Ich habe ja vor Kummer ungewollt abgenommen, aber jetzt mache ich wenigstens von diesem Ergebnis Gebrauch. Was das Aussortieren angeht, bin ich im Augenblick nicht damit befasst. Der Ausblick auf einen Umzug ist wieder im Nebel zeitlicher Ungewissheit verschwunden, weil meine Wohnung zu diesem Zeitpunkt gerade offenbar unverkäuflich ist. Das wäre sonst ein Ansporn für Ordnung und Aussortieren gewesen. Im Augenblick wünschte ich wirklich, ich hätte einen Katzenflügel, den ich nachts mit gutem Gewissen abtrennen kann. Außerdem habe ich seit hundert Jahren vor, Harnesstraining mit ihnen zu beginnen, aber ich schaffe es einfach nicht. Mal sehen, wie es weitergeht.
      Liebe Grüße
      Nicola

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  3. Welcome_to_Shoebox_Castle23. November 2023 um 05:59

    Ufffffff, ich hasse diese toxic positivity. Wenn's mir zu viel wird, gucke ich mir das illustrierte Video an, das die RSA von einer Rede von Barbara Ehrenreich gemacht hat: https://youtu.be/u5um8QWWRvo?si=t90rgTJc7-6i__G8 dann kann ich das wieder besser einordnen für mich. Fühl dich gedrückt!

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    1. Danke für das Video! :) Ich bin ein großer Fan von Frau Ehrenreich. Und ich drücke dich zurück. Liebe Grüße
      Nicola

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  4. ooooh.... 3Pagen! Cool! Bin grad als erstes über die Rouladenringe gestolpert (WTF). Allerdings leider ohne Prosa, aber die Bilder werfen so viele Fragen auf: Wer beschliesst, sowas zu produzieren? Wer macht den Prototypen, wer programmiert die Maschine, wer rechnet den Preis dafür aus, wer stellt das letztlich in ausreichender Anzahl her, wer vermarktet das und wer bei 3Pagen nimmt es ins Angebot auf? Und wer macht ein Foto davon mit Fleisch, Gürkchen und Tomaten?? Krass. Obwohl zum Glück nicht positiv (Müll herzustellen ist Umweltverschmutzung), so doch ... interessant. Bei uns in der Schweiz war das Pendant der Vedia-Katalog, gibt's auch immer noch online. Ich habe ihn geliebt und mein Spiel war, von jeder Seite etwas auszuwählen, das ich am ehesten kaufen würde. Jedesmal war auch das Bild einer Dame drin, die sich einen Vibrator "für Hautmassage" an die Wange hielt. Ich dachte als Kind, das helfe gegen Falten im Gesicht.
    Der Versuch, Positives zu finden in einer objektiv beschissenen Situation ist wohl irgendwo auch einer gewissen Hilflosigkeit geschuldet. Oder es ist ein übler Automatismus. Spätestens wenn man merkt, dass das bei dir nicht ankommt, sollte man es sich verklemmen.

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    1. "Ich habe ihn geliebt und mein Spiel war, von jeder Seite etwas auszuwählen, das ich am ehesten kaufen würde." - Das Spiel habe ich immer mit dem Vedes Spielzeugkatalog gespielt! :) Da habe ich dann auch die relevanten Bilder für die Wunschlisten zum Geburtstag und zu Weihnachten ausgeschnitten. Ja, es stellen sich viele Fragen im Hinblick auf die Dinge, die uns und andere umgeben. Und das "Brauchen" ist eine total geheimnisvolle Sache.
      Von therapeutischem Personal würde ich eigentlich nicht erwarten, dass die aus Hilflosigkeit auf den Fokus auf das "Gute" (das kann ja auch stark variieren zwischen Menschen) beharren. Ich glaube, die meinen das noch immer ernst und "glauben" daran.
      Liebe Grüße
      Nicola

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  5. Ha! Jetzt musste ich auch schmunzeln, zum einen finde ich dass die Trashtexte theatralisch (bedeutenswert) vorzulesen, so ähnlich ist wie diese Coach-sprüche: beide wollen mit etwas Konfetti den Haufen Scheiße verbergen. Zum anderen fühlte ich mich tatsächlich immer etwas komisch (schuldig?) dass mir das Zeug nicht gefällt bzw. ich nicht brauche (da ich keine Tischdecken benutze, brauch ich auch keine Eckenbeschwerer in Form einer Orange), andere Leute aber anscheinend schon, sonst gäbe es ja nicht seit Ewigkeiten diesen Shop, ergo: ich bin mal wieder falsch.
    Egal ob mit Kitsch oder ohne: Ein schönes Wochenende Dir (nun doch ein wenig Glitzer verteil) ;)
    Liebe Grüße von der LaLuna introvertiertblog.wordpress.com

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    1. Oh, die Tischdeckenhalter in Obstform - zu schön! :) Nicht dass ich dafür Bedarf hätte. Aber unter den Gegenständen sind sie wirklich die Komödiant*innen.
      Danke, dir auch ein gutes WE. Ich habe jetzt auch da Therapie. Mal sehen, wie positiv das wird.
      Liebe Grüße
      Nicola

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